KAPITEL FÜNF

1675 Words
KAPITEL FÜNF Sam hatte Mühe, mit Polly Schritt zu halten. Sie redete so schnell und schien nie eine Pause zu machen, raste von einem Gedanken zum nächsten. Er war immer noch durcheinander von der Zeitreise, von diesem neuen Ort—er musste es alles erst verarbeiten. Doch sie waren schon fast eine halbe Stunde unterwegs, er über Zweige stolpernd, während er ihr in ihrem zügigen Tempo durch den Wald folgte, und sie hatte noch nicht zu reden aufgehört. Er hatte kaum geschafft, selbst zu Wort zu kommen. Sie sprach immerzu von „dem Palast“ und „dem Hof“ und von ihren Clansmitgliedern und einem anstehenden Konzert, und einem Mann namens Aiden. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, oder warum sie nach ihm gesucht hatte—oder gar, wohin sie ihn führte. Er war fest entschlossen, Antworten zu bekommen. „...natürlich ist es genau gesagt keine Tanzveranstaltung“, sagte Polly gerade, „aber trotzdem, es wird eine großartige Veranstaltung werden—aber ich bin nicht ganz sicher, was ich tragen werde. Es gibt so viel Auswahl, nicht genug für eine förmliche Veranstaltung wie diese—“ „Bitte!“, sagte Sam endlich, während sie fröhlich durch den Wald hüpfte, „ich unterbreche nur ungern, aber ich habe Fragen an dich. Bitte. Ich brauche Antworten.“ Endlich hörte sie zu reden auf, und er atmete erleichtert auf. Sie sah ihn mit so etwas wie Verwunderung an, als hätte sie überhaupt nicht mitbekommen, dass sie die ganze Zeit über geredet hatte. „Du brauchst nur fragen!“, sagte sie fröhlich. Und dann, bevor er noch reagieren konnte, fügte sie ungeduldig hinzu, „Also? Was gibt es?“ „Du sagtest, du wurdest nach mir geschickt“, sagte Sam. „Von wem?“ „Das ist einfach“, sagte sie. „Aiden.“ „Wer ist das?“, fragte Sam. Sie kicherte, „Du liebe Zeit, du hast wohl noch viel zu lernen, nicht wahr? Er ist nur schon seit tausenden Jahren der Mentor unseres Clans. Ich bin nicht sicher, warum er an dir interessiert ist, oder warum er mich an einem so schönen Tag den ganzen Weg durch den Wald schickt, um dich zu holen. Wie ich es sehe, hättest du den Weg auch selbst finden können, schlussendlich jedenfalls. Nicht zu vergessen, dass ich heute tausend Dinge zu tun gehabt hätte, inklusive dieses neuen Kleids, und—“ „Bitte“, sagte Sam und versuchte, seine Gedanken festzuhalten, bevor sie sich wieder verflüchtigten. „Ich schätze es wirklich sehr, dass du mich abgeholt hast und alles, und ich will nicht respektlos erscheinen“, sagte er, „aber wo auch immer du mich hinbringst, ich habe nicht wirklich Zeit dafür. Siehst du, ich bin aus einem Grund hierher gekommen, an diesen Ort in dieser Zeit. Ich muss meiner Schwester helfen. Ich muss sie finden—und ich habe keine Zeit für Abstecher.“ „Nun, ich würde das wohl kaum einen Abstecher nennen“, sagte Polly. „Aiden ist der einflussreichste Mann am ganzen Hof. Wenn er Interesse an dir hat, ist das nicht etwas, das man verwirft“, sagte sie. „Und wer auch immer es ist, den du finden willst, wenn dir irgendwer den Weg weisen kann, dann wäre er das.“ „Und wohin gehen wir dann jetzt genau? Und wie weit ist es noch?“ Sie machte mehrere weitere Schritte durch den Wald, und er beeilte sich, ihr nachzukommen und fragte sich, ob sie je antworten würde, ihm je geradeheraus eine Antwort geben würde—als sich in dem Moment der Wald plötzlich lichtete. Sie hielt an und er blieb neben ihr stehen, in Ehrfurcht erstarrt. Vor ihm lag ein immenses offenes Feld, das in der Ferne zu einer makellosen Gartenanlage führte, in deren Rasen kunstvolle Formen in allen Größen geschnitten worden waren. Es war wunderschön, wie ein lebendiges Kunstwerk. Noch atemberaubender war, was direkt hinter den Gärten lag. Es war ein Palast, prächtiger als jedes Bauwerk, das Sam in seinem Leben gesehen hatte. Das gesamte Gebäude war aus Marmor gebaut, und es erstreckte sich so weit das Auge reichte in alle Richtungen. Es war eine klassische Anlage mit dutzenden übergroßen Fenstern und einer breiten Marmortreppe, die zum Eingang hochführte. Er wusste, dass er irgendwo Bilder von diesem Bauwerk gesehen hatte, doch er konnte sich nicht erinnern, was es war. „Versailles“, sagte Polly zur Antwort, als würde sie seine Gedanken lesen. Er sah sie an, und sie lächelte zurück. „Hier leben wir. Du bist in Frankreich. Im Jahr 1789. Und ich bin sicher, dass Aiden erlauben wird, dass du dich zu uns gesellst, vorausgesetzt, Marie gestattet es.“ Sam blickte sie verwirrt an. „Marie?“, fragte er. Sie lächelte breiter und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich ab und hüpfte über das Feld auf den Palast zu. Dabei rief sie ihm über die Schulter hinweg zu. „Na Marie Antoinette natürlich!“ * Sam schritt an Pollys Seite die endlose Marmortreppe hoch, auf die Tore des Palasts zu. Unterwegs nahm er seine Umgebung in sich auf. Die Ausmaße und die Proportionen dieses Ortes waren gewaltig. Überall um ihn herum spazierten Leute durch die Anlage, die wohl Adelige sein mussten, in die feinsten Gewandungen gehüllt, die er je gesehen hatte. Er konnte diesen Ort nicht fassen. Wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er träumte, hätte er es geglaubt. Er war noch nie zuvor in der Gegenwart von Adel gewesen. Polly hatte nicht zu reden aufgehört, und er zwang sich dazu, sich wieder auf ihre Worte zu konzentrieren. Er mochte ihre Gegenwart und genoss ihre Gesellschaft, selbst wenn es wirklich schwierig war, ihr gegenüber aufmerksam zu bleiben. Er fand sie auch sehr hübsch. Aber sie hatte etwas an sich, das ihn unsicher machte, ob er sich wirklich zu ihr hingezogen fühlte, oder sie nur als Freund gern hatte. Mit seinen bisherigen Freundinnen war es l**t auf den ersten Blick gewesen. Bei Polly war es eher eine Art Kameradschaft. „Verstehst du, die königliche Familie lebt hier“, sagte Polly, „aber wir wohnen auch hier. Sie möchten das so, dass wir hier sind. Immerhin sind wir der beste Schutz, den sie haben. Wir leben zusammen in etwas, das du wohl freundschaftliche Harmonie nennen könntest. Es dient beiden Seiten. Mit diesem riesigen Wald haben wir unbegrenzte Jagdgründe, einen tollen Wohnort und tolle Gesellschaft. Und im Gegenzug helfen wir, die königliche Familie zu beschützen. Nicht zu vergessen, dass einige von ihnen sowieso von unserer Art sind.“ Sam blickte sie überrascht an. „Marie Antoinette?“, fragte er. Polly nickte leicht, als würde sie es geheim halten wollen, aber es nicht schaffen. „Aber verrate es niemandem“, sagte sie. „Es gibt auch noch ein paar andere. Aber die meisten Königlichen sind Menschen. Sie wollen zu uns gehören. Aber hier herrschen strikte Regeln, und es ist nicht erlaubt. Sie sind da und wir sind hier, und es ist uns nicht gestattet, diese Grenze zu überschreiten. Es gibt gewisse Mitglieder der königlichen Familie, von denen wir nicht wollen, dass sie zu viel Macht bekommen. Und auch Marie besteht darauf. Jedenfalls ist das hier einfach ein so fabelhafter Ort. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals enden sollte. Es gibt ein Fest nach dem anderen, endlose Tänze, Bälle, Konzerte... diese Woche findet das allertollste davon statt. Eine Oper, genauergesagt. Ich habe mir schon ausgesucht, was ich tragen werde.“ Als sie den Türen näherkamen, huschten mehrere Diener hervor, um sie zu öffnen. Die goldenen Türen waren riesig, und Sam blickte sie ehrfürchtig an, während er hindurchschritt. Polly marschierte geradewegs einen riesigen Marmorkorridor hinunter, als würde er ihr gehören, und Sam eilte ihr nach. Unterwegs blickte sich Sam überall um, die Opulenz bestaunend. Sie liefen endlose Marmorkorridore entlang, mit enormen Kristallleuchtern, die tief herunterhingen und das Licht aus dutzenden goldgerahmten Spiegeln zurückwarfen. Die Sonne schien herein und reflektierte das Licht in alle Richtungen. Sie durchschritten eine Tür nach der anderen und betraten schließlich einen riesigen Salon, aus Marmor gebaut und von Säulen eingefasst. Mehrere Wachen standen stramm, als Polly eintrat. Polly kicherte nur, anscheinend gegen sie immun. „Wir können hier auch trainieren“, sagte sie. „Ihre Ausstattung ist bestens. Aiden hat einen strengen Zeitplan für uns. Ich war überrascht, dass ich überhaupt eine Pause bekommen habe, um dich abzuholen. Du musst ganz schön wichtig sein.“ „Also wo ist er?“, fragte Sam. „Wann kann ich ihn sprechen?“ „Na du bist aber ungeduldig. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Es kann gut sein, dass er dich eine Weile lang nicht treffen möchte. Oder er lässt dich sofort zu sich rufen. Keine Sorge, du wirst schon wissen, wann er dich sprechen will. Lass ihm Zeit. In der Zwischenzeit soll ich dir dein Zimmer zeigen.“ „Mein Zimmer?“, fragte Sam überrascht. „Warte mal eine Sekunde. Ich habe nicht gesagt, dass ich hier bleiben kann. Wie schon gesagt, ich muss wirklich meine Schwester finden“, fing Sam an, zu protestieren—doch in dem Moment öffnete sich ein riesiges Paar Flügeltüren vor ihnen. Ein Gefolge von Adeligen trat plötzlich herein, eine Frau in der Mitte umringend, die sie auf einem königlichen Thron hereintrugen. Sie setzten sie ab, und Polly verbeugte sich tief und bedeutete Sam, es ihr gleichzutun. Er tat es. Eine Frau, bei der es sich nur um Marie Antoinette handeln konnte, stieg langsam herunter, machte einige Schritte auf sie zu und blieb direkt vor Sam stehen und deutete ihm, sich zu erheben. Er tat es. Sie blickte an Sam hoch und runter, als wäre er ein interessanter Gegenstand. „Du bist also der neue Junge“, sagte sie ausdruckslos. Ihre grünen Augen brannten mit einer Intensität, die er noch nie gesehen hatte, und er konnte in der Tat spüren, dass sie eine von ihnen war. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, nickte sie. „Interessant.“ Mit diesen Worten schritt sie geradewegs an ihnen vorbei, rasch gefolgt von ihrer Gefolgschaft. Doch eine Person blieb zurück, eindeutig eine der Adeligen. Sie wirkte wie etwa 17 und war von Kopf bis Fuß in eine königsblaue Samtrobe gehüllt. Sie hatte die hellste Haut, die Sam je gesehen hatte, und dazu lange blonde Locken und stechende meeresblaue Augen. Sie richtete ihren Blick direkt auf Sam und fing seinen Blick ein. Er fühlte sich unter ihrem Blick hilflos, nicht in der Lage, woanders hinzusehen. Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Nach mehreren Sekunden trat sie einen Schritt nach vorne und starrte ihm noch näher in die Augen. Sie streckte die Hand aus, Handfläche nach unten, eindeutig erwartend, dass er sie küsste. Sie bewegte sich bedächtig, stolz. Sam nahm ihre Hand und war elektrisiert von der Berührung ihrer Haut. Er zog ihre Fingerspitzen heran und küsste sie. „Polly?“, fragte das Mädchen. „Willst du uns einander nicht vorstellen?“ Es war keine Frage. Es war ein Befehl. Polly räusperte sich widerwillig. „Kendra, Sam“, sagte sie. „Sam, Kendra.“ Kendra, dachte Sam, starrte ihr in die Augen und war verblüfft darüber, mit welcher Aggressivität sie zurückstarrte; als wäre er jetzt schon ihr Besitztum. „Sam“, wiederholte sie lächelnd. „Ein wenig schlicht. Aber mir gefällt es.“
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