KAPITEL EINS-1
KAPITEL EINS
Ceres’ Schritte hallten in den dunklen Gassen von Delos wider. Aufregung pochte in ihren Adern und sie wusste, dass sie nicht zu spät kommen durfte. Die Sonne ging gerade erst in der Stadt auf und doch wog ihre schwülstaubige Luft bereits schwer. Sie achtete nicht auf ihre Beine die schmerzten und ihre Lunge die brannte, sie rannte immer schneller und sprang dabei über eine der zahllosen Mäuse, die aus der Kanalisation auf die Straßen geflohen war. Sie konnte bereits das Grollen in der Ferne hören und ihr Herz schlug voller Vorfreude höher.
Sie ließ ihre Hände die Steinmauern entlangfahren und drehte sich kurz um bevor sie in eine der engen Straßen einbog immer darauf bedacht, dass ihre Brüder nicht den Anschluss verloren. Sie war froh, Nesos an ihren Fersen und Sartes nur wenige Schritte dahinter zu erblicken. Mit neunzehn Jahren war Nesos nur zwei Sonnenzyklen älter als sie, Sartes ihr jüngster Bruder war hingegen vier Sonnenzyklen jünger und gerade dabei vollständig zum Mann zu reifen. Beide hatten sie langes dunkelblondes Haar und braune Augen. Sie sahen sich zum verwechseln ähnlich und waren im Gegensatz zu Ceres ihren Eltern wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch wenn sie ein Mädchen war, war es ihnen nie gelungen mit ihr Schritt zu halten.
„So beeilt euch doch!“ schrie Ceres über ihre Schulter hinweg.
Erneut drang das Grollen an ihr Ohr und auch wenn sie noch nie bei dem Festival gewesen war, so hatte sie es sich doch viele Mal in ihrer Fantasie ausgemalt: die gesamte Stadt, Delos’ drei Millionen Bürger, drängte ins Stadion zum Feiertag der Sonnenwende. Es würde mit nichts was sie je zuvor gesehen hatte zu vergleichen sein und wenn ihre Brüder und sie sich nicht beeilten, würde es keinen Sitzplatz mehr geben.
Ceres legte noch weiter an Geschwindigkeit zu und wischte einen Schweißtropfen von ihrer Augenbraue. Sie trocknete ihre Hand an der ausgefranste elfenbeinfarbenen Tunika, die ihre Mutter ihr überlassen hatte. Sie hatte noch nie neue Kleidung bekommen. Ihre Mutter, die ganz in ihre Brüder vernarrt war und einen eigentümlich neidbesetzten Hass gegen sie pflegte, war der Ansicht, dass sie es nicht verdiente.
„Warte!“ schrie Sartes, Verärgerung schwang in seiner brüchigen Stimme.
Ceres grinste.
„Soll ich dich vielleicht tragen?“ schrie sie zurück.
Er ließ sich nicht gerne von ihr ärgern, dennoch würde ihre Bemerkung ihn motivieren schneller zu laufen. Ceres machte es eigentlich nichts aus vorneweg zu laufen. Sie fand es liebenswert wie er mit seinen dreizehn Jahren alles dafür gab zu ihnen zu gehören und auch wenn sie es nicht offen zugegeben hätte, so brauchte sie das Gefühl von ihm gebraucht zu werden genauso sehr.
Sartes stöhnte laut auf.
„Mutter wird dich umbringen, wenn sie herausfindet, dass du wieder nicht ihren Anweisungen gefolgt bist!“ schrie er zurück.
Er hatte natürlich Recht. Sie würde ihr mindestens eine ordentliche Tracht Prügel verpassen.
Es war der Moment in dem ihre Mutter sie im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal geschlagen hatte der Ceres ihre Unschuld geraubt hatte. Vor diesem Moment war Ceres ein lustiges, liebes und gutes Kind gewesen. Danach war ihr kein Ort jemals mehr sicher erschienen und sie erwartete seitdem ungeduldig und hoffnungsvoll den Tag, an dem sie ihr würde entkommen können. Heute war sie älter und verschlossener und auch ihr großer Traum verwelkte langsam in ihrem Herzen.
Ceres wusste, dass ihre Brüder sie niemals verraten würden. Sie vertraute ihnen in dem gleichen Maße, wie sie ihr vertrauten.
„Dann ist es doch gut, dass Mutter es niemals erfahren wird!“ schrie sie zurück.
„Vater wird es jedoch herausfinden!“ konterte Sartes.
Sie kicherte. Vater wusste es bereits. Sie hatten mit ihm eine Verabredung getroffen: wenn sie aufbleiben würde, um die Schwerte für den Palast fertig zu schleifen, dann würde sie die Tötungen sehen dürfen. Genau das hatte sie getan.
Ceres hatte die Mauer am Ende der Gasse erreicht. Sie grub ohne auch nur Luft zu holen ihre Finger in zwei Steinspalten und begann die Mauer hinaufzuklettern. Ihre Hände und Füße bewegten sich rasch nach oben, nach gut sechs Metern hatte sie das obere Ende erreicht.
Dort stand sie schwer atmend, helle Sonnenstrahlen liebkosten sie. Eine Hand spendete ihren Augen etwas Schatten.
Sie keuchte. Normalerweise erblickte man nur wenige Bürger der alten Stadt von hier, vielleicht noch eine herumstreunende Katze oder einen Hund. Heute jedoch herrschte ein lebhaftes Treiben. Schwärme von Menschen strömten herbei. Ceres konnte nicht einmal mehr das Kopfsteinpflaster unter dem Meer von Menschen die auf den Quellplatz strömten ausmachen.
In der Ferne schimmerte das Blau des Ozeans, es kontrastierte mit dem Weiß des eindrucksvollen Stadions, das wie ein Berg über den sich windenden Straßen und engen zwei- und dreistöckigen Häusern thronte. An den Seiten des Platzes hatten Händler kleine Stände aufgebaut, jeder war begierig darauf Essen, Schmuck oder Kleidung zu verkaufen.
Eine Windbrise fuhr ihr über das Gesicht und der Geruch von frisch Gebackenem stieg ihr in die Nase. Sie hätte viel dafür gegeben ihren bohrenden Hunger zu stillen. Sie schlang die Arme um ihren Körper, als nagender Hunger sie überkam. Das Frühstück heute Morgen hatte nur aus einigen Löffeln matschigen Breis bestanden, der sie hungriger zurückgelassen hatte, als wenn sie ihn nicht gegessen hätte. Angesichts der Tatsache, dass heute ihr achtzehnter Geburtstag war, war sie zuversichtlich gewesen wenigstens einen kleinen extra Leckerbissen in ihrer Schüssel zu finden – oder eine Umarmung oder irgendetwas.
Aber niemand hatte ihren Geburtstag auch nur erwähnt. Sie bezweifelte, dass sie sich überhaupt an das genaue Datum erinnerten.
Das Licht blendete sie und Ceres blickte nach unten und erspähte einen goldenen Wagen, der sich langsam und schimmernd seinen Weg durch die Menge bahnte als würde er in einem Topf Honig stecken. Sie runzelte die Stirn. In ihrer Aufregung hatte sie ganz vergessen, dass auch das Königshaus bei der Veranstaltung anwesend sein würde. Sie verachtete sie, ihre Hochmütigkeit und dass ihre Tiere mehr zu fressen bekamen als die meisten Menschen von Delos. Ihre Brüder waren zuversichtlich, dass sie sich eines Tages über das Klassensystem hinwegsetzen würden. Aber Ceres konnte ihren Optimismus nicht teilen. Wenn jemals der Gedanke der Gleichheit Einzug halten sollte, dann durch eine Revolution.
„Siehst du ihn?“ Nesos keuchte als er sich neben ihr heraufquälte.
Ceres’ Herz begann beim Gedanken an ihn schneller zu schlagen. Rexus. Auch sie hatte sich bereits gefragt, ob er schon hier sein würde, doch ihre Blicke hatten erfolglos die Menge durchkämmt.
Sie schüttelte den Kopf.
„Dort.“ Nesos deutete mit dem Finger auf etwas.
Sie blinzelte seiner Hand folgend in Richtung Quelle.
Plötzliche erblickte sie ihn und es fiel ihr schwer ihrer Freude nicht zu viel Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte sich wie immer, wenn sie ihn sah. Dort saß er, auf dem Rande des Brunnens und spannte seinen Bogen. Auch wenn er weit entfernt war, konnte sie das Spiel seiner Schulter- und Brustmuskeln unter seiner Tunika sehen. Er war nur wenige Jahre älter als sie, hatte blondes Haar, das unter den vielen schwarzen und braunen Häuptern herausstach und gebräunte Haut, die in der Sonne schimmerte.
„Warte!“ rief eine Stimme.
Ceres blickte die Mauer hinab und sah wie Sartes sich beschwerlich seinen Weg nach oben bahnte.
„Beeil dich oder wir ziehen ohne dich weiter!“ spornte Nesos ihn an.
Natürlich würden sie nicht im Traum ihren jüngeren Bruder zurücklassen auch wenn er langsam lernen musste mithalten zu können. In Delos konnte ein Moment der Schwäche tödlich enden.
Nesos fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. Immer noch nach Atem ringend beobachtete er die Menge.
„Auf wen hast du dein Geld gesetzt?“ fragte er.
Ceres drehte sich zu ihm um und lachte.
„Welches Geld?“ fragte sie.
Er grinste.
„Angenommen du hättest welches“, antwortete er.
„Brennius“, erwiderte sie ohne zu zögern.
Seine Brauen eilten überrascht nach oben.
„Wirklich?“ fragte er. „Warum?“
„Ich weiß nicht.“ Sie zuckte die Schultern. „Nur so eine Ahnung.“
Aber eigentlich wusste sie warum. Sie wusste es sogar sehr gut, besser als ihre Brüder, besser als alle Jungen ihrer Stadt. Ceres hatte ein Geheimnis, dass sie noch niemandem verraten hatte. Sie hatte sich gelegentlich als Junge verkleidet und im Palast trainiert. Durch einen königlichen Erlass war es Mädchen unter Androhung der Todesstrafe strengstens untersagt die Kunst der Kampfherren zu erlernen. Männlichen Bürgerlichen stand es hingegen offen diese Kunst zu studieren, wenn sie die gleiche Zahl an Arbeitsstunden in den königlichen Ställen ableisteten. Eine Arbeit, die Ceres freudig in Kauf nahm.
Sie hatte Brennius beobachtet und war von seiner Art zu kämpfen beeindruckt gewesen. Er war mitnichten der größte der Kampfherren, doch seine Bewegungen waren präzise.
„Nie und nimmer“, erwiderte Nesos. „Stefanus wird siegen.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Stefanus wird die ersten zehn Minuten nicht überleben“, sagte sie kurz.
Stefanus brachte alle offensichtlichen Merkmale mit. Er war der größte der Kampfherren und wahrscheinlich auch der stärkste. Dennoch war sein Kämpfen weniger überlegt als das Brennius’ oder einiger anderer der Krieger, die sie beobachtet hatte.
Nesos lachte auf.
„Ich wette mein bestes Schwert darauf.“
Sie blickte auf das Schwert, das an seiner Hüfte befestigt war. Er hatte keine Ahnung wie neidisch sie gewesen war, als er dieses Prachtstück einer Waffe als Geburtstagsgeschenk von Mutter vor drei Jahren geschenkt bekommen hatte. Das Schwert, das Ceres trug, hatte sie aus dem Müll gefischt nachdem ihr Vater er ausrangiert hatte. Sie dachte an all die Dinge, die sie mit einer Waffe wie der Nesos’ machen könnte.
„Ich werde darauf bestehen, nur dass du es weißt“, sagte Ceres und grinste – auch wenn sie ihm in Wirklichkeit niemals sein Schwert abgenommen hätte.
„Ich erwarte nichts geringeres“, feixte er zurück.
Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und ein dunkler Gedanke machte sich in ihrem Kopf breit.
„Mutter würde das niemals gestatten“, sagte sie.
„Aber Vater würde es“, sagte er. „Er ist sehr stolz auf dich, das weißt du.“
Nesos’ gut gemeinter Kommentar überrumpelte sie und da sie nicht recht wusste, ob sie dem zustimmen sollte, senkte sie ihren Blick. Sie liebte ihren Vater sehr und er liebte sie, das wusste sie. Doch aus irgendeinem Grund stand ihre Mutter für ihn an erster Stelle. Es war ihr sehnlichster Wunsch gewesen, dass ihre Mutter sie akzeptieren und so sehr lieben würde wie sie ihre Brüder liebte. Aber so sehr sie es auch versuchte, in den Augen ihrer Mutter würde es nie genug sein.
Sartes schnaubte als er den letzten Satz auf die Mauer hinter ihnen machte. Er war noch immer ungefähr einen Kopf kleiner als Ceres und dürr wie ein Ästchen. Doch sie war davon überzeugt, dass er schon bald wie ein Bambusspross in die Höhe schießen würde. So war es bei Nesos gewesen. Der war heute ein muskelbepackter Fels, der fast zwei Meter groß war.
„Und du?“ Ceres drehte sich zu Sartes. „Wer glaubst du wird gewinnen?“
„Ich bin auf deiner Seite. Brennius.“
Sie grinste und wuschelte ihm durch sein Haar. Er wiederholte immer was sie sagte.
Erneut war ein Grollen zu hören, die Menge verdichtete sich noch mehr und Unruhe machte sich in Ceres breit.
„Lasst uns gehen“, sagte sie, „wir sollten keine Zeit verschwenden.“
Ohne zu warten kletterte Ceres die Mauer hinab und rannte los sobald sie auf dem Boden stand. Den Brunnen im Visier und darauf bedacht Rexus dort noch zu erwischen sauste sie über den Platz.
Er drehte sich um und seine Augen leuchteten als er sie kommen sah. Sie stürzte auf ihn zu und fühlte wie seine Arme sich um ihre Hüfte schlangen und eine schmutzige Wange sich gegen die ihre drückte.
„Ciri“, sagte er in seiner tiefen und rauen Stimme.
Ein Schauer fuhr ihr den Nacken herab als sie sich aus seinen Armen wand und in Rexus‘ kobaltblaue Augen blickte. Mit einem Meter fünfundachtzig war er fast einen Kopf größer als sie. Sein borstiges blondes Haar umrahmte sein herzförmiges Gesicht. Er roch nach Seife und wilder Natur. Himmel, war es schön ihn wiederzusehen. Auch wenn sie sich in fast jeder Situation zu wehren wusste, so verlieh seine Gegenwart ihr doch eine gewisse Ruhe.
Ceres stellte sich auf ihre Fußspitzen und schlang begierig ihre Arme um seinen kräftigen Hals. Sie hatte in ihm nie mehr als nur einen Freund gesehen bis er angefangen hatte von der Revolution und der Untergrundarmee, deren Mitglied er war, zu sprechen. „Wir werden kämpfen und uns von dem Joch der Unterdrückung befreien“, hatte er ihr vor Jahren einmal gesagt. Er hatte mit solcher Inbrunst von der Rebellion gesprochen, dass sie für einen Moment an den Sturz des Königshauses geglaubt hatte.
„Wie war die Jagt?“ fragte sie mit einem Lächeln, denn sie wusste, dass er mehrere Tage unterwegs gewesen war.