KAPITEL EINS
Ihre Nerven standen in Flammen und sie meinte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Die Boxhandschuhe an ihren Händen fühlten sich fremd an und der Kopfschutz erstickte sie fast. Nichts davon war neu für Kate Wise – sie trainierte jetzt seit knapp zwei Monaten, aber bisher noch nie mit einem wirklichen Sparringpartner. Ihr war natürlich klar, dass es hier um erster Linie um Spaß ging und es ein Teil ihres Workouts war, aber trotzdem machte es sie nervös. Sie schlug auf den Körper eines anderen ein, und das war etwas, was sie noch nie auf die leichte Schulter genommen hatte.
Sie blickte auf ihren Sparringpartner, der auf der anderen Seite des Rings stand. Sie versuchte die jüngere Frau - die genau wie Kate Mitglied dieses Fitnessstudios war und am gleichen Boxing-Kurs teilnahm – nicht als Gegnerin wahrzunehmen. Die Frau hieß Margo Dunn, und sie nahm aus dem gleichen Grund wie Kate an diesem Kurs teil, nämlich, weil es der perfekte Fullbody-Workout war, ohne dass man dabei viel laufen oder Gewichte stemmen musste.
Margo grinste Kate an, als der Trainer ihr den Mundschutz einlegte. Kate nickte zurück, während auch ihrer eingelegt wurde. Als er richtig saß, spürte Kate, wie sich ein Schalter in ihr umlegte. Sie war jetzt im Box-Modus. Klar, sie war immer noch nervös und die Situation ließ sie sich etwas unwohl fühlen, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, loszulegen. Einsatz zu zeigen. Nur sieben Leute schauten zu – Trainer und zwei andere Mitglieder des Studios, die einfach neugierig waren.
Am Rande des Rings läutete jemand eine kleine Glocke, die den Start des Kampfes signalisierte. Kate trat in die Mitte des Rings, wo Margo schon stand. Ihre Handschuhe berührten sich und beide traten zwei respektvolle Schritte zurück.
Und dann ging es los. Kate umkreiste ihre Gegnerin ein wenig, ihre Füße fanden den Rhythmus, den sie gelernt hatte; so, als würde sie tanzen. Sie trat vor und schlug zum ersten Mal zu. Margo wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab, aber es war gut fürs warm werden. Mit ihrer Linken schlug Kate nochmals zu. Wieder wehrte Margo den Schlag ab und landete dann ihrerseits einen Schlag mit ihrer Linken, die Kate an der Seite des Kopfes traf. Sie hatte nicht hart zugeschlagen – schließlich war dies ein Sparring-Match – und der Schlag wurde abfedert durch den schweren Kopfschutz. Trotzdem verlor Kate fast ihre Balance.
Du bist sechsundfünfzig, dachte sie. Was glaubst du eigentlich, was zum Teufel du hier machst?
Noch während sie über diese Frage nachdachte, landete Margo einen rechten Haken, dem Kate mit einer solchen Behändigkeit auswich, dass sie sogleich an Selbstbewusstsein gewann. Und wie sie mit Leichtigkeit den Schlag abwehrte, motivierte sie in höchstem Maße.
Du weißt ganz genau, warum du das hier tust, dachte sie. Nach neun Wochen hast du neun Kilo verloren und die beste Muskeldefinition, die du je gehabt hast. Du fühlst dich zwanzig Jahre jünger und jetzt mal ehrlich… hast du dich jemals zuvor so stark gefühlt?
Nein, das hatte sie nicht. Zwar hatte sie in Sachen Boxen noch verdammt viel zu lernen, aber die Grundlagen hatte sie schon verinnerlicht.
Mit dieser Einstellung fest im Kopf verankert, trat sie vor, täuschte einen linken Haken vor, um dann mit der Rechten zuzuschlagen. Als sie direkt Margos Kinn traf, legte sie mit der Linken nach … und dann nochmal. Beide Schläge trafen hundertprozentig und in Margos Augen trat ein überraschter Ausdruck, als sie rückwärts in die Seile taumelte. Trotzdem grinste sie. Genau wie Kate wusste Margo, dass dies mehr oder weniger nur Training war, und sie hatte gerade eine Lektion gelernt: Achte immer auf die vorgetäuschten Schläge deines Gegners.
Margo erwiderte mit zwei gezielten Schlägen auf Kates Körper, von denen einer Kates Rippen traf. Sie rang einen Moment nach Atem, währenddessen sie noch einen Schlag einsteckte. Sie sah noch, wie Margos harter rechter Haken von links kam, aber ihr blieb keine Zeit mehr zu reagieren. Sie versuchte auszuweichen, aber es war zu spät. Der Schlag traf sie mit voller Wucht seitlich am Kopf und ließ sie nach hinten taumeln.
Einen Moment lang war ihr schwindelig. Ihre Sicht verschleierte sich und ihre Knie fühlten sich schwach an. Sie dachte daran, ihre Knie einfach nachgeben zu lassen, nur um sich eine kurze Pause gönnen zu können.
Tja… also doch zu alt hierfür….
Doch dann dachte sie: Kennst du irgendeine andere Frau über fünfzig, die solch einen Schlag einsteckt und trotzdem noch steht?
Sie erwiderte mit zwei Schlägen und dann noch einen, den sie auf Margos Torso richtete. Nur einer der ersten beiden Schläge traf sein Ziel, aber der Schlag auf den Torso war genau richtig platziert. Margo stolperte rückwärts in die Seile. Sie stieß sich ab und versetzte Kate einen Kinnhaken, der nicht wirklich weh tun sollte, sondern Kate nur dazu veranlassen sollte, ihre Arme zur Abwehr nach oben zu reißen, damit Margo dann auf ihren ungeschützten Körper einschlagen konnte. Kate machte jedoch das Zögern in Margos Bewegungen aus und erkannte blitzschnell ihre Taktik. Statt den Kinnhaken abzuwehren, wich sie nach rechts aus, wartete das volle Momentum von Margos Schlag ab, und landete dann selbst einen harten Schlag mit ihrer Rechten, der Margo an der Seite ihres Kopfes traf.
Margo ging sofort zu Boden. Sie fiel vornüber auf den Bauch und rollte sich schnell ab. Sie zog sich in ihre Ecke zurück und nahm den Mundschutz heraus. Dann lächelte sie Kate ungläubig an.
„Tut mir leid“, sagte Kate und kniete sich vor Margo.
„Das muss es nicht“, entgegnete Margo. „Es ist kaum zu glauben, wie du es schaffst, so schnell zu sein. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Wegen deines Alters hatte ich angenommen, dass du… langsamer bist.“
Kates Trainer – ein ergrauter Mittsechziger mit langem weißem Bart – kletterte schmunzelnd durch die Seile. „Der gleiche Fehler ist mir auch unterlaufen“, sagte er zu Margo. „Deshalb hatte ich ungefähr eine Woche lang ein blaues Auge. Habe genau den gleichen Schlag eingesteckt wie du eben.“
„Du brauchst wirklich nicht so entschuldigend zu klingen“, sagte Kate. „Dein Schlag, der mich am Kopf getroffen hat, hat mich fast k.o. geschlagen.“
„Er hätte dich k.o. schlagen sollen“, entgegnete der Trainer. „Er war schon ein Stück härter, als ich das eigentlich gutheiße in einem einfachen Sparring-Match.“ Dann blickte er Margo an. „Du kannst es dir aussuchen, ob du weitermachen willst oder nicht.“
Margo nickte und rappelte sich auf. Der Trainer legte ihr wieder den Mundschutz ein. Dann begaben sich beide Frauen wieder in ihre jeweiligen Ecken und warteten auf das Einläuten der nächsten Runde.
Allerdings war es nicht die Glocke, die Kate nun hörte, sondern das Klingeln ihres Handys. Und es war der Klingelton, der ausschließlich für Anrufe des FBIs reserviert war.
Sie spuckte den Mundschutz aus und erhob ihre behandschuhten Hände in Richtung ihres Trainers. „Tut mir leid“, sagte sie. „Den Anruf muss ich annehmen.“
Ihr Trainer wusste Bescheid über ihren Teilzeitjob als Agent beim FBI. Er hielt sie für eine beinharte Lady (dies waren seine Worte, nicht ihre), weil sie sich weigerte, sich komplett von solch einem Job zurückzuziehen. Deshalb löste er ihre Handschuhe so schnell wie möglich.
Kate stieg durch die Seile und eilte zu ihrer Sporttasche, die an der hinteren Wand stand. Sie behielt sie immer in Reichweite, für den Fall, wenn eben solch ein Anruf kam. Sie griff das Handy und verspürte sowohl Aufregung als auch Beklommenheit, als sie den Namen von Deputy Director Duran auf dem Display sah.
„Agent Wise hier“, sagte sie.
„Wise, hier ist Duran. Haben Sie einen Moment?“
„Ja“, sagte sie, wobei sie einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Boxrings warf, wo Margos Trainer gerade mit ihr daran arbeitete, vorgetäuschte Schläge rechtzeitig zu erkennen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich hatte gehofft, dass Sie sich um einen Fall kümmern können, und zwar umgehend. Sie und DeMarco müssen noch heute abfliegen.“
„Ich kann noch nicht sagen, ob das klappt“, sagte sie, und das entsprach der Wahrheit. Dies kam sehr kurzfristig und während der letzten Wochen hatte sie mehrfach mit ihrer Tochter Melissa darüber gesprochen, dass sie sich nicht mehr für solche Last-Minute-Jobs zur Verfügung halten wollte. Während des letzten Monats hatte sie sehr viel Zeit mit Melissa und ihrer Enkelin Michelle verbracht, und sie hatten endlich so etwas wie eine Routine etabliert. Eine Routine, bei der die Familie an erster Stelle stand.
„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie gleich an mich gedacht haben“, begann Kate. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich zusagen kann. Es ist extrem kurzfristig. Und dass wir irgendwohin fliegen müssen… lässt darauf schließen, dass es sich um einen Fall handelt, der ziemlich weit weg ist. Ich weiß nicht, ob ich mich auf einen langen Trip einlassen kann. Um welchen Ort handelt es sich denn eigentlich?“
„New York. Kate… ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Fall mit dem Nobilini-Fall zu tun hat.“
Bei dem Namen lief es Kate kalt den Rücken herunter. Sie vernahm ein Klingeln in den Ohren, und das hatte nichts mit dem Schlag zu tun, den ihr Margo kurz zuvor versetzt hatte. Flashbacks des Falls, der sich vor acht Jahren ereignet hatte, durchfluteten ihre Erinnerung – quälend, sie geradezu auslachend.
„Kate?“
„Ich bin noch dran“, sagte sie. Erneut blickte sie zum Boxring herüber. Margo machte Dehnübungen und joggte leichtfüßig auf der Stelle, bereit für die nächste Runde.
Es war schade, dass es keine nächste Runde geben würde. Denn sobald Kate den Namen Nobilini vernommen hatte, war ihr klar, dass sie den Fall einfach annehmen musste. Sie konnte keinesfalls ablehnen.
Vor acht Jahren hatte sie sich an dem Nobilini-Fall die Zähne ausgebissen – eine der wenigen echten Niederlagen ihrer Karriere.
Und dies war nun die Gelegenheit, den Fall doch noch zum Abschluss zu bringen – den einzigen Fall, dem sie nicht gewachsen gewesen war, zu lösen,.
„Wann geht der Flug?“, fragte sie Duran.
„Dulles Airport zum JFK Airport. Abflug in vier Stunden.“
Schweren Herzens dachte sie an Melissa und Michelle. Melissa würde kein Verständnis dafür aufbringen können, aber Kate konnte sich diese Gelegenheit schlichtweg nicht entgehen lassen.
„Ich werde da sein“, sagte sie.