HERA
Es dauert genau eineinhalb Herzschläge.
Für diese unendlich kurze Sekunde, in der ich mich mit geschlossenen Augen an das einzig Feste in diesem dunklen, verdammten Raum klammere, könnte ich so tun, als wäre alles nur ein Fiebertraum gewesen.
Dass ich, wenn ich die Augen öffne, wieder zu Hause bin, bei meiner Familie, die noch lebt, und dass die Arme um mich herum, die mich festhalten, nicht dem gehören, der mir alles genommen hat.
Aber bevor der zweite Herzschlag verklungen ist, öffne ich die Augen und alles ist schmerzhaft gleich.
Das Licht der verdammt wenigen Fackeln, die über die Tunnelwände verteilt sind, in die die Zellen eingraviert sind, reicht kaum zum Sehen.
Aber wenn ich den Kopf senke, wird alles in seinem Gesicht schmerzhaft klar.
Ich möchte mit den Daumen über seine Wangenknochen fahren, die Blut- und Schmutzflecken von seinem Gesicht wischen, aber ich zwinge meine Hände zu winzigen Fäusten und grabe meine Fingernägel in die Handflächen.
Er starrt mich an, und ich schlucke den Kloß hinunter, der sich plötzlich in meinem Hals bildet.
Ich weiß nicht, ob mein Herz rast, weil mein armseliges Leben gerade vor meinen Augen vorbeizieht, oder ob es etwas ganz anderes ist.
Es fühlt sich fast wie Verrat an, als der Gedanke hartnäckig in meinem Kopf herumschwirrt. Wie kann jemand, der so verdammt makellos aussieht, so grausam sein?
Meine Brust drückt sich an ihn und hebt sich mit jedem Atemzug, der durch seine geöffneten Lippen entweicht.
Er sieht mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht ganz verstehe, oder vielleicht ist es umgekehrt.
Vielleicht weigere ich mich auch nur, die leichte Erleichterung zu bemerken, die ich in seinem suchenden Blick sehe.
Wie seine Augen jeden Zentimeter meines Körpers absuchen.
Nicht mehr rot, sondern wieder in dieser erstaunlichen flüssigen Farbe.
Wie kann er es wagen, mich so anzusehen?
Dann blinzelt er, und es ist vorbei, so schnell, dass ich nicht einmal sicher sein kann, ob ich es mir nicht nur eingebildet habe.
Ich reiße mich aus der Umarmung los, wütend auf ihn, weil er mich in den sicheren Tod geschickt hat.
Aber noch wütender bin ich auf mich selbst, dass ich ihm trotzdem blind in die Arme gelaufen bin, obwohl ich es besser wusste.
Er sammelt die weggeworfenen, blutverschmierten Schwerter auf, die zu Boden geklirrt sind, als ich mich wie ein untrainiertes Flittchen auf ihn gestürzt habe. „Haben sie dich berührt?“
„Was, jetzt interessiert dich meine Keuschheit? Warum bist du überhaupt hier?“
Ganz einfach, Hera, wir wollen ihn doch jetzt nicht daran erinnern, die Tür hinter sich zu schließen, oder?
Aber ich bin immer noch zu aufgewühlt, um klar denken zu können, und entweder schlage ich um mich oder fange an zu weinen, und ich kann das Weinen nicht mehr ertragen.
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, und er runzelt die Stirn, ohne auf etwas Bestimmtes zu achten. „Ich weiß es nicht.“
Ich werfe ihm meinen vernichtendsten Blick zu. „Vielleicht hattest du Angst, dass deine kleine Bande abscheulicher Gefangener nicht in der Lage sein würde, mich richtig auszuschalten, ist das das Problem?“
„Nein, sie hätten dich mit Sicherheit getötet.“
Die Art, wie er das sagt, schürt meine brennende Empörung.
„Ich bin überrascht, dass du nicht vor Freude in die Luft springst. Bist du hergekommen, um zuzuschauen und es dann selbst zu versuchen?“
Er schaut mich wegen meines respektlosen Tones grimmig an.
„Man sollte meinen, dass ein Sklavenmädchen, das gerade in das gefährlichste Gefängnis der Sieben Königreiche gesteckt wurde, gelernt hat, ihre Zunge im Zaum zu halten und dankbarer dafür ist, dass sie ihren hübschen kleinen Hals behalten darf.“
Um ehrlich zu sein, hätte ich das auch gedacht.
Aber mein Mund hat schon immer ein Eigenleben geführt, und jetzt, mit all diesen gemischten Gefühlen, hört er nicht auf.
Er wird erst aufhören, wenn mir die Luft ausgeht.
„Du hättest mich sterben lassen sollen. Was bringt es, am Leben zu bleiben, wenn ich immer noch mit dir verheiratet bin?“
Als mir die Worte aus dem Mund fallen, will ich sie zurücknehmen und wieder hineinstecken, aber es ist zu spät.
Er kommt auf mich zu, und trotz meiner großen Klappe weiche ich ein Stück zurück, aber er kommt noch näher.
Die Spannung zwischen unseren Körpern wird durch die Wärme, die er ausstrahlt, noch verstärkt.
Etwas Greifbares und Greifbares, das mich trotz meiner besten Absichten daran erinnert, wie es war, seine Lippen auf meiner Haut zu spüren. Wie er mich geküsst hat, besitzergreifend und verschlingend.
Seine Augen sind jetzt dunkler, und wenn er spricht, klingt seine Stimme rau, und irgendwie weiß ich, dass ich nicht die Einzige bin, die sich erinnert.
Ich bemerke, dass sich jemand vor meiner Zelle bewegt. Ich weiß, ich sollte rufen und ihn warnen, aber ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden.
„Weil du mein bist, Hera...“
Eine gebeugte, massige Gestalt erscheint an der Tür und grinst laut, doch Midas beachtet sie nicht.
„...niemand darf dich berühren...“
Die Gefangenen stürzen sich auf ihn.
„...außer mir.“
Und mit einer einzigen fließenden Bewegung, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen, fällt der Verbrecher auf seinen eigenen Rücken und wird von Midas’ Schwert aufgespießt.
Es ist ihm egal, dass er gerade einen Menschen getötet hat, ohne hinzusehen.
Der Klang meines Namens, der wie ein dunkel geflüstertes Geheimnis von seinen Lippen fällt, und die Art, wie er mich ansieht, verursachen ein Kribbeln irgendwo unter meinem Bauch.
Es ist ein seltsames Gefühl, das ich nicht kenne, und doch finde ich, dass ich es nicht hasse... ganz im Gegenteil.
Hera, du dummes, dummes Mädchen.
Er wickelt eine Strähne meines Haares um seinen Finger. „Außerdem wäre es zu einfach, dich zu töten. Angesichts der Schwere deiner Verbrechen, warum sollte ich das tun, wenn ich alle Zeit der Welt habe, um angemessenere ... Strafen zu finden.“
Inzwischen hüpft mein verräterisches kleines Blutpumporgan so laut in meiner Brust, dass ich schwören könnte, er hört es. Mein Mund ist trocken, und wenn ich ihn öffne, kommt kein Ton heraus.
Seine Nähe nervt mich auf eine Weise, die ich nicht mag, und ich schlucke schwer.
Mein Kopf dreht sich. Vor Angst und vor...
Nein, Hera, erinnere dich, wer er ist, was er getan hat.
Gott sei Dank läutet die Glocke, bevor ich noch dümmer werde, und er neigt den Kopf in Richtung des Läutens, das auf seltsame Weise nah und fern zugleich erscheint.
Er dreht sich um, und ich atme erleichtert aus, ohne zu merken, dass ich den Atem angehalten habe.
Entschlossen geht er zum Eingang, holt seine Waffe und zieht sie mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Körper des Toten, während er den kleinen, verschlossenen Raum verlässt. „Der Morgen naht.“
Um Himmels willen, lass ihn mich hier nicht allein.
Die Glocke läutet wieder, und ich höre immer noch die gewalttätigen Geräusche von außerhalb meiner Zelle, und obwohl sie selten und weit entfernt sind, kann ich mich nicht dazu überwinden, mich zu bewegen.
Vielleicht bleibe ich einfach ganz still liegen...
Er erscheint wieder in der Türöffnung. „Bist du schon so an diesen Ort gewöhnt, dass du nicht mehr weg willst?“
Ich muss mich beherrschen, nicht wieder auf ihn zuzulaufen.
Vorsichtig trete ich hinter ihm aus meiner Zelle.
Meine Augen haben sich an die Dunkelheit meiner Umgebung gewöhnt, aber es ist immer noch dunkel, und ich verliere den Halt, stolpere über den unebenen Weg.
Ohne einen Blick zur Seite nimmt er eine Fackel von der Wand und leuchtet den Weg, mehr für mich als für sich, das kann ich sagen.
Als ich hierher geschleppt wurde, konnte ich mich nicht richtig umsehen.
Der Felsentunnel, in den die Zellen gebaut sind, erstreckt sich hinter mir und ist in eine noch tiefere Dunkelheit gehüllt, die mich zwingt, schneller zu gehen, um in seiner Nähe zu bleiben.
Die Glocke läutet zum vierten Mal, als wir an toten und stöhnenden, blutenden Häftlingen vorbeigehen.
Andere haben Gliedmaßen verloren und tragen Wunden, die nur von einem Schwert stammen können.
Oder in diesem Fall von zwei Schwertern.
Wieder andere sind so töricht, noch immer gegeneinander zu kämpfen.
Midas unternimmt nichts, um sie aufzuhalten, und sie fliehen, höhnisch grienend, die Zähne fletschend, aber dem Licht seiner Fackel ausweichend, wagen sie nicht, näher zu kommen.
„Hast du das getan, mein Herr?“
Die Frage interessierte mich nicht, die Antwort noch weniger, aber ich musste etwas sagen.
Jetzt, da die erste Angst langsam nachlässt, kann ich klar genug denken, um zu wissen, dass es nicht klug wäre, denjenigen zu verärgern, der mich aus diesem Höllenloch herausholt.
Selbst wenn ich flüstere, weiß ich, dass er mich hören kann. Er entscheidet nur, mich zu ignorieren.
Als die Glocke zum fünften Mal läutet, bleiben die Verbrecher plötzlich stehen, und ich auch.
Dann, so plötzlich, wie sie stehengeblieben waren, rennen sie in wildem Tempo auf ihre Zellen zu, stoßen sich gegenseitig und fallen um.
Sie sperren sich freiwillig wieder ein.
Warum tun sie das?
Mein erster Gedanke ist, dass sie vielleicht einfach Angst haben.
Aber seit meinem kurzen Aufenthalt hier habe ich zwei sehr wichtige Dinge herausgefunden.
Wer auch immer den Keller und seine seltsame, grausame Art der Bestrafung erfunden hat, war nichts weniger als ein Teufel.
Ich habe keinen Zweifel, dass es seine Idee war.
Und da sich der Schall in dunklen Räumen unheimlich gut ausbreitet, konnte jedes Geräusch an diesem verfluchten Ort nur das sichere Unheil bedeuten.
Als ein leises Summen durch den Tunnel hallt, bleibt mir fast das Herz stehen... wieder einmal.
Oh Götter, was nun? Sollte dieser Alptraum kein Ende haben?
Das Geräusch wird lauter, verzerrt die Luft um mich herum und kommt schnell näher.
„M... mein Herr...“
Er bleibt so abrupt stehen, dass ich fast in seinen Rücken falle, doch im letzten Moment kann ich mich stabilisieren.
„Bleib hinter mir.”
Ein lauter, erschreckender Schrei zerreißt die Luft in der Dunkelheit vor uns, während plötzlich ein helles Licht den Raum erhellt und eine Welle gewaltiger Hitze über uns hereinbricht.
„Ist das... Feuer?“
Ich höre Midas etwas murmeln, das in etwa „Idiot“ bedeutet, aber ich bin zu abgelenkt und verängstigt, um darauf zu achten.
Ich merke nicht einmal, dass ich seinen Hemdsärmel festhalte, bis er den Kopf neigt und auf meine Finger schaut, die sich um seinen Arm geschlungen haben.
Aber ich tue so, als würde ich es nicht bemerken.
Wenn er will, dass ich meine Finger von ihm lasse, muss er sie mit einer Brechstange abreißen.
Ich starre weiter in das dunkle Zimmer, warte, mein Atem zittert vor Angst, auf das, was diese Schreie verursacht hat.
Und dann sehe ich es zum ersten Mal.
Wie versteinert stehe ich da.
Ich will weglaufen, aber meine Füße sind wie angewurzelt und ich kann kaum atmen.
Die schmalen Öffnungen im knöchernen, kantigen Kiefer der Kreatur und die leuchtend smaragdgrünen Augen mit den schmalen, geschlitzten Pupillen verleihen ihr ein wahrhaft furchterregendes, reptilienhaftes Aussehen.
Zwei kleine Hörner sitzen auf seinem Kopf, direkt über den winzigen, runden Ohren, sein geschwungener, schlangenartiger Körper ist eine Masse aus Schuppen, die plötzlich unter elektrischen Entladungen zu knistern beginnen.
Mein Griff um seine Arme wird unmerklich fester. Regungslos starrt er vor sich hin.
Ist er blind, hat er die riesige Bestie nicht gesehen, die mit rasender Geschwindigkeit auf uns zurast, oder ist es ihm egal, ob wir in diesem dunklen, engen Tunnel verbrennen?
„M... mein Herr!!“
Rauch quillt aus den deformierten, breiten Nüstern des Drachen.
Er reißt sein großes Maul auf und entblößt furchterregend scharfe Zähne. Aus den dunklen Tiefen seines gähnenden Mauls sehe ich einen Feuerball aufsteigen.
Dann begreife ich.
Er ist unsterblich und ich nicht.
Und gerade als ich denke, dass es vorbei ist, landet der Drache vor uns und wirbelt in dem engen Raum so viel Staub und Wind auf, dass mein Haar nach hinten geweht wird und Sand und Dreck ihren Weg in jede Öffnung meines Gesichts finden.
Seine hässlichen, scherenartigen Flügel schlagen mit einem dumpfen Geräusch, und sein massiver Schwanz, der in einer fächerartigen Spitze endet, beginnt, sich von einer Seite zur anderen zu bewegen.
Und während ich zuschaue, kaum in der Lage, meinen Augen und Ohren zu trauen, kommt ein deutliches Brummen aus seiner Kehle, und als ich mich endlich daran erinnere, wie ich meine Stimme zum Sprechen bringe, ist sie winzig und voller Erstaunen.
„Verdammt, schnurrt das?“