HERA
Alle hatten die Geschichten gehört.
Manche kannten sie auswendig.
Es waren Gutenachtgeschichten für die Kleinen in den Dörfern Averias. Es waren Bettgeschichten für die müden Arbeiter, die sich in den Tavernen der Städte verkrochen hatten.
Wenn die Nacht hereinbrach und der Mond hell schien, um die müden Hirten zu leiten, die ihre Herden nach Hause brachten, wurden die Geschichten mit gedämpfter Stimme und in warnendem Ton erzählt.
Geschichten von Hexen und Flüchen und von den Rydern in einem fernen Reich.
Von Wesen, die sich in furchterregende, feuerspeiende Kreaturen verwandeln konnten, mit brennenden Augen von der Farbe kostbarer Edelsteine, von bernsteinfarbenen und jadegrünen Teichen, die einen zu Stein erstarren ließen, wenn man hineinsah, und von feurigen Kugeln, die Städte in Brand steckten und mit einem einzigen Atemzug zu Asche verbrannten.
Ich hatte sie alle gehört und liebte sie alle.
Ich betrachtete sie nicht als Fluch, wie es die anderen taten. Sicherlich war die Fähigkeit, sich nach Belieben in solch imposante Kreaturen zu verwandeln, eine Gabe, die nur den Stärksten von den Göttern selbst verliehen wurde.
Und wenn es meinem Vater gelang, sich aus den Spielhöllen zu schleppen, die er öfter besuchte als wir, bettelte und bettelte ich, bis er mir die Geschichten erzählte, die ich hören wollte.
Doch als das Drachenreich mit seinen Monstern und Rydern nach Averia herabkam und mein Volk nach und nach auslöschte, verwandelte sich die Ehrfurcht, mit der ich sie einst betrachtete, in Furcht.
Vor meinem inneren Auge wurden sie zu blutrünstigen, hirnlosen Kreaturen, die nur ein Ziel hatten: zu töten und zu zerstören.
Und doch konnte die Neugier in mir nicht gestillt werden, als ich nicht ein einziges von ihnen zu Gesicht bekam.
An jenem Tag, als ich durch die brennenden, rauchgeschwängerten Ruinen meines Dorfes rannte, Tränen rannen über meine rußverschmierten Wangen, meine Stimme war heiser vom Schreien meiner Namen, und nur Stille antwortete mir, fand ich unter den glühenden Kohlen den ersten Beweis ihrer Existenz: eine einzelne dunkelgraue Schuppe, unberührt von den Flammen, die sie umgaben.
Das Ding war so groß wie meine Handfläche, mit einer glatten, seltsam warmen Oberfläche, und wenn es das Licht einfing, schimmerte es mit einem überirdischen Glanz.
Es war der einzige Beweis für die Monster, die uns alles genommen hatten.
Und ich behielt ihn.
Selbst damals hatte ich die Größe und die pure Angst, in der Gegenwart eines Drachen zu sein, noch nicht begriffen.
Bis heute.
Es war eine Erfahrung jenseits aller Worte. Meine Worte sowieso.
Und jetzt, da das riesige Reptil vor ihm auf den Hinterbeinen sitzt, mit dem Schwanz wedelt wie ein zahmes Hündchen und mit dem großen, knochigen Kopf gegen seinen Brustkorb stößt, damit er ihn zwischen den Ohren, oder in diesem Fall zwischen den Hörnern, kraulen kann, erkenne ich eine erschreckende Wahrheit.
Während Drachen furchterregende, bösartige Bestien sein können, die jedem, der sie sieht, und noch mehr denen, die die Fähigkeit haben, zu ihnen zu werden, Angst einflößen, gibt es einen, der über allen anderen steht.
Er kann sowohl Drachen als auch Werdrachen beherrschen.
Ein Ungeheuer über alle Ungeheuer.
Er fährt mit einer behandschuhten Hand über Kopf und Schnauze des Drachen und blickt das Tier mit einem Ausdruck an, den ich ihm nicht zugetraut hätte.
Es ist ein Blick der Vertrautheit und des Trostes, so sanft, dass er fast warm ist.
Locker nimmt er meine Hand in seine.
Lange, schlanke Finger umschließen meine Hand und ich schaue verwirrt zu ihm auf, der Moment der Verwirrung dauert kaum eine Sekunde.
Als ich begreife, was er vorhat, werden meine Augen so groß wie Untertassen. „Mein Herr... ich glaube nicht...“
Doch bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, legt er meine Hand auf den Kopf der Bestie und hält seine auf meiner, damit ich sie nicht wegziehe.
„Sklave, du hast nichts zu befürchten, solange ich hier bin.“
Ich wünschte, er würde aufhören, mich so zu nennen.
Vor Angst weiche ich zurück, oder zumindest sollte ich das tun, aber mit seiner rauen, großen Hand, die auf meiner ruht und köstliche Funken von Wärme meinen Arm hinunter sendet, fällt es mir schwer, und selbst als die Bestie ihren Kopf gegen meine Hand bewegt, kann ich mich seltsamerweise nicht von ihm lösen.
Als ich vorsichtig meine Hand zwischen seine Hörner gleiten lasse, flackern seine jadegrünen Augen kurz auf und ein zufriedener Laut entfährt ihm.
Unerwartet entfährt mir ein erschrockenes Lachen.
Dieses feuerspeiende Ungeheuer ist nichts anderes als ein riesiger Welpe und für einen Moment vergesse ich alles andere.
„Hat er einen Namen?“ Überrascht hebe ich den Kopf, um Midas anzusehen, doch er starrt mich bereits an.
Er räuspert sich und wendet den Blick ab. „Meirsul, der Herr der Roten. Er ist ein Hüttendrache.“
„Meirsul...“, sage ich leise, es kommt mir seltsam vor und es fällt mir schwer, es mit den klingenden, rollenden Konsonanten der Drachenwelt auszusprechen.
Er reagiert auf seinen Namen, stupst mich mit seiner großen Schnauze an und drückt mich gegen Midas, der sofort einen seiner muskulösen Arme um meine Taille legt, um mich zu stabilisieren.
Die Art und Weise, wie mein Körper reagiert, wenn ich irgendeinen Teil von ihm berühre, dieses akute Bewusstsein, genau zu wissen, wo ich aufhöre und wo er anfängt, ist etwas, das ich schnell in den Griff bekommen muss.
Ich zwinge mich, mich zu erinnern.
Die glatten, warmen Schuppen des Drachen unter meiner Hand sind der Auslöser. Sie erinnern mich sofort an den Tag, an dem ich sie verloren habe, und ich ziehe meine Hand zurück, während mich Scham und Schuldgefühle überkommen.
Mein ganzes Dorf wurde an einem einzigen Tag ausgelöscht, und hier war ich, streichelte und liebkoste genau die Ursache ihres Todes.
Er lässt mich los, runzelt leicht die Stirn über meinen plötzlichen Rückzug und meine Steifheit, sagt aber nichts.
Der Wind von Meirsuls Flügeln hat die Fackel erloschen, und er zündet sie wieder an, indem er mit einem Fingerschnippen Flammen aus dem Nichts hervorzaubert.
Und mit einem ins Ohr des Drachen geflüsterten Befehl führt er uns vorbei, und die Bestie erhebt sich wieder und fliegt weiter in den Tunnel hinter uns.
Abgesehen von einem Schrei einige Sekunden später sind unsere Schritte die einzigen Geräusche, die durch den Tunnel hallen. Die Luft wird leichter, der Geruch von Blut und Schweiß hängt nicht mehr so d**k über meinem Kopf.
Ich weiß nicht mehr, wie weit es bis nach draußen war, aber ich wurde schreiend und strampelnd über die Schulter des Wachmanns gezogen. Ich bezweifle, dass ich ein zuverlässiger Richter wäre.
Ich betrachte seine hohe, imposante Gestalt vor mir, ein latentes löwenhaftes Kommando in seinen Schritten, jeder leise Schritt mit der Sicherheit eines Machthabers getan.
Die männliche Art, wie seine breiten Schultern das Hemd über seinem Rücken spannen und die Konturen seiner kräftigen Muskeln betonen, lässt meine Wangen vor Hitze erröten, und ich zwinge mich, meinen Blick von ihm abzuwenden.
Mann, was ist nur los mit mir?
Es war nur ein einziger Kuss... Ein blutiger, sündhaft dekadenter Kuss.
Zugegeben, es war mein erster und einziger.
Er kam von dem Mann, den ich mehr als alles andere auf der Welt hasste.
Warum konnte ich nicht aufhören, daran zu denken?
Ich presste die Lippen zusammen, um still zu bleiben, aber bald überkam mich die Neugier, und ich begrüßte die Worte, weil sie meine Gedanken von... anderen Dingen ablenken.
„Was meinst du damit, einen Drachen hüten... mein Herr?“
Er antwortet, ohne sich umzudrehen. „Er treibt die Gefangenen zusammen und sorgt dafür, dass sie kurz vor Sonnenaufgang zur fünften Glocke in ihre Zellen zurückkehren.“
„Und die Schreie, die wir gehört haben?“
„Verrückte Idioten, die nicht in ihre Zellen zurück wollten.“
„Warum habt ihr sie überhaupt rausgelassen?“
Er schweigt so lange, dass ich glaube, er würde nicht antworten, aber er tut es, und seine Stimme verrät keine Regung.
„Gibt es eine bessere Art, Thronverräter zu bestrafen, als sie gegeneinander kämpfen zu lassen?“
Natürlich.
Ich sehe das Licht des Eingangs und meine Knie zittern kaum merklich vor Erleichterung.
Die riesigen Wächter starren beide durch die Gitterstäbe und irgendwie kann ich an ihren Gesichtern ablesen, dass sie schon eine Weile Ausschau gehalten haben.
Langsam heben sich die Gitter und als ich endlich aus dem Keller trete, kann ich mich nur mit Mühe davon abhalten, auf den Boden zu knallen.
Chief Ryder ist auch draußen und lehnt an der harten Wand.
Als er Midas herauskommen sieht, richtet er sich auf und verbeugt sich tief, und wenn er etwas an meinem erbärmlichen, aber lebendigen Zustand spürt, so verbirgt er es gut.
„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“
Der König wirft einem der Wächter sein Schwert zu. „Du hättest dir den Weg sparen können, Leo.“
„Die Palastwachen haben dich durch die Gänge rennen sehen und mich alarmiert.“
Er ist gerannt ... um mich zu retten?
Midas wird finster und wendet den Blick ab. „Ich bin kaum gerannt. Es war eher ein Spaziergang.“
„Natürlich, Eure Majestät.“
Ihre Stimmen werden irgendwie undeutlich.
Jetzt, da ich diesen schrecklichen Ort verlassen habe, stürzen alle Ereignisse des vergangenen Tages mit Übelkeit und Schwäche auf mich ein.
Alles ist so schnell passiert, dass mein Gehirn erst jetzt aufholen kann, und ihr gefällt nicht, was sie sieht.
Mein Bein blutet, weil ich barfuß im Dunkeln gestolpert bin, und ich habe einen ganzen Tag nichts gegessen und getrunken.
Seine Arme fangen mich auf, bevor ich vor Erschöpfung zu Boden falle. Er sagt etwas zu Leo, das ich nicht richtig verstehe, und Chief Ryder eilt voraus.
„Kannst du laufen?“
Ich nicke vage, aber als er meine blutenden Füße bemerkt, hebt er mich schweigend hoch, drückt mich an seine Brust und beginnt, durch den Tunnel zurück zum Palast zu laufen.
Mein Magen knurrt vor Hunger und ich wimmere leise. Seine Arme umfassen mich unmerklich fester.
„Alles ist gut, ich habe dich.“
Mein Herz macht bei seinen Worten einen Sprung, während ich meine Arme um seinen Hals lege und zu müde bin, um mich dagegen zu wehren, wie sicher ich mich mit meinem Kopf an seiner Schulter fühle.
Meine Augen öffnen sich einen Spalt und ich starre auf sein Kinn, das von einem stacheligen, dunklen Bart bedeckt ist. Ich muss meine Hand zu einer Faust ballen, um nicht danach zu greifen und sanft über den markanten Kiefer zu streichen.
Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, jemals in meinem Leben etwas so verdammt Dringendes tun zu wollen.
„Pass auf, Drachenkönig, man könnte meinen, du machst dir wirklich Sorgen um mich.“
Und ich könnte schwören, dass er mit den Augen rollt.