Kapitel 1-2

1435 Words
Marissa Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht vergessen. Bilder. Geräusche. Das Blut auf diesen Böden. Die Schüsse. Wie mein Herz stehenblieb, als Junior Tacone seine Waffe auf mich gerichtet und entschieden hat, ob ich leben oder sterben soll. Ich hasse diese Tageszeit, in der die Kunden rar werden und das Geschäft abebbt, sodass ich Zeit habe, mich zu erinnern. Sechs Monate sind vergangen, seit sich die Russen und die sizilianische Mafia im Caffè Milano ein blutiges Duell geliefert haben, und ich bin immer noch verdammt schreckhaft. Ich nehme immer noch jeden neuen Kunden unter die Lupe und bete, dass er nicht der Russenmafia angehört und hier ist, um Rache zu üben. Oder um herauszukriegen, wie man die Tacones findet. Aber sie sind nicht gekommen. Niemand ist gekommen außer den Tacones mit ihren Handwerkern und einer Wiedergutmachung, die gereicht hat, um unsere gesamte Küche zu modernisieren. Was verdammt nötig war, denn unser Kühlraum war fast hinfällig und dieses Lokal war nicht mehr renoviert worden, seit meine Großeltern es in den Sechzigern eröffnet hatten. Ich hole eine Schüssel Nudelsalat aus der Kühltheke und stelle sie über Nacht in den Kühlraum. Als ich zurückkehre, erstarre ich. Zuerst glaube ich, dass es Junior Tacone ist, der da vor meiner Theke steht. Der Mann, der in meinem Lokal zum Killer geworden ist und sechs Typen abgeknallt hat. Der Mann, der angeblich dieses Viertel beschützt. Aber es nicht Junior. Es ist Gio Tacone, derjenige, der sich draußen auf dem Bürgersteig eine Kugel eingefangen hatte. Von dem ich dachte, er sei tot. „Mister Tacone!“ Ich verfluche mich, weil ich so nervös klinge. „Gio“, berichtigt er mich. „Marissa. Wie gehts?“ Er kennt meinen Namen! Das ist mehr, als ich von Junior, dem derzeitigen Familienoberhaupt, behaupten kann. Und ich wünschte, dass es mich nicht so hibbelig machen würde, das tut es aber. Gio stützt einen Unterarm auf den Tresen und fängt mich mit seinem hellbraunen Blick ein. Er ist ein echtes Prachtexemplar von einem Mann. Mit dieser markant guten Optik hätte er mühelos Schauspieler oder Model werden können, und er hat auch noch das Temperament dazu. „Du lebst noch“, platzt es aus mir heraus. Ich habe nie erfahren, ob er überlebt hat. Nach der Schießerei habe ich Zeitungen durchforstet und seinen Namen gegoogelt, nirgendwo war von seinem Tod die Rede, aber ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Kugel ihn erwischt hatte. „Ich meine, du hast es geschafft. Wie schön.“ Dann erröte ich; wahrscheinlich sollte ich besser nicht darüber reden, obwohl wir beide alleine im Café sind. Gio packt mein Handgelenk und hält meine Hand fest. Meine Finger zittern. „Warum zitterst du, Kleines? Fürchtest du dich vor mir?“ Ob ich mich vor ihm fürchte? Ja. Auf jeden Fall. Aber ich bin auch aufgeregt. Er ist der einzige Tacone-Bruder, den ich gerne hier sehe. Schon immer – selbst, als ich hier mit zehn Jahren die Tische abwischte, während die Mafiamänner ihre Treffen abhielten. „Nein!“ Ich reiße meine Hand los. „Ich bin nur nervös. Du weißt schon, seit … dem Zwischenfall. Und du hast mich erschreckt.“ Sein Blick ist bohrend; als ob er wüsste, dass noch mehr dahintersteckt und er der Sache auf den Grund gehen will. Ich spüre einen seltsamen Wandel in meiner Brust. Ich klemme mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr, um mein wachsendes Unbehagen zu verschleiern. „Hast du Albträume?“, errät er, als ob er Gedankenlesen kann. Ich nicke. Dann fällt mir ein, woher er das wohl weiß. „Du auch?“ Ich erwarte nicht, dass er es zugibt. Ich komme aus einer italienischen Familie. Ich weiß, dass die Männer keine Schwäche zeigen. Deswegen bin ich echt überrascht, als er antwortet. „Oh ja. Die ganze Zeit.“ Er berührt die Stelle, wo die Kugel eingedrungen sein muss. „Wow“, entgegne ich baff. Seine Mundwinkel ziehen sich zu einem verheerenden Grinsen. Der Mann hätte echt ins Showbusiness gehen sollen. „Was? Glaubst du etwa, echte Männer kriegen keine Albträume?“ „Vielleicht nicht die Männer in deiner Branche.“ Das Grinsen verfliegt und er zieht eine Augenbraue hoch. Hoppla, ich bin zu weit gegangen. Ich nehme an, einen Mafioso sollte man besser nicht an seine Zunft erinnern. Ich ignoriere meinen Herzschlag, der immer heftiger wird. „Tut mir leid. Ist das etwas, worüber wir besser nicht reden sollten?“ Zwei Sekunden lang lässt er mich zappeln, dann zuckt er halbherzig die Achseln, als ob er keinen Bock hat, mich dafür zu maßregeln. „Ich bin nicht hergekommen, um dich runterzumachen, sondern nur, um nach dir zu schauen. Um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.“ Er blinzelt mit diesen dunklen, geschwungenen Wimpern, die ohne den markanten Kiefer und die Adlernase zu feminin aussehen würden. „Klingt, als hättest du gerade eine schwere Zeit.“ In meinem Kopf läuten auf einmal die Gefahrenglocken. Mach dich niemals von den Tacones abhängig. Du wirst den Rest deines Lebens dafür bezahlen. Das ist es, was mein Großvater immer beklagt hatte. Um sein Geschäft zu gründen, hatte er sich von Arturo Tacone Geld geliehen und es hat vierzig Jahre gedauert, um es zurückzuzahlen. Aber er hat es tatsächlich abgestottert und er war verdammt stolz drauf. „Bei uns ist alles in Ordnung.“ Ich richte mich auf und hebe mein Kinn. „Aber ich würde es schätzen, wenn ihr eure Meetings in Zukunft woanders abhalten könntet.“ Keine Ahnung, warum ich es ausgesprochen habe. Man verscherzt es sich nämlich nicht einfach mit einem Mafiaboss, indem man ihn beleidigt oder Forderungen stellt. Ich hätte einen höflicheren Weg finden können, um meine Bitte zu formulieren. Wieder betrachtet er mich für einen Augenblick, ehe er antwortet. Meine Handflächen werden ganz kalt und schweißig, aber ich blicke ihm geradeaus in die Augen. „Einverstanden“, räumt er ein. „Wir hatten keinen Ärger erwartet. Junior hat es echt leidgetan, was mit diesem Ort geschehen ist.“ „Junior hat eine Pistole auf meinen Kopf gerichtet.“ Die Worte sprudeln einfach so aus mir heraus und schlagen wie Granaten zwischen uns ein. Ich will sie zurücknehmen, aber es ist zu spät. „Junior würde dir niemals wehtun.“ Er sagt es so unverzüglich, dass mir klar wird, dass er wirklich so denkt. Aber er hat nicht dasselbe gesehen wie ich. Diesen Moment des Zögerns. Den Mann an Juniors Seite, der ihm zugeflüstert hatte, dass ich eine Zeugin bin. Er hat darüber nachgedacht, mich zu töten. Und dann hat er entschieden, es nicht zu tun. Gio fängt meine Hand ein und hält sie fest, diesmal streicht sein Daumen über meinen Handrücken. Seine Finger sind lang und kräftig, sodass meine daneben ganz klein und verletzlich wirken. „Deswegen bist du so nervös, hm? Tut mir leid, dass wir dir Angst gemacht haben, aber ich verspreche, du bist sicher. Dieser Ort steht unter unserem Schutz.“ Ich schlucke und versuche, nicht darauf zu achten, wie angenehm sich seine Berührung anfühlt. Wie gut es ist, von diesem schönen, gefährlichen Mann getröstet zu werden. Ich fasse meinen gesamten Mut zusammen: „Vielleicht wäre es besser, wenn es nicht so wäre.“ Meine Stimme klingt holprig. Sie wackelt und dieses Wackeln verrät, wie nervös ich bin. Ich räuspere mich. „Wenn ihr uns einfach in Ruhe lassen würdet, verstehst du?“ Ich halte den Atem an und warte auf seine Reaktion. Hm. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, meine Worte hätten ihn eher verletzt als gekränkt. Aber er zuckt nur die Achseln. „Bedaure, Kleines. Du kannst uns nicht einfach so loswerden. Und du stehst jetzt unter meiner Verantwortung. Was bedeutet, dass du absolut sicher bist.“ Ich will ihm sagen, dass ich nicht seine Kleine bin und dass er sich gefälligst mitsamt seiner schützenden Hand verpissen soll, aber ich bin nicht bekloppt. Außerdem möchte ein verräterischer Teil von mir, dass er weiter meine Hand streichelt, dass er mich weiterhin betrachtet, als wäre ich die interessanteste Person, der er heute begegnet ist. Aber ich weiß, dass das alles nur eine Lüge ist. Gio ist ein Weiberheld. Und meine Reaktion auf seine Gegenwart ist gefährlich. Gio lässt meine Hand los und umfasst stattdessen mein Kinn. „Du bist böse. Verstehe. Meinetwegen darfst du heute die Krallen ausfahren. Aber wir haben deiner Familie eine Wiedergutmachung gezahlt und wir werden uns weiter um dieses Viertel und ums Caffè Milano kümmern.“ Seine Berührung ist entschlossen, aber dennoch sanft. Sie lässt das Flattern in meinem Bauch noch heftiger werden. „Gio“, sage ich leise und wende den Kopf ab. Meine Nippel sind hart und scheuern gegen meinen BH. Er zieht einen Hundert-Dollar-Schein aus seiner Hosentasche und legt ihn auf den Tresen. „Gib mir zwei von diesen Cannoli.“ Er deutet auf die Vitrine. Ich gehorche ohne Worte und stecke den Hunderter in meine Schürzentasche. Ich mache mir nicht mal die Mühe, ihm das Wechselgeld anzubieten. Mir ist klar, dass er mit seinem Geld um sich werfen will. Soll er doch. Er grinst verhalten, dann nimmt er den Teller mit den Cannoli und setzt sich an einen Tisch, um sie zu essen. Verdammt. Ich bin sowas von aufgeschmissen. Gio Tacone hat beschlossen, mich zu seinem Lieblingsprojekt zu machen. Damit sind die Chancen, dass er mich am Ende in die Tasche steckt, soeben in den Himmel geschossen.
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