KAPITEL EINS

2944 Words
KAPITEL EINS Keira erwachte auf Bryns unbequemer Couch mit einem schmerzenden Nacken und eiskalten Füßen. Die Temperaturen in New York fielen immer tiefer, der Herbst lag bereits in der Luft. Und trotz der unbequemen Couch und der Kälte, war Keira allerbester Laune beim Erwachen. Heute, am 22. Oktober, würde Keira in die Redaktion des Viatorum-Magazins zurückkehren, aber zu einem besseren Job, mit erheblich mehr Geld. Sie freute sich darauf, Nina wiederzusehen, ihre Freundin und Lektorin im Verlag. Noch mehr freute sie sich darauf, endlich wieder zu schreiben, denn das war ihre große Leidenschaft. Zwar wusste sie noch nicht, worin ihr nächster Auftrag bestehen würde, aber sie ging davon aus, dass er nicht halb so aufregend sein würde, wie der letzte, der sie für einen ganzen Monat nach Irland geführt hatte. Elliot würde ihr bestimmt etwas weniger Umfangreiches geben, aber das war okay für sie. Sie hatte bisher nämlich kaum Zeit gefunden, sich in New York wieder einzuleben und mit ihren Freunden und mit ihrer Mutter auf den neuesten Stand zu kommen. Außerdem würde Shane in einer Woche zu Besuch kommen und darüber freute sich Keira weit mehr als über eine exklusive Story. Ihre ältere Schwester Bryn kam ins Wohnzimmer geeilt, die Haare wild auf dem Kopf, auf einem Bein hüpfend, weil der zweite Schuh fehlte. „Ich bin spät dran“, stammelte Bryn. „Warum hast du mich nicht geweckt?“ Keira sah auf die Uhr. „Weil es erst sieben ist. Du hast noch eine Stunde Zeit.“ Sie lachte über ihre zerstreute Schwester. Bryn hielt inne und starrte angestrengt auf die Uhr. „Oh, stimmt.“ Sie zog sich den einen Schuh wieder aus und setzte sich zu Keira auf die Couch. „Ich war fest davon überzeugt, ich käme mit dem Leben besser klar, wenn ich erst einmal dreißig bin.“ Keira grinste. „Wohl kaum.“ Beide Swanson-Schwestern hatten es wahrlich nicht eilig, erwachsen zu werden. Bryn beugte sich zu ihr und stupste sie in die Seite. „Also, der erste Tag zurück auf der Arbeit nach der Pause. Wie fühlst du dich?“ „Sehr gut. Es wird sicher eine völlig andere Stimmung herrschen ohne Joshua, der allen bloß die Laune verdirbt. Vor allem freue ich mich darauf, Nina wiederzusehen. Und natürlich bin ich sehr neugierig, was Elliot als nächstes für mich geplant hat.“ „Wird das wieder eine Reise nach Übersee?“, fragte Bryn. „Das möchte ich bezweifeln. Andererseits hätte ich gegen viel Sonne nichts einzuwenden.“ Keira lachte und blickte aus dem Fenster in die trüben Wolken. New York im Oktober. „Und ein eigenes Bett“, scherzte Bryn und klopfte auf das Polster der Couch. „Ach ja, das. Also, du weißt, dass ich hier nicht ewig pennen will. Es dauert nur einfach länger als ich gedacht hatte, eine passende Wohnung zu finden. Und ich brauche den Abschlag zurück, den ich für die Wohnung mit Zach hinterlegt hatte, ohne den geht es nicht. Du weißt ja, wie zögerlich er ist.“ „Kein Problem“, sagte Bryn und winkte ab. „Bleib so lange es nötig ist. Aber erspare mir jeglichen Kommentar über die Männer, die ich mit nach Hause bringe.“ Sie schaute Keira finster an. „Mir sind deine vorwurfsvollen Blicke nicht entgangen.“ Keira lachte. „Ich meine eben, dass du mit diesen ätzenden Typen deine Zeit verschwendest, einfach nur deshalb, weil du nicht glauben willst, dass du wunderschön bist.“ Bryn rollte mit den Augen. „Das reicht jetzt. Also, wieso denkst du, dass du nicht wieder nach Übersee geschickt wirst?“ „Keine Ahnung.“ Keira zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich, weil es den anderen Autoren gegenüber nicht fair wäre. Es sähe nach Bevorzugung aus.“ „Vergiss nicht, dass du auf der Karriereleiter nach oben geklettert bist. Bevorzugung klingt nach Schule. Aber hier geht es ums Geschäft. Wenn du besser bist als die anderen, dann bist du eben besser. Nimm es einfach hin.“ Keira teilte die Zuversicht ihrer Schwester nicht. Sie wand sich ein wenig voller Unbehagen. „Nun, selbst wenn es so ein Auftrag wäre, könnte ich die Reise gar nicht antreten.“ Sie dachte an Shane und lächelte verträumt. „Ich habe ja Pläne hier.“ „Ach ja.“ Bryn schmunzelte. „Der Freund. Wann wird er ankommen?“ Keira rief sich Shanes wunderbares Gesicht in Erinnerung, mit dem Drei-Tage-Bart auf dem energischen Kinn und diesen wundervollen irischen blauen Augen. Zahllose Erinnerungen strömten auf sie ein, von dem Monat, in dem sie sich ineinander verliebt hatten. „In einer Woche“, sagte sie, noch immer verträumt. Sie dachte an das Gefühl seiner Lippen auf ihren, die Berührung seiner Finger auf ihrer Haut. „Das erinnert mich daran, dass ich ihn anrufen sollte.“ In Irland, wo Shane lebte, war es gleich schon Mitternacht. Es blieb ihr also nicht mehr viel Zeit, mit ihm zu sprechen, bevor er ins Bett ging. Dann würde sie eine Ewigkeit von acht Stunden ohne ihn ertragen müssen, weil er dann schlief. Keine Nachrichten, keine spöttischen SMS oder witzige Kommentare. Diese acht Stunden waren schier unerträglich, so sehr sehnte sie sich nach ihm. „Rufst du ihn jeden Morgen an?“, fragte Bryn erstaunt. Keira entging der verächtliche Unterton in der Stimme ihrer Schwester nicht. Sie war überzeugte Single-Frau mit ständig wechselnden Verabredungen. Das machte sie misstrauisch allen Menschen gegenüber, die behaupteten, sie hätten die wahre Liebe gefunden. „Jap. Da schnarchst du meistens noch, daher ist dir das bisher nicht aufgefallen.“ „Ich finde das irgendwie ungesund. Du bist jetzt schon viel zu abhängig von ihm.“ Keira rollte mit den Augen und stand auf. Bryn war eine absolute Besserwisserin und gleichzeitig ein wahrlich schlechtes Vorbild. Wenn sie es doch nur sehen könnte, was sie und Shane verband, dann würde sie das nicht mehr so vorschnell verurteilen. Keira nahm ihr Handy mit ins Bad, denn nur da war sie ungestört. Bryns Wohnung war ansonsten sehr hellhörig. Sie wählte Shanes Nummer. Sofort war ihr Körper von Erregung erfüllt, während sie dem Freizeichen lauschte und sich darauf freute, Shanes wunderbare Stimme wieder zu hören. Sie konnte es kaum erwarten, ihm alles zu erzählen, was sie für seinen Besuch geplant hatte. New Yorks Sehenswürdigkeiten, von der Fressmeile über Spaziergänge am Fluss entlang, die Museen, die Parks und jede Menge Kunstgalerien. Sie hatte einen sehr engen Zeitplan erstellt und sie wusste, dass Shane sich darauf freute, sich alles von ihr zeigen zu lassen. Endlich nahm Shane am anderen Ende ab. Aber anstatt seine übliche fröhliche Stimme zu hören, klang er irgendwie angespannt. Normalerweise begrüßte er sie mit irgendeinem albernen Spitznamen, aber heute nannte er sie einfach bei ihrem Namen. „Keira, hey“, sagte er müde, als habe er einen furchtbar schlechten Tag gehabt. Keiras Hochgefühl fiel umgehend in sich zusammen. Im Hintergrund hörte sie Geräusche, Gespräche, klingelnde Telefone. „Was ist passiert?“, fragte sie und spürte Panik in sich aufkommen. „Wo bist du?“ „Im Krankenhaus.“ „Oh mein Gott! Warum?“ Keiras Herz raste, sie malte sich sofort die schlimmsten Szenarien aus. „Bist du verletzt? Oder krank?“ „Nein, es geht nicht um mich“, sagte Shane. „Mir geht es gut. Es ist mein Vater.“ Keira erinnerte sich gut an Calum Lawder. Er war einer der nettesten, süßesten Menschen, die sie je die Ehre hatte kennengelernt zu haben. Der Gedanke, dass es ihm schlecht gehen könnte, war niederschmetternd. „Geht es ihm gut? Was ist denn mit ihm?“ Shane seufzte schwer. „Jetzt geht es ihm wieder besser. Er ist operiert worden.“ Keira lief es eiskalt den Rücken herunter. „Operiert?“ „Ich bin schon den ganzen Tag in der Notaufnahme. Er hatte einen Herzinfarkt. Sie mussten ihm einen Stent setzen. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Wenn nicht zufällig heute Morgen ein Herzchirurg hier gewesen wäre, dann hätte er es nicht mehr geschafft.“ „Oh, Shane, das tut mir ja so leid.“ Keira spürte einen Kloß im Hals. Sie wünschte, sie könnte durch das Telefon hindurch greifen und Shane in den Arm nehmen, um ihn zu trösten. „Wie geht es deiner Mutter und deinen Schwestern?“ „Uns geht es allen gut. Wir stehen alle noch unter Schock, um ehrlich zu sein. Vor allem Hannah.“ Keira dachte an Shanes kleine Schwester, das 16-jährige Mädchen mit den goldenen Haaren. Sie hatte sich besonders gut mit ihr verstanden. „Armes Kind“, sagte sie. Auf einmal erschien es ihr ein unpassender Zeitpunkt, um über seine Reise nach New York zu reden. Alles, was sie sich an aufregenden Dingen vorgenommen hatten, war jetzt nicht wichtig, angesichts dessen, was Shane gerade durchmachte. „Wie geht es Calum denn jetzt?“ „Er ist wach und albert herum. Aber ich sehe doch, dass er nur so tut, als sei alles halb so schlimm, damit wir uns keine Sorgen machen.“ „Es tut mir so leid, Liebling. Ich wäre so gern bei dir, um dir beizustehen. Aber ich hebe mir all die Umarmungen für nächste Woche auf, wenn du herkommst.“ Am anderen Ende der Leitung schwieg Shane. Keira konnte nichts hören außer die klingelnden Telefone des Krankenhauses, das Piepen von Maschinen und von fern das Heulen von Sirenen, eben die übliche Geräuschkulisse eines Krankenhauses. „Klingt ziemlich chaotisch im Hintergrund“, sagte sie, als Shane weiterhin schwieg. „Keira“, fiel er ihr schließlich ins Wort. Die Art, wie er ihren Namen sagte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte die vage Vorahnung, dass Shane keine guten Neuigkeiten haben würde. „Was?“, fragte sie und klang schon vorauseilend unglücklich. „Ich werde die Reise absagen“, meinte Shane. Keira konnte hören, dass ihn das auch ziemlich mitnahm. „Wirklich?“ Ihre eigene Stimme war voller Schmerz. „Es tut mir leid. Aber ich muss jetzt hier sein. Für meine Mutter und die Mädchen. Sie sind alle ganz aufgelöst. Ich käme mir wie ein Schuft vor, wenn ich nach New York abrausche und sie damit allein lasse.“ „Aber es ist noch eine Woche bis dahin“, widersprach Keira. „Vielleicht hat sich die Lage bis dahin entspannt? Calum wird wieder auf die Beine kommen. Und solange wärst du ja nicht weg. Nur eine Woche. Es ist ja nicht so, als würdest du einen ganzen Monat hier verbringen. Ein paar Tage werden sie sicher ohne dich zurechtkommen. Ich meine, sie kommen ja auch ohne dich aus, wenn du beim jährlichen Festival der Liebe in Lisdoonvarna arbeitest.“ Sie konnte nicht aufhören zu reden und klang schon ziemlich verzweifelt. Aber sie hatte sich so darauf gefreut, Shane wiederzusehen. Sie wollte ihm ihre Welt zeigen, so wie er ihr seine gezeigt hatte. Das Warten fiel ihr schwer, die Trennung war hart. Ganz abgesehen von den teuren Flugtickets, die sie gekauft hatte, den Veranstaltungen, die sie im Voraus gebucht hatte, die man zwar absagen konnte, aber das Geld nicht zurückbekam. Sie hätte den Bonus, den Elliot ihr gezahlt hatte, besser in eine neue Wohnung investiert, anstatt sich auf Bryns Couch den Rücken zu ruinieren. Konnte sie es sich überhaupt leisten, die Reise umzubuchen? Shane hatte nicht viel Geld und konnte nichts dazu beisteuern. „Mein Vater wäre fast gestorben, Keira“, sagte Shane ganz direkt. „Das ist nicht dasselbe, wie ein Monat weg von zu Hause wegen des Festivals.“ „Das weiß ich doch“, gab sie schnell nach. „Ich wollte mich nicht selbstsüchtig anhören. Du fehlst mir einfach so sehr.“ „Du fehlst mir auch“, antwortete Shane und seufzte schwer. Keira fühlte sich hundeelend. Aber sie wollte sich nicht so runterziehen lassen, denn es war ja nicht einmal ihr Angehöriger da in der Notaufnahme. Sie entschied sich, munterer zu erscheinen als sie sich fühlte. „Ich schätze, da ist dann nichts zu machen“, sagte sie ruhig. „Lass uns lieber einen neuen Termin überlegen, damit die Tickets nicht komplett verfallen. Dann kann ich wenigstens wieder anfangen, die Tage zu zählen.“ Sie kicherte und bemühte sich, so zu tun, als wäre alles halb so schlimm. Wieder antwortete Shane nicht. Keira hörte nur eine Krankenschwester, die irgendjemanden zu Dialyse geleitete. „Shane?“ Sie hatte genug von der andauernden Stille. Endlich antwortete er. „Ich glaube nicht, dass ich einen neuen Termin ausmachen kann“, sagte er. „Wegen deines Vaters? Shane, es wird ihm bald wieder besser gehen. Dann kümmert er sich wieder um die Farm. Ich wette, spätestens im November ist alles wieder wie vorher. Oder wir können auch bis Dezember warten, wenn dir das lieber ist. Das gibt ihm reichlich Zeit, sich gut zu erholen.“ „Keira“, unterbrach Shane. Sie klappte den Mund zu. Sie musste sich zwingen, den Wortfluss zu beenden, der unweigerlich kommen würde, weil sie nicht hören wollte, was er ohne Frage gleich sagen würde. „Ich werde nicht kommen“, sagte er. „Überhaupt nicht.“ Keiras Hände begannen zu zittern. Das Telefon fühlte sich kalt an in ihrer Hand, sie hatte das Gefühl, es entgleite ihr. „Dann komme ich nach Irland“, sagte sie schwach. „Es macht mir nichts aus zu reisen, wenn du gerade nicht kannst. Ich liebe Irland. Ich kann dich besuchen kommen.“ „Das ist nicht, was ich meinte.“ Keira wusste, was er gemeint hatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Sie wollte nicht, dass Shane gleich beim ersten Hindernis die Flinte ins Korn warf. Ihre Liebe war stärker als das, wichtiger. Etwas ganz Besonderes. Sie musste ihn einfach überzeugen, auch wenn das bedeutete, sich verzweifelt anzuhören oder, wie Bryn gesagt hatte, sich zu sehr von ihm abhängig zu machen. Sie hörte, wie Shane tief durchatmete. „Ich werde auf der Farm gebraucht. Irland ist meine Heimat. Ich kann nirgendwo anders leben.“ „Niemand hat davon gesprochen, dass du umziehen sollst.“ „Aber das kommt sicher bald. Wenn unsere Beziehung dauerhaft Bestand haben soll, werden wir im selben Land leben müssen. Ich kann nicht zu dir ziehen. Und du würdest nicht hierher ziehen.“ „Ich könnte sehr wohl“, stammelte Keira. „Ganz bestimmt. Irgendwann.“ Sie dachte an das wunderschöne Land, in das sie sich verliebt hatte. Bestimmt konnte sie da leben, wenn es bedeutete, mit Shane zusammen zu sein. „Auf der Farm?“ „Sicher.“ Das niedliche Farmhaus mit der wunderbaren Familie und all der Liebe hatte ihr sehr gefallen. Ihre eigene Familie war nur in Teilen vorhanden. Bryn war ständig beschäftigt, ihre Mutter lebte weit entfernt, ihr Vater spielte in ihrem Leben nicht die geringste Rolle. Wie sollte ihr die Familie, die Shane mitbrachte, nicht gefallen? „Mit meiner Familie? Meinen Schwestern? Meinen Eltern?“, fragte Shane. „Und mit all den Schafen?“ Keira erinnerte sich, dass sie knietief in Schafmist gestanden hatte. Sie dachte an seine sechs Schwestern, die alle sehr nett waren, aber auch alle noch zu Hause lebten. Es wäre ziemlich eng. Nicht gerade das Leben, dass sie sich für sich vorgestellt hatte. Aber auf Bryns Couch zu schlafen, war auch nicht Teil ihrer Träume gewesen. Wenn sie es fertigbrachte mit ihrer eigenen Schwester zusammen zu wohnen, dann sicherlich erst recht mit Shanes sechs Schwestern. Und gehörte es nicht zum Leben dazu, dass man Hindernisse überwand? Sollte man nicht alles mal mitgemacht haben? „Shane“, sagte Keira, bemüht, ruhig zu klingen. „Wir müssen das doch nicht hier und heute klären. Das Leben ändert sich. Wer weiß, eines Tages heiraten alle deine Schwestern und ziehen aus. Deine Eltern entscheiden sich vielleicht, die Farm zu verkaufen und mit einer Jacht um die Welt zu segeln. Du kannst die Zukunft nicht vorhersehen, also macht es auch keinen Sinn, sich heute schon darüber zu sorgen.“ „Bitte hör mir zu“, bat Shane. Er klang sehr mitgenommen. „Ich versuche es jetzt schon zu beenden, weil es später nur noch viel schmerzhafter würde.“ Das Wort 'beenden' hallte in Keiras Kopf wider, wie ein Hammer auf Stahl. Sie stöhnte auf. Der dicke Kloß im Hals wurde noch dicker. Ihr wurde da zum ersten Mal bewusst, dass Shane sich schon entschieden hatte. Er würde nicht nachgeben. Was auch immer sie sagte, es würde nichts ändern. „Tu das nicht“, sagte sie. Auf einmal kamen ihr die Tränen. Sie schluchzte laut und unkontrolliert, als ihr wirklich bewusst wurde, dass Shane nicht nachgeben würde. Er trennte sich gerade von ihr. Der Eine. Die Liebe ihres Lebens. „Es tut mir leid“, sagte er und weinte ebenfalls. „Ich muss es tun. Bitte versteh das. Gäbe es diesen Ozean nicht zwischen uns, würde ich immer mit dir zusammen sein wollen, ich würde dich sogar heiraten wollen.“ „Sag das nicht!“, heulte Keira. „Du machst es doch nur noch schlimmer.“ Shane atmete laut aus. „Ich möchte aber, dass du weißt, wieviel du mir bedeutest, Keira. Du sollst nicht denken, ich hätte einfach nur kalte Füße gekriegt oder so etwas. Wären wir nicht in dieser Situation, sähe es alles ganz anders aus. Ich möchte das eigentlich nicht tun müssen. Nicht im Geringsten. Verstehst du das?“ „Ja“, antwortete Keira. Noch immer rannen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie verstand es laut und deutlich. Der Mann ihrer Träume, der Mann, der sie liebte und sie zum Lachen brachte, gab sie einfach auf, weil die Lage etwas kompliziert war. Der Mann, in den sie sich in einem einzigen Monat unsterblich verliebt hatte, gab einfach an der ersten Hürde auf. Er würde keine Arbeit in ihre Beziehung investieren. Diese Gedanken kreisten in ihrem Kopf. „Ich nehme an, dann heißt es jetzt lebe wohl?“, fragte sie kühl. Shane musste ihren neuen Tonfall bemerkt haben. „Sei doch nicht so. Wir können in Kontakt bleiben. Wir können Freunde sein. Es gibt das Internet. Ich will dich nicht komplett aus meinem Leben herausschneiden.“ „Natürlich.“ Keira wurde das Herz schwer. Sie wusste, dass aus einstigen Liebesbeziehungen niemals platonische Freundschaften wurden, egal, wie sehr man sich bemühte. So lief das einfach nicht. Sobald es mit der Liebe aus war, war es vorbei, zumindest nach Keiras Erfahrung. „Bist du sauer auf mich?“, fragte Shane. Er klang klein und zerbrechlich. „Nein“, sagte Keira und es stimmte sogar. Shanes Gründe, es zu beenden, waren anständig. Er stellte seine Familie an die erste Stelle. Das war genau die Art von Partner, die sie sich wünschte, es wäre also ziemlich unfair, ihm das jetzt vorzuwerfen. „Ich denke, du solltest zu deiner Familie zurückkehren. Nimm sie einmal für mich in den Arm, okay?“ „Mache ich“, versprach Shane. Keira war sich nicht ganz sicher, aber er schien zu ahnen, dass er nie wieder mit ihr reden würde. Er war sehr niedergeschlagen. Es entstand eine lange Pause. „Leb wohl, Keira“, sagte Shane schließlich. Bevor sie antworten konnte, hatte er aufgelegt. Sie nahm das Handy vom Ohr und starrte darauf. Wie konnte so ein kleines Stück Technik ihre ganze Welt zum Einstürzen bringen? Wie konnte ein einziges Gespräche alles auf den Kopf stellen? Sie hatte das Gefühl, jedes Fünkchen Glück, das sie je empfunden hatte, sei vom Handy eingesaugt und in eine schwarze Leere gespuckt worden, auf Nimmerwiedersehen. Und sie konnte nicht einmal richtig wütend sein. Shane war kein Widerling, wie all die anderen Typen, mit denen sie Schluss gemacht hatte. Er hatte sie nicht betrogen, nicht belogen, es gab kein Geschrei, kein absichtliches Wehtun. Vielleicht tat es deshalb nur noch mehr weh. Vielleicht, weil sie sich von dem Gedanken hatte einlullen lassen, dass Shane der Eine war, dass es überhaupt den Einen geben könnte. Noch immer weinte sie, verließ aber das Bad und warf ihr Handy auf die Couch. Bryn stand an der Küchentheke und machte Kaffee. Sie sah überrascht auf. „Was ist los? Weinst du etwa?“ Keira ignorierte die Fragen und nahm ihren Terminkalender zur Hand. All die eingetragenen Termine mit Shane, die unauslöschliche Erinnerungen hätten werden sollen - sie riss die Seiten einfach heraus.
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