KAPITEL DREI
Die Fahrt von Midtown nach Ashton dauerte nur zwanzig Minuten. Es war 21:20 Uhr, als sie den Tatort verließen, und der Verkehr New York Citys war nach wie vor unnachgiebig und zäh. Als sie den dichtesten Teil des Verkehrs hinter sich gelassen hatten und endlich auf dem Freeway waren, wurde Kate bewusst, dass DeMarco ungewöhnlich still war. Sie saß auf dem Beifahrersitz und starrte geradezu rebellisch auf die an ihr vorbeiziehende Skyline von New York.
„Alles klar bei dir?“, fragte Kate.
DeMarco antwortete sofort, ohne sich jedoch Kate zuzuwenden. Damit war Kate klar, dass DeMarco etwas beschäftigt hatte, schon seitdem sie den Tatort verlassen hatten.
„Ich weiß, dass du diesen Job schon eine Weile machst und dich wirklich auskennst“, begann sie. „Aber ich habe erst ein einziges Mal eine Todesnachricht überbringen müssen, und ich habe es gehasst. Ich habe mich ganz furchtbar gefühlt. Und ich hätte mir wirklich gewünscht, dass du das mit mir besprochen hättest, bevor du uns freiwillig für den Job gemeldet hast.“
„Das tut mir leid, das habe ich gar nicht bedacht. Allerdings ist es in einigen Fällen einfach Teil des Jobs. Auch wenn das jetzt herzlos klingt, es ist am besten, sich gleich zu Anfang daran zu gewöhnen. Außerdem leiten wir jetzt die Ermittlungen; was bringt es also, diese miese Aufgabe dem armen Detective aufzudrücken?“
„Trotzdem… wie wäre es in Zukunft mit einer kleinen Vorwarnung, was das anbelangt?“
In DeMarcos Tonfall schwang Wut mit, etwas, was Kate von DeMarco noch nicht gehört hatte, zumindest nicht an sie gerichtet. „Klar“, antwortete sie nur und beließ es dabei.
Den Rest der Fahrt nach Ashton schwiegen beide. Da Kate schon so oft Todesnachrichten überbracht hatte, wusste sie, dass Spannungen innerhalb des Teams die Aufgabe erschwerte. Allerdings war ihr auch klar, dass DeMarco keine Ratschläge annehmen würde, solange sie wütend war. Diese Lektion, meinte Kate, würde sie vielleicht einfach lernen müssen, indem sie sich in die Aufgabe stürzte.
Um 21:42 Uhr erreichten sie das Haus der Tuckers. Es erstaunte Kate nicht, dass das Licht auf der Veranda brannte, ebenso wie quasi jedes andere Licht innerhalb des Hauses. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war Jack Tucker auf seiner morgendlichen Joggingrunde unterwegs gewesen. Die Frage, warum sein Leichnam in New York gefunden worden war, warf deshalb viele Frage auf. Die Antwort auf all diese Fragen konnte eventuell seine besorgte Ehefrau geben.
Eine besorgte Ehefrau, die kurz davor ist herauszufinden, dass sie jetzt Witwe ist, dachte Kate. Mein Gott, ich hoffe, sie haben keine Kinder.
Kate parkte den Wagen vor dem Haus und stieg aus. Dann stieg auch DeMarco aus, langsam, so als wolle sie Kate damit unmissverständlich klar machen, dass es ihr ganz und gar nicht passte, hier dabei sein zu müssen. Sie gingen den mit Steinplatten ausgelegten Weg zur Haustür entlang und Kate sah, wie sich die Vordertür öffnete, noch bevor sie die Stufen der Veranda erreicht hatten.
Die Frau, die in der Tür stand, erblickte sie und erstarrte. Es hatte den Anschein, dass es ihr nicht leicht fiel, Worte zu finden. Am Ende konnte sie nichts weiter sagen als „Wer sind Sie?“
Ganz langsam griff Kate in ihre Jackentasche und zog ihre FBI-Marke hervor. Bevor sie sie der Frau richtig zeigen konnte, hatte diese schon begriffen, was los war. Man konnte es in ihren Augen sehen. Ihr Gesichtsausdruck fiel langsam in sich zusammen. Und als Kate und DeMarco endlich die Treppenstufen erreicht hatten, ging die Frau auf die Knie und begann zu schreien.
***
Wie sich herausstellte, hatten die Tuckers in der Tat Kinder. Und zwar drei, im Alter von sieben, zehn und dreizehn Jahren. Sie alle waren noch wach und hielten sich im Wohnzimmer auf, während sich Kate alle Mühe gab, die Ehefrau – Missy, wie sie sich unter krampfhaften Schluchzern vorgestellt hatte – nach drinnen und aufs Sofa zu befördern. Die Dreizehnjährige war sogleich an der Seite ihrer Mutter, während DeMarco versuchte, die anderen beiden auf Abstand zu halten, während deren Mutter versuchte, die schlimme Nachricht, die sie soeben erhalten hatte, zu verinnerlichen.
Mit leicht schlechtem Gewissen meinte jetzt auch Kate, dass sie DeMarco gegenüber vielleicht doch etwas unbedacht vorgegangen war. Diese ersten zwanzig Minuten im Hause der Tuckers waren herzzerreißend. Ihr selbst fiel nur ein einziger anderer Moment während ihrer gesamten Karriere ein, der ebenso schlimm gewesen war. Sie beobachtete, wie DeMarco sich um die beiden Kinder kümmerte und vermutete, dass sie ihr dies noch sehr lange nachtragen würde.
Irgendwann inmitten des Chaos wurde Missy Tucker klar, dass sie jemanden finden musste, der bei den Kindern sein konnte, wenn sie irgendeine Hilfe für Kate und DeMarco sein wollte. Immer wieder unterbrochen von langem Schluchzen rief sie ihren Schwager an, dem sie nun ihrerseits die Nachricht vom Tod seines Bruders überbringen musste. Der Bruder von Jack Tucker lebte auch in Ashton, und seine Frau und er fuhren sofort los, um sich um die Kinder zu kümmern.
In erster Linie, um Missy und den Kinder etwas Privatsphäre zu ermöglichen und mit ihrer Trauer klarzukommen, holte Kate Missys Einverständnis ein, sich im Haus umzugucken und so vielleicht auf etwas zu stoßen, was darauf hinwies, was dazu geführt haben konnte, dass Jack Tucker ermordet worden war. Sie begannen im Eheschlafzimmer, wo sie die Nachttische der Eheleute Tucker durchsuchten und private Gegenstände untersuchten, begleitet vom Schluchzen der Familie, das von unten zu ihnen herauf drang.
„Das hier ist wirklich das Allerletzte“, meinte DeMarco.
„Das ist es. Und es tut mir leid, DeMarco. Wirklich. Ich dachte nur, dass es so für alle Beteiligten leichter wird.“
„Ach, wirklich?“, schoss DeMarco zurück. „Ich weiß, dass ich dich nicht allzu gut kenne. Was ich allerdings weiß ist, dass du dazu neigst, alles daran zu setzen, um dir selbst soviel Druck wie irgend möglich zu machen. Deshalb verstehe ich nur allzu gut, dass es dir Schwierigkeiten bereitet, die relativ einfach Balance zwischen deiner Familie und der Arbeit für das FBI zu finden.“
„Wie bitte?“, hakte Kate nach und spürte, wie die Wut in ihr hochkochte.
„Tut mir ja leid, aber genau so ist es doch“, entgegnete DeMarco und zuckte die Schultern. „Die hiesige Polizei hätte dies doch erledigen können und du könntest schon längst woanders nach Spuren in diesem Fall suchen.“
„Ohne Zeugen ist die Ehefrau die beste Option“, entgegnete Kate. „Außerdem muss sie gerade den Tod ihres Mannes verdauen. Es ist für alle Beteiligten eine beschissene Situation. Aber du musst darüber hinwegkommen, dass dir die Situation an die Nieren geht. Und frage dich doch mal, wer es denn im Großen und Ganzen am schwersten hat; du oder die trauernde Witwe, die da unten sitzt?“
Kate war sich nicht bewusst gewesen, wie laut sie bei ihren letzten Worten geworden war. DeMarco starrte sie einen Moment lang an, bevor sie dann einfach den Kopf schüttelte, wie ein zurechtgewiesener Teenager, dem nichts mehr zu sagen einfiel, und den Raum verließ.
Als auch Kate mit der Überprüfung des Schlafzimmers fertig war, sah sie, dass DeMarco den Flur entlang ein Büro und eine kleine Bibliothek untersuchte. Kate entschied, DeMarco einen Augenblick in Frieden zu lassen und ging selbst nach draußen, um sich dort nach irgendwelchen Hinweisen umzusehen. Sie erwartete eigentlich nicht, auf etwas zu stoßen, als sie so um das Haus herumging, aber ihr war bewusst, dass es grob fahrlässig gewesen wäre, nicht alles zu untersuchen.
Als sie wieder das Haus betrat, sah sie, dass Jack Tuckers Bruder und dessen Frau inzwischen eingetroffen waren. Der Bruder und Missy hielten sich in einer festen, verzweifelten Umarmung, während seine Ehefrau bei den Kindern kniete und sie umarmte. Kate bemerkte den leeren Gesichtsausdruck der Dreizehnjährigen – einem Mädchen, das ihrem Vater sehr ähnelte, und Kate konnte nicht umhin, DeMarco ihre Wut nicht länger übelzunehmen.
„Agent Wise?“
Gerade als sie wieder nach oben gehen wollte, kam ihr Missy den Flur entlang entgegen geeilt. Kate wandte sich um. „Ja?“
„Wenn wir uns unterhalten sollen, dann bitte jetzt. Ich weiß nicht, wie viel länger ich mich noch zusammenreißen kann.“ Ihr kamen schon jetzt Klagelaute und Stöhnen über die Lippen. In Anbetracht dessen, dass sie die Nachricht des Todes ihres Mannes vor kaum einer Stunde erhalten hatte, musste Kate sie für ihre Stärke wirklich bewundern.
Mit einem schnellen Blick zum Wohnzimmer hinter sich, in dem sich ihre Kinder und Verwandten aufhielten, ging sie rasch die Treppe hinauf. DeMarco, die sich gerade das Medizinschränkchen im Badezimmer oben vorgenommen hatte, gesellte sich zu ihnen und zu dritt gingen sie in das Eheschlafzimmer, das Kate und DeMarco schon untersucht hatten.
Missy setzte sich auf die Bettkante; sie wirkte wie eine Frau, die gerade aus einem Albtraum erwacht war, nur um sich bewusst zu werden, dass er niemals enden würde.
„Sie haben mich gefragt, warum Jack in New York City gewesen ist“, begann sie. „Jack arbeitete in einer leitenden Funktion in der Buchhaltung einer ziemlich großen Firma – bei Adler and Johnson. In letzter Zeit haben sie Tag und Nacht an den Finanzen einer Firma in South Carolina, die mit der Stilllegung von Atomkraftwerken zu tun hat, gearbeitet. Wenn es richtig spät wurde, hat er in New York übernachtet.“
„Haben Sie ihn heute Abend zurück erwartet, oder haben Sie angenommen, er übernachte in New York im Hotel?“, fragte DeMarco.
„Ich habe heute Morgen gegen 7 Uhr mit ihm gesprochen, bevor er zu seiner morgendlichen Joggingrunde aufgebrochen ist. Er sagte, dass er nicht nur plane, heute Abend nach Hause zu kommen, sondern sogar ziemlich früh – circa gegen 16 Uhr.“
„Ich nehme an, Sie haben zu einer bestimmten Uhrzeit anfangen, ihn anzurufen, als Sie feststellten, dass er sich verspätete?“
„Ja, aber erst so gegen 19 Uhr. Wenn es bei seiner Firma richtig zur Sache geht, zerrinnt ihnen Zeit oftmals zwischen den Fingern.“
„Mrs. Tucker, das FBI wurde eingeschaltet, weil die Umstände des Mordes an Ihrem Mann sich decken mit denen eines Falls von vor acht Jahren. Das damalige Opfer war ein Mann, der auch hier in Ashton lebte, und ebenfalls in New York getötet wurde“, erklärte Kate. „Es gibt keine handfesten Beweise, die diese Verbindung untermauern, aber die Umstände ähneln sich dennoch ausreichend, dass das FBI den Fall an sich gezogen hat. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Sie darüber nachdenken, ob Ihr Mann sich Feinde gemacht hat.“
Es war Missy anzusehen, dass sie wieder mit den Tränen kämpfte. Sie unterdrückte das Bedürfnis, ihrer Trauer freien Lauf zu lassen und bekam sich wieder in den Griff.
„Nein, mir fällt niemand ein. Das sage ich nicht nur, weil ich meinen Mann liebe, sondern weil er ein sehr gutherziger Mensch war. Abgesehen von einigen kleinen Meinungsverschiedenheiten bei der Arbeit kann ich mich an keinen wirklichen Streit in seinem Leben erinnern.“
„Wie sieht es mit engen Freunden aus?“, fragte Kate. „Gibt es Freunde, insbesondere männliche, mit denen er Zeit verbrachte und die vielleicht eine andere Seite Ihres Mannes kennengelernt haben könnten?“
„Nun ja, er hatte diese Gruppe von Freunden - draußen im Yachtclub, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die irgendetwas Negatives über ihn zu berichten haben.“
„Haben Sie die Namen von denjenigen, mit denen Ihr Mann dort seine Zeit verbrachte, damit wir uns mit ihnen unterhalten könnten?“, fragte DeMarco.
„Ja, es gab diesen harten Kern der Gruppe… mein Mann und noch drei weitere. Sie haben sich am Yachtclub getroffen, oder gingen zusammen in eine Zigarren-Bar, wo sie Sport geguckt haben. Vor allem Football.“
„Wissen Sie, ob einer der anderen Feinde hatte?“, wollte DeMarco wissen. „Selbst eifersüchtige Ex-Frauen oder Familienmitglieder, mit denen es nicht so glatt lief?“
„Ich weiß nicht. Ich kenne die nicht allzu gut und…“
Das unkontrollierte Schluchzen, das von unten zu ihnen drang, unterbrach Missy. Sie blickte zur Schlafzimmertür mit einem Gesichtsausdruck, der Kate im Herzen weh tat.
„Das war Dylan, unser mittleres Kind. Er und Jack waren…“
Mit zitternder Lippe hielt sie inne und versuchte, sich zusammenzureißen.
„Es ist okay, Mrs. Tucker“, sagte DeMarco. „Gehen Sie nach unten zu Ihren Kindern. Wenn Sie noch so nett wären, uns die Namen von Jacks Freunden aus dem Yachtclub zu geben, haben wir erstmal genügend Informationen.“
Schnell erhob sich Missy und rannte weinend zur Tür. DeMarco ging hinter ihr und bedachte Kate mit einem wütenden Blick. Kate selbst blieb einen Moment länger inmitten des Schlafzimmers stehen und versuchte, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Nein, dieser Teil des Jobs war wahrlich niemals leicht gewesen. Und die Tatsache, dass sie eigentlich kaum brauchbare Informationen von Missy bekommen hatten, machte es nur noch schlimmer.
Schließlich betrat sie den Flur. Ihr war klar, warum DeMarco sauer auf sie war. Herrgott nochmal, sie war sogar etwas sauer auf sich selbst.
Kate ging nach unten und verließ das Haus. Sie sah, dass sich DeMarco die Tränen wegwischte, als sie gerade in den Wagen einstieg. Kate schloss leise die Haustür und spürte, wie die Trauer sie tiefer und tiefer in einen alten Fall hineinschob, den sie schon verloren geglaubt hatte.