KAPITEL SECHS
Bevor Avery und Ramirez in das Polizeirevier gelangten, konnte sie feststellen, dass die Situation außer Kontrolle geraten war. Sie musste das Auto vorsichtig über den Parkplatz des Reviers steuern, um keine Reporter oder Nachrichtenautos zu rammen. Hier war die Hölle los und sie waren noch nicht mal ins Gebäude gekommen.
„Das sieht schlimm aus“, sagte Ramirez.
„Das tut es“, sagte sie. „Wie zur Hölle hat die Presse Wind von dem Brief bekommen, wenn er direkt ins Revier geschickt wurde?“
Ramirez konnte nur die Achseln zucken, als sie aus dem Auto stiegen und in das Gebäude eilten. Ein paar Reporter gingen ihnen im Weg umher, einer von ihnen rannte fast in Avery. Sie konnte ihm gerade noch ausweichen. Sie hörte, wie er sie leise als Schlampe beschimpfte, aber das war gerade die geringste ihrer Sorgen.
Unter Blitzlichtgewitter kämpften sie sich durch die tobenden Reporter, die unbedingt einen Kommentar zur Lage haben wollten, zur Tür durch. Avery spürte, wie ihr Blut zu kochen begann und dass sie alles gegeben hätte, um einem der neugierigen Reporter eine Faust auf die Nase zu pflanzen.
Als sie es endlich in das Gebäude geschafft hatten und sich die Türen hinter ihnen schlossen, bemerkten sie, dass es drinnen nicht viel besser aussah. Sie hatte das A1 bereits im Chaos versinken sehen, aber was sie jetzt sah, hatte eine neue Qualität. Vielleicht gibt es eine undichte Stelle im A1, dachte Avery, während sie schnell zu Connellys Büro ging. Bevor sie jedoch dort ankam, sah sie ihn den Flur hinunterstürmen. O'Malley und Finley folgten ihm.
„Konferenzraum“, bellte Connelly.
Avery nickte und bog ein paar Meter den Flur hinunter rechts ab. Sie bemerkte, dass niemand sonst im Konferenzraum war, was bedeutete, dass das Meeting eines im kleinen Kreise sein würde. Und diese Meetings waren in der Regel unangenehm. Sie und Ramirez folgten Connelly in den Konferenzraum. In dem Moment, in dem O'Mally und Finley auch hereingekommen waren, schloss Connelly die Tür und versperrte sie.
Er warf ein Blatt Papier auf den Konferenzraumtisch. Es war in eine Klarsichtfolie verpackt, wodurch es fast perfekt in Averys Richtung glitt. Sie nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete es.
„Lesen Sie es einfach“, sagte Connelly. Er war frustriert und sah ein wenig blass aus. Sein Haar war zerzaust und er hatte einen wilden Ausdruck in seinen Augen.
Avery tat, wie ihr geheißen worden war. Ohne das Papier aus der Hülle zu nehmen las die den Brief. Mit jedem Wort das sie las, schien der Raum kälter zu werden.
Eis ist wunderschön, aber es tötet. Denkt an das prachtvolle Glitzern des Frostes auf euren Windschutzscheiben an einem Herbstmorgen. Dasselbe schöne Eis vernichtet das Leben der Pflanze.
Es ist effizient in seiner Schönheit. Und die Blume kommt zurück... sie kommt immer zurück. Wiedergeburt.
Die Kälte ist erotisch, aber sie verstümmelt. Man stelle sich vor man kommt aus der Kälte eines Wintersturms und kuschelt sich nackt mit einer Geliebten unter die Bettdecke.
Ist euch bereits kalt? Fühlt ihr die Kälte, wenn man übertölpelt wird?
Es wird mehr geben. Mehr kalte Leichen, die in das Jenseits treiben.
Ich fordere euch heraus mich aufzuhalten.
Ihr werdet der Kälte zum Opfer fallen, bevor ihr mich findet. Und während Ihr friert und euch fragt was bloß geschehen ist, wie die vom Frost bekränzten Blumen, werde ich schon lange verschwunden sein.
„Wann ist der Brief angekommen?“ fragte Avery, während sie ihn zurück auf den Tisch legte, damit Ramirez ihn lesen konnte.
„Heute irgendwann“, sagte Connelly. „Der Umschlag wurde erst vor ungefähr einer Stunde geöffnet.“
„Wie zur Hölle hat die Presse bereits davon erfahren?“ fragte Ramirez.
„Weil jedes örtliche Medienhaus einen solchen Brief bekommen hat.“
„Heilige Scheiße“, sagte Ramirez.
„Wissen wir, wann die Medien die Briefe bekommen haben?“ fragte Avery.
„Sie wurden vor über einer Stunde per Email geschickt. Wir nehmen an, dass das so geplant war, damit sie in den Elf-Uhr Nachrichten darüber berichten.“
„Von wo wurden die Emails verschickt?“ fragte Avery.
„Oh, das ist der verfluchte Teil der Geschichte... also ein verfluchter Teil, “ sagte O'Malley. „Die Emailadresse ist auf eine Frau namens Mildred Spencer registriert. Sie ist eine 72-jährige Witwe, die die Emailadresse nur hat, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben. Wir haben jemanden bei ihr um das zu untersuchen, aber alles deutet darauf hin, dass ihr Account gehackt wurde.“
„Können wir den Hack zurückverfolgen?“ fragte Avery.
„Niemand hier im A1 kann das. Wir haben die State Police eingeschaltet, damit die es versuchen.“
Ramirez hatte den Brief fertig gelesen und legte ihn zurück auf den Tisch. Avery nahm ihn sich wieder und betrachtete ihn nochmals. Sie las ihn nicht, sondern untersuchte ihn nur: das Papier, die Handschrift, die komische Positionierung der Sätze auf dem Papier.
„Irgendwelche ersten Gedanken, Black?“ fragte Connelly.
„Ein paar. Als erstes, wo ist der Umschlag?“
„Auf meinem Schreibtisch. Finley, würdest Du ihn bitte schnell holen?“
Finley folgte der Bitte und Avery vertiefte sich wieder in den Brief. Die Handschrift war tadellos, aber irgendwie kindlich. Es schien, als habe sich der Verfasser viel Mühe gegeben sie zu perfektionieren. Es gab auch ein paar Schlüsselwörter, die ihr sehr eigenartig vorkamen.
„Was noch?“ fragte Connelly.
„Also, gleich ein paar Sachen. Die Tatsache, dass er uns diesen Brief geschickt hat, verdeutlicht, dass er will, dass wir wissen, dass er der Täter ist – ohne dass wir seine Identität kennen. Es mag für ihn also nicht unbedingt ein Spiel an sich sein, sondern etwas wofür er Anerkennung möchte. Er möchte, dass wir ihn jagen.“
„Gibt es irgendwelche Hinweise in dem Brief?“ fragte O'Malley. „Ich habe bestimmt über ein Dutzend Mal nach welchen gesucht, aber keine gefunden.“
„Also die Wortwahl ist an manchen Stellen eigenartig. Es erscheint mir komisch, dass er Windschutzscheiben in einem Brief erwähnt, in dem die einzig anderen konkreten Dinge Blumen und Bettdecken sind. Es erscheint mir auch erwähnenswert, dass er die Wörter erotisch und Geliebte verwendet. Verknüpft man das mit der Tatsache, dass das Opfer, das wir heute gefunden haben ziemlich hinreißend war, scheint mir das ein Hinweis zu sein. Die Erwähnung von Jenseits und Wiedergeburt ist auch beunruhigend. Aber wir könnten eine Million verschiedene Spekulationen anstellen bis wir mehr wissen.“
„Sonst noch etwas?“ fragte Ramirez mit seinem üblichen, nicht ganz so versteckten Lächeln. Er liebte es, sie in Fahrt zu sehen. Sie versuchte den Gedanken zurückzudrängen, während sie weitersprach.
„Die Art wie er die Zeilen trennt... es erinnert fast an Gedichtstrophen. Fast jeder andere Brief, den ich in alten Fällen gesehen habe, in denen der Mörder die Polizei kontaktierte war als Fließtext geschrieben.“
„Warum ist das ein Hinweis?“ fragte Connelly.
„Vielleicht ist es keiner“, sagte Avery. „Ich improvisiere gerade nur.“
Es klopfte an der Tür. Connelly öffnete und Finley trat herein. Er schloss die Tür hinter sich und sperrte ab. Dann legte er den Umschlag vorsichtig auf den Tisch. Es war nichts Ungewöhnliches an ihm. Die Adresse des Reviers war in derselben sorgfältig geübten Schrift geschrieben, wie die des Briefes. Es gab keinen Absender und in der linken Ecke klebte eine immer gültige Briefmarke. Der Poststempel war weit oben auf dem Umschlag und so weit links gesetzt, dass seine Ecken die Briefmarke berührten.
„Der Brief wurde aus dem Postleitzahlbereich 02199 abgeschickt“, sagte O'Malley. „Aber das bedeutet gar nichts. Der Mörder könnte den Brief Kilometer außerhalb seines eigenen Postleitzahlenbereichs abgeschickt haben.“
„Das stimmt“, sagte Avery. „Und der Kerl scheint zu schlau und zu zielstrebig zu sein, als dass er uns durch die Postleitzahl auf seine Fährte bringen würde. Er muss das bedacht haben. Die Postleitzahl ist eine Sackgasse, das garantiere ich.“
„Also, welche Hinweise bleiben uns dann, die wir verfolgen können?“ fragte Finley.
„Also“, sagte Avery, „dieser Typ scheint ziemlich von der Kälte besessen zu sein, genauer gesagt von Eis. Und nicht nur, weil wir die Leiche im Eis gefunden haben. Eis kommt überall im Brief vor. Er scheint darauf fixiert zu sein. Also frage ich mich... können wir eine Recherche durchführen, die alles einschließt, was mit Eis oder Kälte zu tun hat? Schlittschuhlaufbahnen, Fleischkühler, Laboratorien, alles Mögliche.“
„Sie sind sich sicher, dass er den Ort, an dem er den Brief abgeschickt hat nicht absichtlich gewählt hat?“ fragte Connelly. „Wenn er bekannt sein will, dann könnte die Postleitzahl ein Lockruf sein.“
„Nein, ich bin mir nicht sicher. Überhaupt nicht. Aber wenn wir ein Unternehmen oder etwas Ähnliches innerhalb dieses Postleitzahlenbereichs finden können, dass mit Eis zu tun hat, dann würde ich dort anfangen.“
„Ok“, sagte Finley. „Sollen wir die Aufnahmen von Überwachungskameras in der Nähe von Poststellen und Briefkästen auswerten?“
„Nein, auf keinen Fall“, sagte Connelly. „Das würde ewig dauern und wir können nicht wissen, wann der Brief abgeschickt wurde.“
„Wir brauchen eine Liste dieser Unternehmen“, sagte Avery. „So fangen wir am besten an. Fällt irgendjemandem spontan irgendeines ein?“
Nach einigen Momenten des Schweigens seufzte Connelly. „Spontan fällt mir nichts ein“, sagte er. „Aber ich kann Ihnen die Liste innerhalb einer halben Stunde besorgen. Finley, kannst Du die Anfrage fertig machen?“
„Ich bin schon dran“, sagte Finley.
Als er den Raum wieder verlassen hatte, hob Avery eine Augenbraue in Connellys Richtung.
„Ist Finley jetzt ein Botenjunge?“
„Überhaupt nicht. Sie sind nicht die Einzige, die für eine Beförderung vorgeschlagen wurde. Ich versuche ihn mehr in wichtige Fälle einzubinden. Und wie Sie wissen, glaubt er, dass Sie auf dem Wasser wandeln können, also gebe ich ihm bei diesem Fall eine Chance.“
„Und warum sperren wir uns selbst in den Konferenzraum ein?“ fragte sie.
„Weil die Presse Bescheid weiß. Ich will keine Risiko eingehen was verwanzte Räume oder abgehörte Telefone angeht.“
„Das erscheint mir paranoid“, sagte Ramirez.
„Es scheint klug zu sein, “ sagte Connelly ein wenig giftig.
Avery, die einen Pisswettbewerb zwischen den beiden verhindern wollte, zog den Brief näher zu sich.
„Stört es Sie, wenn ich den Brief genauer in Augenschein nehme, während wir auf Ergebnisse warten?“
„Bitte, tun Sie das. Mir wäre es lieber, es würde jemand im A1 herausfinden, bevor die Medien den Brief verbreiten und irgendein Streberkind in einem Keller auf die Lösung des Falles kommt.“
„Wir brauchen die Forensik. Man sollte eine Analyse der Handschrift durchführen. Der Umschlag muss auf jede mögliche Art von Beweisen untersucht werden: Fingerabdrücke, Staubspuren, alles Mögliche.“
„Die Forensik ist unterrichtet und der Brief wird ihr übergeben, sobald Sie fertig mit ihm sind.“
„Es muss schnell gehen“, sagte sie. „Ich weiß Sie haben nur gescherzt, als Sie von einem Kind in einem Keller sprachen, aber das ist eine berechtigte Sorge. Und wenn das Ding in den sozialen Medien landet, kann man nicht wissen, welche Art von Menschen den Brief analysiert.“
Während sie begann den Brief genauer zu untersuchen, kam Finley zurück in den Raum. „Das ging aber schnell“, sagte O'Malley.
„Also es ist zufälligerweise so, dass eine der Frauen aus der Notrufzentrale einen Vater hat, der in der Nähe des Prudential Centers arbeitet. Und das ist, nebenbei bemerkt, innerhalb des 02199 Postleitzahlenbereichs. Vielleicht ist das nur ein Zufall, aber man weiß ja nie. Auf jeden Fall arbeitet ihr Mann bei einem technischen Labor in der Nähe. Sie sagt, dass sie dort verrückte Experimente mit Quantenmechanik und solchen Dingen machen. Es ist eine Zweigstelle der Technischen Fakultät der Universität Boston.“
„Quantenmechanik?“ fragte O'Malley. „Das passt nicht zu unserem Typen, oder?“
„Das kommt auf die Experimente an“, sagte Avery, die sofort interessiert war. „Ich kenne mich nicht besonders gut auf diesem Gebiet aus, aber ich weiß, dass Teile der Quantenmechanik mit extremen Temperaturen zu tun haben. Es hat etwas damit zu tun, die Lebensdauer und den Ursprung mancher Arten von Materie zu untersuchen.“
„Woher zur Hölle wissen Sie das alles?“ fragte Connelly.
Sie zuckte mit den Achseln. „Ich habe jede Menge Dokus im College gesehen. Manches ist davon hängengeblieben denke ich.“
„Also, es ist einen Versuch wert“, sagte Connelly. „Suchen wir Informationen über das Labor und sprechen wir mit den Vorgesetzten.“
„Das kann ich machen“, sagte Avery.
„In der Zwischenzeit kommen die Spätnachrichten“, sagte Connelly, während der auf seine Uhr blickte. „Schauen wir sie uns an, um zu sehen, wie sehr uns die Medien diesen Fall versauen werden.“
Er stürmte aus dem Konferenzraum, dicht gefolgt von O'Malley. Finley sah Avery entschuldigend an und folgte den beiden. Ramirez blickte kopfschüttelnd über Averys Schulter auf den Brief.
„Glaubst Du, der Kerl ist wirklich verrückt, oder möchte er nur, dass wir glauben, dass er verrückt ist?“ fragte er.
„Da bin ich mir noch nicht sicher“, antwortete sie, während sie den mysteriösen Brief nochmals las. „Aber ich bin mir sicher, dass dieses Labor der perfekt Startpunkt für unsere Nachforschungen ist.“