Kapitel 1

3159 Words
1 HARPER „Das schuldest du mir“, schnauzte Cam. Die Stimme meines Bruders zu hören, ließ mich erschaudern. Galle stieg in meiner Kehle hoch. Er hatte vor zwei Wochen angefangen, mich anzurufen und an seine bevorstehende Entlassung zu erinnern. Ich hatte keine Erinnerung gebraucht. Das Datum war mir ins Gedächtnis gebrannt und jedes Mal, wenn ich in den Kalender schaute, sah ich, dass es näher rückte. Ich schuldete es ihm? Ich schuldete ihm Geld für das, was er getan hatte? Meine Hände zitterten, während ich mir das Handy ans Ohr hielt. Es überraschte mich nicht, dass er mich gefunden hatte. Erneut. Obwohl ich mir eine neue Handynummer zugelegt hatte. Es war dumm von mir gewesen, zu denken, dass ich ihn mir damit vom Hals halten könnte. „Wofür?“, fragte ich mit schriller Stimme. Ich bemühte mich, ruhig zu klingen, weil es ihm stets einen Kick gab, wenn er mich aus der Fassung brachte. Er würde das ausnutzen, ausschlachten und mich damit quälen, obwohl er hinter Gittern saß. „All das Geld, das du hast, hast du nur wegen mir.“ Ich tigerte zu den Fenstern, die die geschäftige Straße überblickten. Ich war gerade erst in das Apartment gezogen, weshalb mir nur die schlichten weißen Jalousien Privatsphäre boten, aber ich hatte sie hochgezogen, um die schwache Dezembersonne hereinzulassen. Da die Dunkelheit schnell hereinbrach und ich wusste, dass Cam dort draußen war, wenn auch im Gefängnis, zupfte ich an der Kordel und ließ eine Jalousie runter. Dann die nächste und die nächste entlang der Wand, bis ich nicht mehr raussehen konnte, bis ich mich in einem kleinen Kokon befand, in dem mich nichts erreichen konnte. Ja, klar. Ich schlang meinen Arm um meine Taille, da mir plötzlich kalt war. Ich allein war. „Du hast mich zwei Gangstern übergeben im Austausch für die Auslöschung deiner Spielschulden“, entgegnete ich und fuhr mit einer Hand über mein Gesicht, dann durch meine Haare. Ich hatte sie heute Morgen für die Arbeit zu einem einigermaßen kunstvollen Dutt nach hinten frisiert, aber mit einem Wisch meiner Hand hatte ich alles verstrubbelt. Ich wollte nicht erneut auf den Tisch bringen, was er getan hatte, denn er war sich dessen nur allzu bewusst, aber er war der Meinung, es spiele keine Rolle. Ängstlich wirbelte ich auf dem Absatz herum und machte mich daran, einen Umzugskarton zu öffnen, der auf meinem Schreibtisch stand. Eine Pflanze balancierte gefährlich auf einem Stapel Büroartikel und ich stellte sie mit einem harten Knall auf die blanke Oberfläche. Sie brauchte Wasser, nachdem sie dort über eine Woche vernachlässigt worden war. „Yeah, und dir ist nichts passiert abgesehen davon, dass du einen Haufen von Mommys und Daddys Kohle einkassiert hast.“ Nichts passiert? Ich zog das Handy von meinem Ohr und starrte es an. Meine Handflächen schwitzten und ein dumpfer Schmerz zog in meinem Hinterkopf ein. „Sie griffen mich in einem Aufzug an.“ „Sie vergewaltigten dich nicht oder so etwas.“ Vergewaltigung war sein Richtwert dafür, ob etwas passierte, und das machte mich krank. Alles an Cameron machte mich krank. Als mein älterer Bruder sollte er eigentlich mein Beschützer sein und auf Dinge wie übergriffige Freunde ein Auge haben. Er war ein kleines Arsch, vielleicht seit er zwei Jahre und in der Trotzphase gewesen war, aus der er nie herausgewachsen war. Wir hatten als Kinder kein einziges Mal zusammen gespielt, waren nicht einmal auf die gleiche Privatschule gegangen. Wir hatten nie bei Videospielen oder während Stunden, in denen wir bei einem Roadtrip auf dem Rücksitz eines Kombis gesessen hatten, ein geschwisterliches Band geschmiedet. Stattdessen betrachtete er mich eher wie eine Sache. Eine Sache, die er zwei Männern gegeben hatte. Ich war ihnen körperlich unversehrt entkommen, aber sie waren nie geschnappt worden. Der Fall war noch immer offen und sie waren noch immer dort draußen. Mein Bruder rückte ihre Namen nicht raus, da er wusste, dass er so gut wie tot wäre, würde er petzen. Ich hätte Cam ebenfalls für seine Beteiligung verhaften lassen sollen, doch nein. Meine Eltern hatten nur an Cam und ihren Ruf gedacht – was seine von Drogen angetriebenen Angewohnheiten nur ermöglicht hatte. Sie hatten mich gezwungen, über die ganze „schwesterliche Verkaufsaktion“ Stillschweigen zu bewahren, und ich hatte nun einen gigantischen Betrag Schweigegeld auf meinem Bankkonto als zusätzlichen Anreiz. Zum damaligen Zeitpunkt war ich zu traumatisiert gewesen, um mich gegen sie zur Wehr zu setzen. Ich hätte Cam der Polizei ausgeliefert, als ich endlich aufgehört hatte, ständig Alpträume zu haben, und keine Angst mehr gehabt hatte, nach draußen zu gehen. Doch er war so dumm gewesen, sich einige Wochen später als nicht vorbestrafter Drogentäter erwischen zu lassen, und war ohnehin im Gefängnis gelandet. Auf sein eigenes Tun hin. Dagegen hatten die gute alte Mom und Dad nichts unternehmen können. „Lass mich in Ruhe“, sagte ich mit flacher Stimme. Seine bevorstehende Entlassung war der Grund dafür, dass ich umgezogen war. Erneut. Er hatte gewusst, wo ich gewohnt hatte, und da er bald rauskommen würde, hatte ich mich nicht mehr sicher gefühlt. Schon bald wäre er in der Lage, mit irgendjemandem bei mir aufzukreuzen. Jederzeit. Nein, dieses Apartment war sicherer als mein altes Haus, das näher am Campus lag. Ich sah mich um. Ein modernes, hochwertiges Gebäude. Drei Stockwerke, nur drei Apartments mit vielen Sicherheitsvorkehrungen. Es wohnte nicht nur mein Vermieter, Grayson Green – einer der berühmtesten und erfolgreichsten MMA-Kämpfer – im obersten Stock, sondern noch ein anderer Mann, den er trainierte, lebte in der Einheit, die meiner im ersten Stock gegenüber lag. Im Erdgeschoss befand sich ein komplettes Fitnessstudio voller Kerle, die nicht zögern würden, einen Schwinger für mich abzufangen. Zumindest hatte mir das meine Freundin Emory erzählt. Ich hatte in derselben Straße gewohnt wie sie, bevor sie bei Gray, ihrem Verlobten, eingezogen war. „Dich in Ruhe lassen? Schick mir das Geld und ich werde genau das tun“, blaffte Cam. „Und Harper –“ „Fick dich.“ Ich beendete den Anruf und warf mein Handy auf das Sofa, da ich nichts mehr von ihm hören wollte. Er hatte fast zwei Jahre damit verbracht, sich darauf vorzubereiten, mich erneut zu zerstören. Jetzt, da sein Entlassungstag in naher Zukunft lag, wusste ich, dass die Telefonanrufe nur der Anfang waren. Selbst nachdem ich meine Nummer geändert hatte, hatte er mich noch gefunden. Ich tigerte durch den Raum, vor und zurück, schlängelte mich um die Kartons und wahllos abgestellten Möbelstücke, die die Umzugshelfer kreuz und quer deponiert hatten. Das Apartment verfügte über ein offen gestaltetes Interieur. Es bestand aus einem großen Zimmer abgesehen von einer Gästetoilette, dem Schlaf- sowie Badezimmer. Die Decken waren hoch, die Fenster groß und reichten von einer Wand zur anderen. Es war modern mit einer Menge Edelstahlgeräten in der Küche, aber es war warm. Sicher. Ich war vor einer Woche eingezogen und hatte mich noch nicht eingerichtet. Ich hatte nur mein Bett aufgebaut, meine Kleider ins Schlafzimmer geworfen und die Kaffeemaschine hervorgekramt. Zum Teufel, aufgrund des verdammten Anrufs musste ich mich ernsthaft fragen, wie lange ich hierbleiben könnte. Meinen Eltern war ich seit dem Vorfall problemlos aus dem Weg gegangen, aber wir bewegten uns auch nicht in den gleichen sozialen Kreisen. Ich verbrachte keine Zeit im Country Club. Ich war für sie zu akademisch, zu pedantisch in meinem Studiengebiet. Anstatt Anwältin zu werden, hatte ich die ganze Lane Familientradition gebrochen und war Professorin geworden. Für sie war das, trotz meines Doktortitels, bloß ein kleines bisschen besser als eine Verkäuferin. Wenn Cam rauskam, würde er dann an meine Tür hämmern und mich belästigen? Oder schlimmer, auf der Straße? Auf dem Campus? Konnte ich überhaupt in Brant Valley bleiben? Anstatt mich in diesem großartigen Apartment einzurichten, fragte ich mich, wie lange ich in der Stadt leben würde können. Zum Teufel, im Staat. Der Anruf war Teil von Cams Plan, mir zuzusetzen. Eine Aufwärmübung. Ich wusste das, aber ich kam nicht umhin, deswegen durchzudrehen. Die Pflanze war in meiner Hand und unter dem Wasserhahn des Spülbeckens, ehe ich realisierte, was ich da tat. Ich erinnerte mich nicht einmal daran, dass ich sie in die Hand genommen hatte und in die Küche gelaufen war. Ich schloss die Augen, atmete. Ich wollte Mommys und Daddys Geld nicht. Ich wollte meine Eltern genauso wenig wie meinen Bruder in meinem Leben haben, weshalb ich das Geld auf die Bank gebracht hatte, wo es niemand anrühren konnte. Meine Eltern konnten es nicht zurückverlangen und Cam konnte es nicht erreichen. Sie hatten ihren Sohn mit seinen grausamen und gefährlichen Taten ihrer eigenen Tochter vorgezogen. Und ihr Geld? Ich würde alles davon hergeben, um Cam dauerhaft aus meinem Leben zu entfernen, aber ich würde nicht nachgeben. Ich würde ihm das Schweigegeld nicht geben. Und es war Schweigegeld. Niemand durfte wissen, dass Cameron Lane der Dritte ein Suchtproblem hatte und seine eigene Schwester im Austausch für die Tilgung all seiner Schulden an Drogendealer übergeben hatte. Derartiges passierte im Country Club nicht und es passierte ganz gewiss nicht meinen Eltern. Aber es war mir passiert. Da ich bemerkte, dass ich die Pflanze ertränkte, schaltete ich das Wasser aus und stieß mich vom Spülbecken ab. Schloss meine Augen und stöhnte laut. Frust ging in Wellen von mir ab. Ich war weit darüber hinaus, ins Bett zu steigen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Über Tränen hinaus. Es waren einfach keine mehr übrig. Ich hatte vor zwei Jahren zu weinen aufgehört. Ich ging ins Schlafzimmer, trat die Heels von meinen Füßen, zog meinen Rock und Bluse aus und wühlte meine Sportklamotten aus dem Haufen in der Ecke. Normalerweise wartete ich bis später am Abend mit meinem Workout, da ich zuerst aß, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, aber ich musste diese ruhelose Energie verbrennen. Ich musste mir diese Beklemmung von der Seele rennen. Nach dem Vorfall hatte ich mit dem Joggen angefangen, weil meine Therapeutin gesagt hatte, dass Sport wie ein Ablassventil an einem Dampfkochtopf funktioniere. Es hatte mir nicht gefallen, mit einem Küchengerät verglichen zu werden, aber ich hatte das Bild nachvollziehen können. Ich war bereit gewesen, zu explodieren, und das Joggen hatte geholfen. Zunächst war ich nicht weit gekommen, war mehr gelaufen als alles andere, aber jetzt, jetzt konnte ich stundenlang joggen, vor allem wenn ich aufgebracht war. Nachdem ich mir einen Haargummi auf das Handgelenk geschoben hatte, suchte ich meine Laufschuhe neben der Tür, setzte mich auf den Holzboden, zog einen an und band die Schnürsenkel mit einer extra Portion Elan. Ich war in Sicherheit. Das wusste ich. Cameron war noch immer im Gefängnis. Die Männer, die mich angegriffen hatten, hätten mich schon längst wieder geschnappt, hätten sie mich noch immer gewollt. So wie ich das sah und was auch die Polizei vermutete, war es wahrscheinlicher, dass sie Cam wollten. Wenn das stimmte, konnten sie ihn gerne haben. Ich konnte mir nur vorstellen, wie sehr es ihm gefallen würde, von ihnen angegriffen zu werden. Mein Apartment war sicher. Gray hatte mir das persönlich versichert. Schlüsselkarten waren für den Aufzug und die Notfalltreppe nötig und nur die vier Anwohner besaßen diese. Gray mochte es, wenn alles sicher war. Er wusste zwar, wie man kämpft, und kämpfte selbst sehr gut, aber er zog es vor, seine Fäuste nur im Ring einzusetzen. Das waren seine Worte gewesen, als er mir meine Schlüsselkarte überreicht hatte, was beruhigend gewesen war. Außerdem würde er Emorys Sicherheit um nichts in der Welt aufs Spiel setzen. Ich hatte einige Häuser entfernt von ihr gewohnt, wo wir drei Jahre lang Nachbarinnen gewesen waren, während ich Kurse gegeben und meine Dissertation für meinen Doktortitel beendet hatte. Nach dem Vorfall hatte ich mich nie wieder richtig sicher gefühlt. Emory hatte an mich gedacht, als sie von dem leerstehenden Apartment erfahren hatte, und sie hatte mir versichert, dass es sicher sei. Ich war in Sicherheit. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich nicht gereizt war und keine Alpträume davon haben würde, was in dem Aufzug geschehen war. Wieder. Camerons wenige Anrufe lösten sie stets von neuem aus. Die Angst kehrte stets zurück. Wie jetzt, als ich laufen wollte, bis meine Beine nachgaben, bis ich hoffentlich zu erschöpft zum Träumen war. Da ich mit meinen Schuhen fertig war, stand ich auf, schnappte mir die Autoschlüssel sowie die Schlüsselkarte für das Gebäude und ging zu einem der Kartonstapel. Einige mussten für meinen Kurs über mittelalterliche Kunst im nächsten Semester in mein Büro geschafft werden, weshalb ich meine Beklemmung dazu nutzen würde, sie für morgen zu meinem Auto zu schleppen. Ich stapelte drei identische Kartons, die schwer mit Büchern beladen waren, auf der Sackkarre. Die Karre hinter mir herziehend, trat ich auf den Gang und schloss mein Apartment ab. Blickte sehnsüchtig zu der Tür zum Treppenabgang. Ich hasste Aufzüge. Nach dem, was passiert war, hatte ich sechs Monate gebraucht, bis ich wieder in einem hatte fahren können. Jetzt benutzte ich sie, aber nur mit anderen Leuten, mit Leuten, denen ich vertraute. Oder an sicheren Orten. Wie diesem, den ich mir nur mit drei anderen Leuten teilte. Es bestand keine Chance, dass ich mit den Kartons die Treppe hinabkäme und ich würde nicht dreimal hin und herlaufen. Die Sackkarre hinter mir herziehend, holte ich tief Luft und drückte auf den Knopf zum Erdgeschoss. Dennoch graute es mir davor, in den Aufzug zu steigen, als die Tür aufglitt. Ich dachte an die zwei Männer, die zu beiden Seiten von mir gewesen waren. Einer hatte sich umgedreht, um mich gegen die Wand zu pressen, und seine Hände hatten mich begrapscht. Der andere hatte zugesehen und gelacht. Ich schob die Erinnerungen von mir, trat hinein und drückte auf den Knopf zum Erdgeschoss. Zwang die Übelkeit nieder. Ich musste mich abregen. Entspannen. Cam vergessen. Was er getan hatte. Was er jetzt wollte. Ich würde meine Wut auf dem Laufband in Grays Fitnessstudio verbrennen, da es so früh dunkel wurde. Ich joggte abends nicht allein draußen. Nicht zu dieser Jahreszeit. Sport half immer. Ich konnte das tun, ich konnte über Cams Anruf hinwegkommen, die widerlichen Gedanken an diese Männer und daran, dass mich einer festgehalten hatte, während mir der andere das Shirt aufgerissen hatte. Dass ich um mich getreten und mich gewehrt hatte, eine Nase gebrochen hatte. Das Blut. Die Panik. Das hemmende Verlangen, dass sich die Türen öffnen mögen, damit ich fliehen konnte. Der Sturz auf den Marmorboden vor der Reihe an Aufzügen. Der Schrei nach der Security. Ich erinnerte mich an das Gefühl ihrer groben Hände. Hörte ihre Stimmen, die mir erzählten, was sie mit mir tun würden. Roch ihr widerlich süßliches Gesichtswasser, die billigen Zigaretten. Die Aufzugtüren glitten auf. Ich machte einen Schritt und mir gefror der Atem in den Lungen, als ich ihn sah. Ihn. Groß. Breit. Tätowiert. Kräftige Muskeln. Kantiger Kiefer. Wütende Augen. Er strahlte eine greifbare Energie aus. Er sah gemein aus. Böse. Gnadenlos. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er trat auf mich zu, dann erstarrte er, als er mich sah. Daraufhin veränderte sich sein Blick, der Zorn verschwand. Dennoch jagte er mir eine Heidenangst ein. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde mir wehtun. Nein. Dieser Mann hatte nicht vor, mich in ein Hotelzimmer zu schleifen und zu vergewaltigen. Er… versuchte, nach oben zu gelangen. Ich wusste das. Mein Gehirn verarbeitete, dass er in dem Gebäude wohnte, oder zumindest eine Schlüsselkarte hatte, um den Aufzug zu rufen. Doch nein. Das spielte keine Rolle. Renn! Renn! waren meine einzigen Gedanken. Nein. Ich konnte nicht wie eine komplette Irre aussehen, konnte der Angst nicht erlauben, mich zu beherrschen. Ich atmete tief durch und murmelte: „Entschuldigen Sie bitte.“ Er trat zurück, die Hände vor seiner Brust erhoben, und ich zog die Sackkarre mit den Kartons in den Lobbybereich. Ich hörte, wie sich die Aufzugtüren schlossen, spürte wie das heftige Gefühl der Panik allmählich verebbte. Ich stoppte direkt vor den Außentüren und starrte durch das Glas nach draußen. Auf nichts. Atmete. Versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Cam hatte mir das angetan. Hatte mich zu einem bebenden Häufchen Elend gemacht, das vor allem Angst hatte. Sogar meinem Nachbarn. Natürlich war der finster aussehende Mann mein Nachbar. Ich hatte Gray und Emory kennengelernt. Sie hatten mir erzählt, dass Grays Kämpfer, Reed, in dem anderen Apartment auf meinem Stockwerk lebte, aber ich war ihm noch nicht begegnet. Ich war bisher zweimal im Fitnessstudio gewesen – Gray bot die Mitgliedschaft mit der Miete an – und hatte einige der Kämpfer gesehen, die im Ring trainiert hatten, während ich auf dem Laufband gejoggt war, aber ich hatte nicht gewusst, welcher er war. Die Anzahl der fitten Männer, die zuschlugen, traten und sich auf dem Boden herumrollten in dem Versuch, einander zu würgen, war so hoch, dass die Eierstöcke einer Frau aufmerkten und Notiz nahmen. Ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt, dass verschwitzte Männer so erregend sein konnten. Aber keiner von ihnen konnte mit Reed mithalten. Selbst in meiner Panik hatte ich mich zu ihm hingezogen gefühlt. Vielleicht war ich gerade deswegen so sehr in Panik geraten. In diesem Bruchteil einer Sekunde sollte ich keinen Mann begehren, der mir Schaden zufügen könnte. Wenn ich die Schichten der Panik abblätterte, erinnerte ich mich an seine Größe. Er war mindestens einen halben Kopf größer als ich. Rabenschwarze Haare, die superkurz geschnitten worden waren, als hätte er selbst den Rasierer benutzt, anstatt zu einem Friseur zu gehen. Seine Haut war olivenfarben und die Ansätze eines Bartes ließen seinen kantigen Kiefer leicht wild aussehen. Dann waren da noch die Tattoos. Wirbel aus Farbe und Formen, die seine Arme hinaufkrochen, und ich hegte keinerlei Zweifel daran, dass sie auch unter seinem Shirt versteckt waren. Sein allgemeines Erscheinungsbild sagte klar und deutlich Bad Boy. Seine dunklen Augen hatten sich bei meinem Anblick vor Überraschung geweitet und waren dann noch eine Spur größer geworden, vermutlich weil ich ihn entsetzt angestarrt hatte. Mit seiner Nase, die einen Knick hatte, und den fleckigen roten Malen auf seinem linken Wangenknochen hatte er ausgesehen, als wäre er in alte und neue Kämpfe verstrickt gewesen. Ein enges weißes T-Shirt hatte wegen des Schweißes an seiner Haut geklebt und der Kragen war leicht ausgeleiert gewesen, als wäre einige Male daran gerissen worden, und eine schwarze, kurze Sporthose hatte tief auf seinen Hüften gesessen. Er war ein Kämpfer, kein Vergewaltiger. Ich drückte die Außentür mit mehr Aggression als nötig auf und zerrte an der Sackkarre, ehe ich sie zum Kofferraum meines Autos zog. Zweifelsohne hielt mich Reed für verrückt. Zumindest würde er denken, ich hätte Todesangst vor ihm. Mein Herz hämmerte noch immer wie wild. Meine Kehle brannte wegen des Verlangens, zu weinen, aber da waren keine Tränen. Cam hatte mir das angetan. Selbst nach zwei Jahren, selbst aus einer Gefängniszelle heraus hatte er noch so viel Macht über mich. Zerstörte mich nach wie vor. Meine Arbeit, mein Leben, meine Beziehungen. Wenn er rauskam… Während ich die Kartons in den Kofferraum stopfte, fragte ich mich, ob ich jemals frei sein würde. Und ein Mann wie Reed? Ich war keine Dame in Nöten, die es wert war, gerettet zu werden.
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