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Um sieben stand die Sonne immer noch hoch am Himmel und ich sank tiefer in meinen Stuhl, der von dem Sonnenschirm geschützt wurde. Die Überbleibsel des Abendessens waren vor mir auf dem Teakholztisch verstreut. Teller, Servietten und Besteck lagen kreuz und quer herum, Maiskolben lagen abgeknabbert dazwischen, das gegrillte Hühnchen gehörte der Vergangenheit an. Das Aroma glühender Kohlen hing noch in der Luft. Ich sackte zusammen und lehnte meinen Kopf bequem an die hohe Holzlehne. Entspannte mich mit einem vollen Bauch. Fix und fertig. Meine Nasenspitze war warm und brannte ein bisschen, wahrscheinlich ein Sonnenbrand.
Es war ein langer Tag gewesen. Nach dem Frühstückfiasko in der Feuerwehrstation hatten wir sechs Garagenverkäufe besucht. Anschließend waren wir auf Pete’s Hill gewandert und hatten zum Mittagessen gepicknickt. Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwichs mit Aussicht. Ich liebte diesen Wanderweg, weil er direkt in der Innenstadt begann, aber zu einem Bergrücken führte, der eine fantastische Aussicht bot, vor allem bei Sonnenuntergang. Bozeman lag in einem Tal, das von drei Seiten von Bergen eingekesselt wurde. Die Gallatins, Spanish Peaks und Tobacco Roots. Ein wunderbarer Fernblick in alle Richtungen. Die Kinder mochten ihn, weil wir von unserer Lieblingsbank aus das Dach unseres Hauses sehen konnten.
Von der Terrasse aus beobachtete ich die Jungs, die im Garten in ihren Halloweenkostümen vom Vorjahr spielten. Zack, der als Sturmtruppler verkleidet war, hing an einem Schwungseil und tat so, als sei er ein futuristischer Tarzan oder Pirat. Bobby trug seinen Spiderman-Anzug mit Zachs Sturmtruppler-Maske. Ihnen musste in ihren Polyesterklamotten heiß sein und wahrscheinlich schwitzten sie auch.
Bobby grub mit einer Gartenschaufel im Sandkasten und tat so, als wäre er Indiana Jones, der nach verlorenen Schätzen suchte. Wie er durch die kleinen Augenlöcher der Maske etwas sehen konnte, überstieg meine Vorstellungskraft. Meine Kinder waren nicht besessen von einer der Actionfiguren, den Badehandtüchern und Vesperdosen, die auf ihren Betten verteilt herumlagen. Sie mochten alles Mögliche. Sie diskriminierten nicht.
Neben Bobby stand in einem schiefen Winkel der Gartenzwerg, den er mit seinem Dollar auf dem zweiten Garagenverkauf gekauft hatte. Er trug einen kleinen blauen Mantel, einen roten Spitzhut und hatte einen weißen Bart. War ungefähr dreißig Zentimeter groß. Er lächelte eins von diesen gruseligen Lächeln mit geschlossenen Lippen. Zach hatte sich auch einen Zwerg gekauft. Seiner war jedoch anders, roter Mantel und blauer Hut. Der gleiche weiße Bart. Seiner saß in seinem eigenen Gartenstuhl mit mir am Tisch. Zach hatte darauf bestanden, dass er sich uns für das Abendessen anschloss. Wenn ich mich in meinem Stuhl zurücklehnte, lagen die Knopfaugen nicht auf mir. Glücklicherweise hatte es bei dem Verkauf zwei Zwerge gegeben, denn einer allein hätte einen wahren Krieg ausgelöst. Ich konnte eine Gartenfigur aus Keramik schließlich nicht wie einen Brownie oder Keks in der Mitte teilen. Da jeder einen Dollar gekostet hatte, waren die Kinder glücklich, was wiederum mich glücklich machte. Das Leben war gut.
„Arr, runter mit deinem Blaster!“, schrie Zach, während er durch die Luft sauste. Das Schwungseil hing von der Esche, die dem Garten Schatten spendete. Der Zaun zwischen dem Haus des Colonels und meinem war hüfthoch, sodass Zach daran hochkletterte und sich von dort auf das Seil stürzte. Obwohl die Häuser nicht auf kleine Grundstücke gepfercht worden waren – meines war über ein Viertel Acre groß – konnte ich nachts von meiner Position auf der Terrasse in das Wohnzimmer des Colonels schauen. Er konnte ebenfalls in mein Haus sehen, allerdings sah er die Fensterreihe meiner Küche. Vielleicht war das der Grund, warum er so oft zum Abendessen vorbeikam. Er konnte sehen, was ich kochte.
Wir lebten auf der südlichen Seite Bozemans, zehn Blöcke entfernt von der Hauptstraße. Jedes Haus war anders, manche waren noch originale Bergbauhütten aus den Anfängen der Stadt, andere waren Farmhäuser aus den Sechzigern. Meines fiel in die letzte Kategorie. Es war ein einstöckiges Mid-Century Modern Haus mit einem Flachdach und einer Menge Charakter. Einem typisch schäbigen Keller. Einer Verkleidung aus Rotholz, die in einem dunklen Grau-Grün gestrichen und mit einem schwarzen Rand versehen worden war. Tiefhängende Dachvorsprünge verliehen dem Haus Ähnlichkeit mit Werken von Frank Lloyd Wright. Was es so besonders machte, waren die Fenster, die vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand reichten. Das Wohnzimmer, die Küche, das Esszimmer und das Master Schlafzimmer hatten alle Wände aus Glas, die die Außenwelt zum Teil des Hauses werden ließen. Unglücklicherweise ermöglichten die riesigen Fenster auch, dass alle reinschauen konnten. Nachbarn, Spanner. Sie diskriminierten auch nicht.
Ich liebte mein Haus. Es hatte Nate gehört, bevor wir geheiratet hatten, davor seinen Eltern und davor Goldies Eltern. Nates Großvater hatte es ’59 nagelneu gekauft und es Goldie und Paul, ihrem Mann, in den späten Sechzigern als Hochzeitsgeschenk übergeben. Ich wäre mit Porzellan oder einem Fondue-Set als Geschenk völlig zufrieden gewesen. Aber das Haus an die nächste Generation weiterzugeben, war zu einer Tradition geworden. Nate hatte, als der egoistische Mistkerl, der er nun mal war, ein kostenloses Mittagessen nicht abgelehnt. Oder ein kostenloses Haus.
Als Nate gestorben war, hatte ich gedacht, ich würde das Haus Goldie und Paul zurückgeben und ausziehen. Etwas Kleineres nur für mich und die Jungs suchen. Sie waren damals praktisch noch Babys gewesen. Bobby war tatsächlich eines gewesen. Aber Goldie hatte darauf bestanden, dass das Haus mir gehörte. Ich hätte es mir mehr als verdient, hatte sie gesagt. Sie hatte ihren Sohn geliebt und vermisste ihn nach wie vor, aber sie wusste, was mir Nate angetan hatte. Außerdem behauptete sie, dass das Haus für sie und Paul zu groß sei.
Und so war ich geblieben und das Haus gehörte jetzt mir. Aber drei Generationen an Wests hatten dem Haus ihren Stempel aufgedrückt. Ich hatte immer Hemmungen gehabt, daran etwas zu ändern, aber ich musste zugeben, dass ich so langsam die Nase voll hatte von Nates zusammengewürfelten gebrauchten Möbeln. Er war vor Jahren gestorben, also war es vielleicht an der Zeit, auch seine Möbel zu verabschieden. Diesen Winter, schwor ich mir.
Ein großes Haus mit großen Fenstern brachte jedoch eine kolossale Heizrechnung mit sich. Die Fenster bestanden aus einer Glasscheibe, was für die Winter in Montana nicht die beste Wahl war. Oder für kleine Jungs, die anstrebten es in die Baseball-Liga zu schaffen.
Das Haus des Colonels war nicht ganz so altmodisch wie meines. Es war ebenfalls ein Farmhaus, aber damit endeten auch schon die Ähnlichkeiten. Es war breit und gedrungen, hatte ein flaches Satteldach, eine weiße Verkleidung mit Backsteinakzenten und kam ohne jeglichen Schnickschnack aus. Er hatte einen makellosen Garten mit den allerschönsten Blumenbeten, um den Pepp hinzuzufügen, an dem es dem Haus mangelte.
Tys Haus war zur gleichen Zeit wie das des Colonels gebaut worden, aber hatte eine Holzverkleidung, die in einem matschbraun gestrichen worden war, und eine leuchtend orange Eingangstür. Er hatte das Haus aus Mr. Kowalcheks Nachlass gekauft, der mit siebenundneunzig Jahren gestorben war. Der Verstorbene war der ursprüngliche Eigentümer gewesen und der Mann hatte seit dem Tag seines Einzugs nichts an dem Haus gemacht. Das Bad war wahrscheinlich avocadogrün. Ich konnte Ty vor mir sehen, wie er seine Tage mit der Modernisierung und Renovierung des Hauses verbrachte, was so lange dauern könnten wie seine Hypothek.
„Was treibt Mom heute?“, fragte ich den Colonel. Er aß oft mit uns zu Abend und heute Abend hatte er zum Dessert Wackelpudding mitgebracht. Das war seine Spezialität. Ich persönlich liebte einen guten Wackelpudding, solange er kein seltsames Gemüse oder Nüsse enthielt, die ihn ruinierten. Heute war er in einer Springform und setzte sich aus vier verschiedenen Farben zusammen. Sehr beeindruckend.
„Golf“, brummelte der Colonel. „Keine Ahnung, wie die Frau in dieser Hitze spielen kann. Dort unten ist es wie in einem Backofen. Stundenlang einem kleinen Ball hinterher zu jagen, klang schon immer dämlich für mich.“
Eine Eigenschaft des Colonels war, dass er kein Blatt vor den Mund nahm. Man wusste immer, woran man bei ihm war. Mit seinen fünfundsechzig Jahren hatte er einen Kopf voller grauer Haare. Topfschnitt. Seine Haare hatten zu große Angst vor ihm, um auszufallen. Er trug saubere Khakis und ein weißes Button-Down-Hemd, seine übliche Uniform. Manchmal trug er Shorts, aber das waren lediglich seine alten Khakis denen die Beine abgeschnitten worden waren.
„Für sie ist es kein Backofen. Sie behauptet, Savannah sei im Juli so ‘weich wie eine Babydecke‘.“ Ich war der Meinung, dass Savannah in Georgia im Juli ein Backofen war. Mit der Heizung auf der höchsten Stufe, geschlossenen Fenstern und einer Heizdecke obendrauf. Und einer Sauna. Man durfte schließlich nicht die Luftfeuchtigkeit vergessen. „Sie denkt, Golf beruhigt.“
Der Colonel brummte missbilligend. „Wenn die Frau noch ruhiger wird, ist sie tot.“
„Mommy, ich hab ein Urzeit-Auto gefunden, das Dinosaurier gejagt hat!“, schrie Bobby aus dem Sandkasten. Seine Maske hatte er sich auf die dunklen Haare geschoben. In den Händen hielt er ein Matchboxauto, das er zu Beginn des Sommers auf einer Geburtstagsfeier als Gastgeschenk erhalten hatte. Ich hob meine Augenbrauen und täuschte Interesse vor. Zufrieden mit meiner Aufmerksamkeit schob er sich die Maske übers Gesicht und machte sich wieder ans Graben.
„Wann kommt sie wieder?“ Es mochte seltsam wirken, dass ich den Colonel nach dem Kommen und Gehen meiner eigenen Mutter fragte, aber sie redete mit dem Colonel zehnmal öfter als mit mir. Nicht, dass sie mich nicht liebte. Aber sie liebte den Colonel. Und zweitausend Meilen voneinander entfernt zu leben, machte diese Liebe nur noch stärker.
„Ende August, wenn die Schule anfängt. Sie will für die erste Woche hier sein.“
Passte für mich. Ich mochte meine Mutter. Wir verstanden uns gut und wenn sie in die Stadt kam, war es immer toll. Sie kümmerte sich um die kleinen Dinge, die mit Kindern so anfielen. Baden, Vorlesen, Vesperboxen. Es war schön, sich ausnahmsweise einmal umsorgen zu lassen. Eine Mutterhenne, die ihre Küken bemutterte. Die Wäsche machte sie nicht, aber das konnte ich übernehmen.
Zach kam angerannt und schnappte sich seinen Zwerg. „Kann ich Ty meinen George zeigen? Er hat heute Morgen gesagt, dass er unsere Beute sehen will.“
Mein Mund klappte auf, aber ich schloss ihn, bevor ich loslachte. Tatsächlich war ich mir nicht sicher, worüber ich zuerst lachen sollte: sein Kostüm, seinen Zwerg oder seine Piratensprache. „George? Du hast deinem Zwerg einen Namen gegeben?“
Zach nickte. „Sicher, jeder braucht einen Namen.“
Mir war nicht bewusst gewesen, dass jeder auch eine Gartenfigur aus Keramik miteinschloss, aber ich würde Zach nicht den Spaß verderben. „Sicher. Geh nicht durch die Tür an der Straße. Nimm die Abkürzung durch den Garten vom Colonel, um zu Ty zu gehen.“
Zach sauste davon wie ein geölter Blitz. Bobby, dem dämmerte, wohin sein Bruder rannte, eilte ihm mit seinem Zwerg – welchen Namen auch immer er hatte – in der Hand hinterher.
„So, erzähl mir von unserem neuen Nachbar.“ Ich war unglaublich neugierig auf Ty. Da er der erste Mann war, der meinen Pulsschlag zum ersten Mal seit Ewigkeiten beschleunigte, wollte ich mehr über ihn wissen. Auch wenn ich ein zu großer Angsthase war, um tatsächlich etwas zu unternehmen. Ich konnte mir allerdings heiße Fantasien über ihn ausdenken. Die schadeten niemandem und ich würde mir diese heißen Fantasien überlegen, während ich später meinen eigenen Vibrator rauszog.
„Er kommt aus Pony. Seine Eltern haben dort eine Ranch. Kühe. Eine Menge Kühe.“ Pony war eine winzig kleine Stadt westlich von Bozeman, genau in der Mitte vom Nirgendwo. Wunderschönes Land, aber isoliert. Sogar noch mehr als Bozeman. Zum Teufel mit seinen vierzigtausend Einwohnern war Bozeman im Vergleich dazu New York City. Der Colonel schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts dagegen, sie zu essen, aber ich brauche nicht mehrere Tausend von ihnen als Haustiere.“
Ich verdrehte die Augen. Darauf gab es wirklich nichts zu erwidern.
„Ging direkt nach der High-School zur Armee“, fuhr er fort. „Hat zwei Einsätze im Nahen Osten mitgemacht. Kam gesund zurück und ist jetzt Feuerwehrmann.“
Die gesamte Lebensgeschichte des Mannes in vier Sätzen. Ich hätte eine Frau darum bitten sollen, mir die pikanten Details zu beschaffen. Ich atmete scharf ein – so wie es eine Person tun würde, wenn sie eine Biene auf ihrer Nase vorfände – als mir bewusstwurde, dass ich nicht einmal wusste, ob Ty verheiratet war. Es war unmöglich, sich daran zu erinnern, ob er einen Ring am Finger gehabt hatte. Ich war zu sehr von seinen breiten Schultern und blauen Augen geblendet gewesen. Ich brauchte die Informationen von einer Frau. Zuerst, Ehering. Dann aktuelle Freundin, schlimme Beziehungen, auf welcher Seite des Bettes er schlief. Das wichtige Zeug eben. Kelly. Ich musste sie später anrufen. Meine beste Freundin hatte den schnellsten Zugang zu Informationen, den ich bekommen konnte. Wegen ihrer sieben Kinder, die involviert waren in Schule, Schwimmunterricht, Fußballtraining, Kieferorthopäde und weiß der Himmel was sonst noch, begegnete sie jeder Person in der Stadt, die mir nicht über den Weg lief.