KAPITEL EINS-4

1781 Words
„Ich könnte einen Drink gebrauchen“, sagte sie. „Könnte ich auch“, antwortete Roy. „Ist die Bar bestückt?“ Daniel ging voraus. „Ist sie, also kommt schon. Es ist so fantastisch da drin. Ich werde uns Drinks machen.“ Emily zögerte. „Papa, ist das eine gute Idee?“, fragte sie. „Warum sollte es das nicht sein?“, antwortete Roy verwirrt. Emily senkte die Stimme. „Wegen deines Alkoholproblems.“ Roy sah erstaunt aus. „Was für ein Alkoholproblem?“ Dann wurde sein Gesicht bleich. „Hat Patricia dir gesagt, dass ich Alkoholiker bin?“ „Du warst ein Alkoholiker“, erwiderte Emily. „Ich erinnere mich, dass du getrunken hast. Ständig.“ „Ich habe viel getrunken“, gab Roy zu. „Wir beide, deine Mutter und ich. Das ist einer der Gründe, warum unsere Beziehung so unberechenbar war. Aber ich war kein Alkoholiker.“ „Was ist mit den Eierlikören zum Frühstück an Weihnachten?“ fragte sie, sich daran erinnernd, wie gereizt ihr Vater gewesen war, als sie sein Getränk umgestoßen hatte. „Es war einfach nur Weihnachten!“, rief Roy aus. Ein weiteres Stück von Emilys Vergangenheit richtete sich neu aus. Sie war auf Patricias bittere, verzerrte Version der Ereignisse hereingefallen, hatte ihnen erlaubt, ihre eigenen Erinnerungen an ihren Vater zu ersetzen. Sie spürte eine Welle der Wut auf ihre Mutter in sich aufsteigen, weil sie Roy zum Bösewicht ihrer traumatischsten Erfahrung gemacht hatte. Sie gingen in die Flüsterkneipe und setzten sich an die Bar. Daniel fing an, die Cocktails zuzubereiten. „Wir haben abends einen Barkeeper, um das zu machen“, erklärte er Roy. „Alec. Er ist fantastisch. Besser als ich jedenfalls.“ Er schenkte ihnen eine Margarita ein. Roy nahm einen Schluck. „Das schmeckt fantastisch“, sagte er. Dann, ein wenig schüchtern, fügte er hinzu: „Ich muss schon sagen, aus dir ist ein feiner junger Gentleman geworden.“ Emily spürte, wie ihr Herz hüpfte. Sie lächelte, war stolz darauf und fühlte sich, als wäre alles so wie es sein sollte. „Dafür habe ich dir zu danken“, antwortete Daniel schüchtern und sah Roy nicht wirklich in die Augen. „Dafür, mich an die Sachen herangeführt zu haben, die mir wichtig waren. Angeln. Segeln.“ „Segelst du noch?“, fragte Roy. „Ich habe ein Boot im Hafen. Dank Emily ist es restauriert. Wir nehmen es für Ausflüge mit der Familie. Chantelle liebt es auch. Sie ist großartig im Angeln.“ „Ich segle auch noch viel“, sagte Roy. „Wenn ich nicht an einer Uhr arbeite, verbringe ich meine Zeit auf dem Boot. Oder im Garten.“ „Erinnerst du dich an diesen Tag, an dem du mir beigebracht hast, wie man Gemüse anbaut?“, fragte Daniel. „Natürlich“, antwortete Roy. Er lächelte und schwelgte in Erinnerungen. „Ich habe noch nie gesehen, dass ein so schmuddeliger Punk von einem Kind so hart mit einer Schaufel arbeitet.“ Daniel lachte. „Ich war wissbegierig“, sagte er. „Und wollte die Gelegenheit zu nutzen. Auch wenn es äußerlich so aussah, als hasste ich die Welt.“ Emily fand es seltsam, sie Witzeln und Lachen zu sehen. Zwischen ihnen gab es wesentlich weniger Verletzungen. Es war mehr wie eine Kameradschaft. Daniel war diesem Mann, der ihm eine Chance gegeben hatte als er sie brauchte, für immer dankbar. Auch, wenn genau dieser Mann ebenfalls aus seinem Leben verschwunden war. Vielleicht war es nur die Überraschung für Emily, zu erkennen, wie nahe sie sich einmal gewesen waren. Denn sie wusste auch, dass der Sommer, den sie zusammen verbracht hatten, ein Sommer gewesen war, den sie und ihr Vater getrennt voneinander verbracht hatten. Ihr Handy summte und sie sah einen Text von Amy über ihre geplante Ankunft am Nachmittag. Amy und Jayne hatten dringende Geschäftssachen zu erledigen und machten deshalb einen Zwischenstopp, wodurch sie später als geplant ankommen würden. Emily realisierte schuldbewusst, dass sie völlig vergessen hatte, dass sie unterwegs waren. Sie war so mit ihrem Vater beschäftigt gewesen, dass ihr alles andere entfallen war. Sie schrieb schnell zurück und wandte sich dann wieder ihrem Vater und Daniel zu. Sie lachten wieder fröhlich. „Ich bin so froh, dass das Boot gehalten hat“, rief Daniel aus. „Wer hätte gedacht, dass sich das Wetter so verändern würde? Ein Sturm mitten im Sommer.“ „Es war ein unglücklicher Zeitpunkt“, antwortete Roy. „Wenn man bedenkt, dass es deine erste Bootsfahrt war.“ „Nun, ich hatte den besten Lehrer, also hatte ich keine schlimme Angst.“ Er lächelte, seine Augen weit in Erinnerung. „Danke, dass du mich mit Booten, Wasser und Segeln bekannt gemacht hast. Ich kann mir mein Leben ohne das alles nicht mehr vorstellen.“ Emily beobachtete, wie Roy Daniel anlächelte. Jetzt, da ihr Zorn verflogen war, fühlte sie ein überwältigendes Gefühl von Frieden, von Aufrichtigkeit. So hätte es immer gewesen sein sollen. Ihr Vater hängt mit ihrem Verlobten zusammen, jeder genießt die Gesellschaft des anderen und freut sich darauf, bald Teil derselben Familie zu werden. Es mag ein bisschen spät gekommen sein, aber sie würde alles tun, was sie könnte, um es zu genießen. * Im Laufe des Abends machte Daniel noch eine Ladung Cocktails. Er stellte ein Glas vor Emily ab, gerade als ihr Telefon bei einem eingehenden Anruf summte. „Es ist Amy“, erklärte sie. „Ich geh besser ran.“ „Amy? Die von der High-School?“, fragte Roy und hob eine Augenbraue. Emily nickte. „Wir sind immer noch Freunde“, informierte sie ihn. „Sie ist eine meiner Brautjungfer. Sie hilft eine Menge bei den vielen Hochzeitsvorbereitungen.“ Emily eilte aus der Flüsterkneipe und nahm den Anruf entgegen. „Em, es tut uns so leid“, begann Amy. „Der Anruf hat ewig gedauert und jetzt sind wir beide zu erschöpft, um Auto zu fahren. Wir müssen über Nacht hierbleiben. Bitte hass uns nicht.“ „Das werde ich nicht“, versicherte Emily ihr, insgeheim erleichtert, dass ihre Freundinnen die Wiedervereinigung mit ihrem Vater nicht unterbrechen würden. „Wir werden Morgen ganz früh losfahren“, fügte Amy hinzu. „Ehrlich, Amy, es ist in Ordnung“, sagte Emily. „Hier ist sowieso gerade ziemlich viel los.“ „Was ist los? Etwas wegen der Hochzeit? Daniel? Sheila?“ Sie klang besorgt. „Das ist es nicht“, erklärte Emily. Dann atmete sie tief durch. „Amy, mein Vater ist hier.“ Es folgte eine lange Stille. „Was? Wie? Bist du okay?“ Emily wusste nicht, wie sie das beantworten sollte, und sie wollte jetzt wirklich nicht allzu sehr darauf eingehen. Sie hatte es noch nicht ganz verarbeitet. Sie brauchte Zeit, um ihre Gefühle zu entwirren und alles zu verstehen. „Mir geht's gut. Lasst uns darüber reden, wenn ihr hier seid.“ Amy klang nicht sehr überzeugt. „Okay. Aber wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden möchtest, rufst du mich sofort an. Wir sehen uns morgen.“ Emily beendete den Anruf und ging zurück zur Flüsterkneipe, zu dem fröhlichen Gelächter von Roy und Daniel. Alte Busenfreunde wieder vereint. „Okay“, sagte Roy und leerte den letzten Schluck aus seinem Glas. „Ich denke, es ist wahrscheinlich an der Zeit, dass ich mich verabschiede. Sieht so aus, als hättest du Gäste zu versorgen.“ Emily geriet bei dem Gedanken, dass Roy gehen würde, in Panik. „Ich habe Mitarbeiter, die sich um alles kümmern. Es ist in Ordnung für uns, Zeit miteinander zu verbringen. Du musst nicht gehen.“ Roy bemerkte ihren von Panik ergriffene Ausdruck. „Ich meinte nur, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Schlafen?“ „Du meinst du bleibst?“, sagte Emily überrascht. „Hier?“ „Wenn du Platz hast?“, sagte Roy kleinlaut. „Ich wollte nicht anmaßend sein.“ „Natürlich kannst du bleiben!“, rief Emily aus. „Wie lange planst du hier zu sein?“ „Bis zur Hochzeit, wenn das kein Problem ist. Ich könnte, wenn nötig, ein bisschen mit den Vorbereitungen helfen.“ Emily war verblüfft. Nicht nur war ihr Vater hier, sondern er hatte vor, über eine Woche hier zu bleiben! Es war wirklich ein Traum, der wahr wurde. „Das wäre wundervoll“, sagte sie. Sie gingen nach oben und gaben Roy das Zimmer neben seinem Arbeitszimmer. Emily wusste, dass er irgendwann dort hinein gehen würde, wahrscheinlich alleine. „Ist dieses Zimmer in Ordnung für dich?“, fragte sie. „Oh, ja. Es ist sehr schön“, antwortete Roy. „Und direkt neben meiner geheimen Treppe.“ Emily runzelte die Stirn. „Deine was?“ „Sag mir nicht, dass du sie nie gefunden hast“, sagte Roy. In seinem Auge blitzte ein Funken Unheil auf, eines, das den Streifen Wahnsinn offenbarte, dem er einmal verfallen gewesen war. Die Abwärtsspirale, die seine verspielte Natur für Schatzkarten in Geheimhaltung und verschlossenen Gewölbe mit versteckten Kombinationen verwandelt hatte. „Meinst du die Treppe zum Dachausguck?“, fragte Emily. „Die habe ich gefunden. Aber sie ist im dritten Stock.“ Roy klatschte laut, als wäre er plötzlich entzückt. „Du hast sie also nie gefunden! Die Personaltreppe.“ Emily schüttelte den Kopf. „Aber ich habe die Pläne des ganzen Hauses gesehen. Deine Flüsterkneipe war der letzte versteckte Ort hier.“ „Wenn es auf einem Plan drauf ist, ist es ja nicht verborgen!“, rief Roy aus. „Zeig sie uns“, sagte Daniel. Er schien aufgeregt zu sein, genauso wie er es gewesen war, als die Bar entdeckt worden war. Roy führte sie in sein Arbeitszimmer. „Hast du dich nicht gewundert, warum es einen Schornstein an dieser Wand gibt?“ Er klopfte daran und es klang hohl. „Alle anderen Schornsteine sind an Außenwänden. Dieser hier ist innen liegend.“ „Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen“, sagte Emily. „Nun, es ist hier dahinter“, sagte Roy. „Würde es dir etwas ausmachen, mir behilflich zu sein, Daniel?“ Daniel war bereitwillig. Sie entfernten, wie Emily jetzt sah, eine falsche Wand, die so tapeziert war wie der Rest des Zimmers. Und da war sie. Eine Treppe. Klar, nicht besonders schön anzusehen, aber es war ihre bloße Existenz, die sie erregte. „Ich kann es nicht glauben“, sagte Emily und trat ein. „Hast du deshalb dieses Zimmer als dein Arbeitszimmer gewählt?“ „Natürlich“, antwortete Roy. „Die Treppe war eine Abkürzung für die Diener, um zu den Schlafräumen zu gelangen, ohne von den Leuten im Haus gesehen zu werden. Es geht einfach von hier in den Keller, wo die Diener damals geschlafen haben.“ „Und das ist der einzige Weg dahin“, sagte Emily und erkannte jetzt, warum sie die Treppe nicht gefunden hatte. Im Keller befanden sich noch Räume, die für sie noch unentdeckt waren, und das Arbeitszimmer ihres Vaters war das Zimmer, das sie unverändert gelassen hatte. Roy nickte. „Überraschung!“ Emily lachte und schüttelte den Kopf. „So viele Geheimnisse.“ Sie gingen aus dem Arbeitszimmer und Roy ging in sein Schlafzimmer. Emily ging, um die Tür hinter sich zu schließen, aber er streckte die Hand nach ihr aus und gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss. Emily blieb wie betäubt stehen. Ihr Vater hatte sie seit so viele Jahren nicht mehr geküsst, nicht einmal bevor er aus ihrem Leben gegangen war. „Gute Nacht, Papa“, sagte sie hastig. Sie schloss die Tür und eilte in ihr Zimmer. Sobald sie sicher drinnen waren, nahm Daniel sie sofort fest in die Arme. Das war auch dringend nötig. „Wie fühlst du dich?“, fragte er leise und schaukelte sie sanft in seinen Armen. „Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist“, stammelte sie. „Ich denke immer noch, das ist ein Traum.“ „Worüber habt ihr geredet?“ „Über alles. Ich meine, ich weiß, dass ich immer noch alles verarbeite, aber es war befreiend. Ich habe das Gefühl, wir können jetzt all den Schmerz hinter uns lassen und von vorne beginnen.“ „Also sind das Freudentränen, die meine Schulter nass machen?“, scherzte Daniel. Emily wich zurück und lachte über den dunklen Fleck auf Daniels Shirt. „Ups, Entschuldigung“, sagte sie. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie geweint hatte. Daniel küsste sie sanft. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich verstehe, dass das hart wird. Wenn du weinen oder lachen oder schreien musst, bin ich hier. Okay?“ Emily nickte, so dankbar, einen so wunderbaren Menschen in ihrem Leben zu haben. Und jetzt, da ihr Vater hier war, hatte sie das Gefühl, dass sich wirklich alles zusammenfügte. Endlich, nach so vielen Jahren, in denen sie ein unerfülltes Leben führte, hatte sie das Gefühl, dass sie nun endlich das verdiente Leben führen konnte. Ihre Hochzeit war nur noch eine Woche entfernt. Und jetzt, zum ersten Mal, fühlte sie sich mit allen um sie herum, die sie liebte, wirklich bereit dafür. Jetzt war es Zeit zu heiraten.
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