2. Kapitel-2

2188 Words
»Ich weiß«, antwortete Caitlin verwirrt. »Caitlin!«, stieß Luisa plötzlich hervor und packte sie am Arm. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Susan hat letzte Woche von Sam gesprochen. Sie sagte, er wäre bei den Colemans. Tut mir leid, ich habe mich gerade erst wieder daran erinnert. Vielleicht hilft dir das weiter.« Die Colemans. Natürlich. Da muss er sein. Hektisch fuhr Luisa fort: »Wir treffen uns übrigens heute Abend alle im Franks. Du musst unbedingt auch kommen! Wir vermissen dich. Und bring Caleb mit. Es wird eine tolle Party. Die halbe Klasse wir da sein. Du musst einfach kommen.« »Na ja ... Ich weiß nicht ...« Es läutete zur nächsten Stunde. »Ich muss los. Ich bin so froh, dass du wieder da bist! Ich hab dich lieb. Ruf mich an. Ciao!«, rief Luisa, winkte Caleb zu und eilte davon. Caitlin stellte sich vor, wie es wäre, ihr normales Leben wieder aufzunehmen. Sie würde mit ihren Freunden abhängen, auf Partys gehen, eine normale Schule besuchen und ihren Abschluss machen. Der Gedanke gefiel ihr. Für einen Moment versuchte sie, die Ereignisse der vergangenen Woche zu verdrängen und so zu tun, als wäre nie etwas Schlimmes geschehen. Aber dann fiel ihr Blick auf Caleb, und die Realität holte sie ein. Ihr ganzes Leben hatte sich verändert. Für immer. Die Veränderungen waren nicht rückgängig zu machen. Diese Tatsache musste sie einfach akzeptieren. Ganz abgesehen davon, dass sie jemanden umgebracht hatte und von der Polizei gesucht wurde. Und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie irgendwo gefasst würde. Und dass ein ganzer Clan Vampire sie umbringen wollte. Und dass dieses Schwert, nach dem sie suchten, das Leben vieler Menschen retten könnte. Ihr Leben war ganz klar nicht mehr so, wie es einmal gewesen war, und es würde auch nie wieder so sein. Es war an der Zeit, sich der Realität stellen. Caitlin legte Caleb die Hand auf den Arm und führte ihn zum Ausgang. Die Colemans. Sie wusste, wo sie wohnten. Es leuchtete ihr ein, dass Sam sich dort eingenistet hatte. Wenn er nicht in der Schule war, musste er bei den Colemans sein. Sie würden als Nächstes dort nach ihm suchen. Als sie in die frische Luft hinauskamen, wunderte sie sich, wie gut es sich anfühlte, die Highschool zu verlassen – diesmal endgültig. * * * Caitlin und Caleb überquerten das Grundstück der Colemans. Der Schnee auf dem Rasen knirschte unter ihren Füßen. Das Haus machte nicht viel her, es war ein bescheidener Hof an der Landstraße. Aber ein gutes Stück dahinter an der Grundstücksgrenze gab es eine Scheune. Caitlin entdeckte eine Reihe heruntergekommener Pick-ups, die planlos auf der Wiese abgestellt worden waren. Jede Menge Fußspuren im Schnee zeigten ihr, dass viele Leute zur Scheune gegangen waren. Das war es, was die Kids in Oakville taten – sie hingen in Scheunen ab. Oakville war ebenso ländlich wie spießig, und die Hütten und Scheunen verschaffte ihnen die Möglichkeit, sich außerhalb der Elternhäuser zu treffen. Es war viel besser, als in einem Keller abzuhängen. Die Eltern hörten nichts. Und die Kids hatten einen eigenen Eingang – und einen eigenen Ausgang. Caitlin atmete tief durch, als sie zur Scheune gingen und das schwere Holztor aufschoben. Sofort stieg ihr der Geruch in die Nase. m*******a. Der Qualm hing überall in der Luft. Außerdem stank es nach abgestandenem Bier. Viel zu viel davon. Was sie jedoch am deutlichsten wahrnahm, mehr als alles andere, war der Geruch eines Tieres. Ihre Sinne waren noch nie so geschärft gewesen. Der Schreck über die Anwesenheit eines Tieres durchfuhr sie heftig. In ihrer Nase stach es, als hätte sie gerade Ammoniak geschnüffelt. Sie blickte nach rechts. Dort in der Ecke lag ein großer Rottweiler. Langsam setzte er sich auf, starrte sie an und fletschte die Zähne. Er stieß ein leises, kehliges Knurren aus. Es war Butch. Caitlin erinnerte sich an ihn. Er war der fiese Rottweiler der Familie Coleman. Als bräuchten die Colemans auch noch ein bösartiges Tier, um ihren schlechten Ruf zu untermauern! Die Colemans waren immer schon Unruhestifter gewesen. Es gab drei Brüder im Alter von siebzehn, fünfzehn und dreizehn, und Sam hatte sich irgendwann mit dem mittleren Bruder Gabe angefreundet. Einer war schlimmer als der andere. Ihr Dad hatte die Familie schon vor langer Zeit verlassen – niemand wusste, wo er steckte – und ihre Mom war nie da. Die Jungen wuchsen im Grunde alleine auf. Trotz ihres jugendlichen Alters waren sie ständig betrunken oder bekifft und glänzten in der Schule meistens durch Abwesenheit. Caitlin war verärgert, weil Sam mit ihnen abhing. Das konnte nur zu Problemen führen. Im Hintergrund spielte Musik. Pink Floyd, Wish You Were Here. Das passt, dachte Caitlin. In der Scheune wirkte es dunkel, umso mehr, weil der heutige Tag so strahlend war. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um sich anzupassen. Da war er. Sam. Er saß mitten auf diesem verschlissenen Sofa, umgeben von rund einem Dutzend Jungs. Links von ihm saß Gabe, rechts Brock. Sam beugte sich gerade über eine Wasserpfeife. Er inhalierte, setzte die Pfeife ab und lehnte sich zurück. Es dauerte lange, bis er schließlich ausatmete, zu lange. Gabe stieß ihn an, und Sam sah auf. Völlig zugedröhnt starrte er Caitlin an. Seine Augen waren blutunterlaufen. Ein scharfer Schmerz durchfuhr Caitlin. Sie war mehr als enttäuscht. Sie fühlte sich schuldig, wenn sie daran dachte, wie sie sich in New York gestritten hatten. Ihre Worte waren sehr harsch gewesen. »Dann geh doch!«, hatte sie geschrien. Warum hatte sie so hart sein müssen? Nur zu gerne hätte sie ihre Worte zurückgenommen. Jetzt war es zu spät. Wenn sie andere Worte gewählt hätte, wäre nun vielleicht alles anders. Eine Welle des Zorns schlug über ihr zusammen. Sie war wütend auf die Colemans und auf die Kids in dieser Scheune, die auf Stühlen, Heuballen und verschlissenen Sofas herumlungerten, tranken, rauchten und nichts aus ihrem Leben machten. Es stand ihnen frei, nichts aus ihrem Leben zu machen. Aber sie hatten nicht das Recht, Sam mit hineinzuziehen. Er war besser als sie. Ihm hatte einfach der Halt gefehlt. In seinem Leben gab es keine Vaterfigur, und ihre Mutter war nie liebevoll mit ihren Kindern umgegangen. Er war ein großartiger Junge, und sie wusste, dass er unter den Besten in seiner Klasse wäre, wenn er nur ein halbwegs stabiles Zuhause gehabt hätte. Aber irgendwann war es zu spät gewesen. Inzwischen war er völlig abgestumpft. Sie ging einige Schritte auf ihn zu. »Sam?« Er starrte sie nur wortlos an. Es war schwierig zu erkennen, was in diesem Blick lag. Waren es die Drogen? Tat er so, als wäre ihm alles gleichgültig? Oder war ihm tatsächlich alles gleichgültig? Dieser teilnahmslose Blick schmerzte sie mehr als alles andere. Sie hatte gehofft, er würde sich freuen und sie in den Arm nehmen. Aber mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie schien ihm egal zu sein. Als wäre sie eine Fremde. Wollte er einfach nur vor seinen Freunden cool erscheinen? Oder hatte sie es diesmal endgültig vermasselt? Einige Sekunden vergingen, bis er schließlich wegsah und die Wasserpfeife an einen Freund weiterreichte. Seine Schwester ignorierte er. »Sam!«, rief sie, diesmal deutlich lauter. Ihr Gesicht war gerötet vor Ärger. »Ich rede mit dir!« Sie hörte seine Loser-Freunde kichern, und heiße Wut stieg in ihr auf. Sie fühlte noch etwas anderes, einen animalischen Instinkt. Die Wut erreichte ein Level, das fast nicht mehr zu kontrollieren war, und sie hatte Angst, gleich zu explodieren. Ihr Zorn war nicht mehr menschlich – er war animalisch. Diese Typen waren groß und kräftig, aber sie wusste, dass sie mit jedem von ihnen im Handumdrehen fertigwerden würde. Hoffentlich schaffte sie es, sich zu beherrschen – es fiel ihr schwer. Der Rottweiler knurrte inzwischen lauter und kam langsam auf sie zu. Es war, als würde er etwas wittern. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Caleb. Er war noch da. Er musste ihre Erregung gespürt haben, sein Instinkt hatte es ihm sicher gesagt. Er versuchte, sie zu beruhigen, damit sie nicht die Kontrolle über sich verlor. Seine Gegenwart besänftigte sie. Aber es war nicht leicht. Schließlich drehte Sam sich um und sah sie an. In seinem Blick lag Trotz. Er war immer noch böse auf sie, das war offensichtlich. »Was willst du?«, fragte er knapp. »Warum bist du nicht in der Schule?«, hörte sie sich sagen. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn ausgerechnet das fragte, wo ihr doch so viele andere Fragen auf der Seele brannten. Es musste eine Art Mutterinstinkt sein. Die Jungs kicherten. Ihre Wut wurde wieder stärker. »Was geht dich das an?«, fragte Sam. »Du hast mir gesagt, ich soll gehen.« »Es tut mir leid«, erwiderte sie. »Das war nicht so gemeint.« Sie war froh, eine Chance zu haben, das loszuwerden. Aber ihre Entschuldigung zeigte offensichtlich keine Wirkung. Er starrte sie weiterhin an. »Sam, ich muss mit dir reden. Unter vier Augen«, sagte sie. Sie wollte ihn aus diesem Umfeld herausholen, mit ihm an die frische Luft gehen, wo sie sich richtig unterhalten konnten. Sie wollte nicht nur etwas über ihren Dad erfahren, sondern auch einfach mit ihm reden, wie früher. Und sie wollte ihn vorsichtig über den Tod ihrer Mom informieren. Aber dazu würde es nicht kommen. Die Energie in dieser vollen Scheune war einfach zu düster, zu gewaltträchtig. Sie spürte, wie sie allmählich die Kontrolle verlor. Trotz Calebs Hand bekam sie sich nicht mehr in den Griff. »Ich bleibe hier«, sagte Sam. Seine Freunde kicherten erneut. »Warum entspannst du dich nicht?«, sagte einer der Typen zu Caitlin. »Du bist so nervös. Komm, setz dich. Nimm einen Zug.« Er hielt ihr die Wasserpfeife hin. Sie starrte ihn an. »Warum steckst du dir das Teil nicht sonst wohin?«, sagte sie zähneknirschend. Die Kids riefen durcheinander. Der Typ, der ihr die Wasserpfeife angeboten hatte, war groß und muskulös. Sie erinnerte sich, dass man ihn aus dem Football-Team geworfen hatte. Jetzt lief er rot an. »Was hast du gesagt, du Schlampe?«, fragte er und stand auf. Er war viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, fast zwei Meter. Calebs Griff an ihrer Schulter verstärkte sich. Sie wusste nicht, ob er sie ermahnen wollte, ruhig zu bleiben, oder ob er selbst auch angespannt war. Die Anspannung im Raum stieg dramatisch. Der Rottweiler schlich näher. Er war jetzt nur noch wenige Schritte entfernt und knurrte wie verrückt. »Jimbo, entspann dich«, sagte Sam zu dem großen Typen. Sams Beschützerinstinkt war wieder erwacht. Egal, was geschah, er wollte sie beschützen. »Sie kann richtig nervig sein, aber sie hat es nicht so gemeint. Sie ist immer noch meine Schwester. Komm wieder runter.« »Ich habe es genau so gemeint«, schrie Caitlin wutentbrannt. »Ihr haltet euch wohl für besonders cool, was? Ihr seid ein Haufen Loser, ihr werdet nie etwas erreichen. Wenn ihr eurer eigenes Leben vermasseln wollt, nur zu, aber zieht Sam nicht mit hinein!« Jimbo sah noch wütender aus als Caitlin, falls das überhaupt möglich war. Drohend kam er auf sie zu. »Sieh mal einer an, Fräulein Lehrerin. Spielt hier die besorgte Mommy und will uns sagen, was wir zu tun haben!« Alle lachten. »Warum zeigt ihr es uns nicht, du und dein schwuchteliger Freund?« Jimbo trat noch näher und versetzte Caitlin mit seiner Riesenpranke einen Stoß gegen die Schulter. Das war ein großer Fehler. Die Wut in Caitlin explodierte und war nicht mehr zu kontrollieren. In dem Moment, als Jimbo sie berührte, schoss ihre Hand mit Lichtgeschwindigkeit in die Höhe und verdrehte ihm die Hand. Ein lautes Knacken war zu hören, als sie ihm das Handgelenk brach. Dann zog sie seinen Arm hinter seinen Rücken und schubste ihn mit dem Gesicht voran auf den Boden. In weniger als einer Sekunde lag er hilflos auf dem Bauch. Sie stellte ihm einen Fuß in den Nacken. Voller Schmerz schrie Jimbo auf. »Mein Gott, mein Handgelenk, mein Handgelenk! Dieses verdammte Biest hat mir den Arm gebrochen!« Sam war wie alle anderen schockiert aufgesprungen. Er wirkte verstört. Er hatte keine Ahnung, wie seine kleine Schwester einen so großen Typen derart schnell hatte zu Fall bringen können. »Entschuldige dich«, fauchte Caitlin Jimbo an. Der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie. Sie klang kehlig, wie die Stimme eines Tieres. »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid!«, wimmerte Jim. Caitlin hätte es gerne dabei belassen, aber ein Teil von ihr ließ es nicht zu. Die Wut war zu plötzlich und zu heftig über sie gekommen. Sie konnte einfach nicht aufhören. Der Zorn hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Sie wollte diesen Jungen umbringen. Es war absolut unvernünftig, aber sie wollte es trotzdem. »Caitlin!?«, schrie Sam. Sie hörte die Furcht in seiner Stimme »Bitte!« Aber Caitlin konnte nicht anders, sie würde diesen Typen töten. In dem Moment hörte sie ein wütendes Knurren und sah aus dem Augenwinkel den Hund. Er setzte zum Sprung an, und seine Zähne zielten direkt auf ihre Kehle. Caitlin reagierte sofort. Sie ließ Jimbo los und hielt den Hund mit einer einzigen Bewegung mitten in der Luft auf. Sie fasste ihn unter dem Bauch und schleuderte ihn von sich. Er flog mehrere Meter quer durch den Raum und durchbrach die Holzwand der Scheune. Das Holz zersplitterte und der Hund segelte jaulend durch das Loch. Alle starrten Caitlin an. Sie konnten nicht begreifen, was sie gerade miterlebt hatten. Caitlins Kraft und Geschwindigkeit waren eindeutig übermenschlich gewesen, es gab keinerlei Erklärung dafür. Die Anwesenden blickten sie mit offenem Mund an. Caitlin wurde von einer Woge der Gefühle überflutet. Ärger. Traurigkeit. Sie wusste nicht, was sie fühlte, und vertraute sich selbst nicht mehr. Sie konnte nicht sprechen, sie musste hier raus. Sam würde nicht mitkommen, das war ihr inzwischen klar. Er war ein anderer Mensch geworden. Sie ebenfalls.
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