Der Keller

2161 Words
HERA Unter den Hexen und Zauberern von Averia gibt es ein beliebtes Sprichwort. Du gehst durchs Leben, ohne die Entscheidung zu kennen, die den Lauf deines Schicksals ändert und dein Leben für immer verändert. Nun, ich kannte meins. Und ich weiß, was du denkst, aber es war nicht die Entscheidung, an dem Tag, an dem meine Familie ermordet wurde, anstelle meiner Mutter in die Hauptstadt zu gehen. Es war auch nicht, wie ein Sack Gemüse an den Mann verkauft zu werden, der für den oben erwähnten Mord verantwortlich war. Nein, es war nichts davon. Es war der Moment, in dem ich beschloss, in die Luft zu springen, meine Arme um seinen Hals zu legen und meine Zähne in seine Schulter zu schlagen. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass das eine schlechte Entscheidung war. Ich hätte ihm stattdessen in den Hals beißen sollen. Wusste ich, dass es ein sinnloses, waghalsiges Unterfangen war? Natürlich wusste ich es. Hätte ein einziger Biss den Drachenkönig besiegen können, so bin ich mir ziemlich sicher, dass König Avalon in seiner Bescheidenheit in Averia selbst auf ihn gesprungen wäre. Ob ich wusste, dass er mich fast auf der Stelle getötet hätte? Nun, damit hatte ich gerechnet. Aber was ich nicht wusste, war, wie sehr Midas es liebte, mit seinem Essen zu spielen. Ich starre auf den, den Midas Leo genannt hat, den Chef-Ryder, der am Fußende des Bettes steht und bis auf seinen Helm fast vollständig gepanzert ist. Dass wir in den Keller geführt werden, ist eindeutig seine Schuld, und wie sich herausstellt, ist Wut eine gute Alternative zu Angst. Ich rutsche aus dem Bett, lasse die Decken zurück und merke schmerzlich, wie ausgeliefert ich bin. Er wendet den Blick ab und ich lache bitter. „Wie aufmerksam von dir.“ Ich strecke meine Hände aus, bereit, dass er kalte Eisenketten um meine Handgelenke legt, aber er tut es nicht. Stattdessen nimmt er mich am Arm und führt mich aus den Gemächern des Königs. Unsere Schritte hallen weich unter meinen nackten Füßen durch die lange, dunkle, leere Halle mit ihren grauen Ziegelwänden, die von brennenden Fackeln und langen violetten Teppichen erhellt werden. Er schaut mich immer noch an, weicht meinem Blick bewusst aus, als er bemerkt, wie ich ihn trotzig anstarre. Er führt mich durch einen gewundenen Gang, wo der Teppich plötzlich aufhört und ich bei jedem Schritt die kalten Steine spüre. „Verzeihen Sie, wenn meine Manieren nicht angemessen sind. Wie Sie wissen, werde ich gerade in den Tod geführt.“ Er erwidert meinen Sarkasmus mit Schweigen, sein Griff um meine Hand ist nicht gerade zärtlich, aber wenigstens zerrt er mich nicht wie ein gewöhnlicher Dieb hinter sich her. Er führt mich eine Treppe hinunter, bleibt vor einer einfachen Holztür stehen und klopft dreimal scharf an. „Ich hätte erwartet, dass es im Keller des Drachenkönigreichs schlimmer zugeht.“ Es scheint, als hätte das Gefängnis meine Zunge gelockert. Als er immer noch nichts sagt, werde ich noch wütender. „Dein Schweigen, obwohl es mich ärgert, überrascht mich. Du schienst in Gegenwart des Königs viel über mein Schicksal zu sagen zu haben.“ Und zum ersten Mal knurrt er als Antwort. „Vergebt mir, meine Königin, er hätte Euch sicher getötet.“ „Und ich nehme an, dass der Ort, an den er mich geschickt hat, ein besseres Schicksal für mich ist.“ Darauf hat er nichts mehr zu sagen, und mir steigt die Galle in die Kehle. Vom Tod auf einem Scheißbesen, wozu bin ich denn verdammt? Die Tür öffnet sich und ein weiterer Ryder erscheint, von Kopf bis Fuß in ihre glänzende schwarze Rüstung gekleidet, das Emblem des Drachenreiches auf der Brust eingebrannt, und ich kämpfe gegen den Impuls an, wegzulaufen. Ihr Anblick lässt mich vor Angst zittern. Der Neue grüßt und ignoriert mich. Ryder, der Anführer, bellt ihn an, schafft es, bedrohlich zu klingen, ohne die Stimme zu erheben. „Hast du den Verstand verloren, Garwith, oder ist dir die Heiligkeit unseres Reiches so fremd, dass du der Frau des Königs keinen Respekt erweisen willst?“ Der Mann streckt sich zu seiner vollen Größe, den Rücken kerzengerade, bevor er sich tief in der Taille verbeugt: „Vergebt mir meine Unhöflichkeit, Mylady, ich habe Euch nicht erkannt.“ Niemand im Palast weiß, wie ich aussehe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das halbe Drachenreich nicht einmal wusste, dass ihr König geheiratet hat. Noch dazu einen Menschen. Ich schnaufe. „Ich werde gleich ins Gefängnis gebracht, Garwith, ich glaube, deine Unhöflichkeit ist das geringste meiner Probleme.“ Wenn er über meine schlechten Manieren und meine allgemeine Situation verwirrt oder verblüfft ist, zeigt er es gut. Leo ist derjenige, der mit ihm spricht. „Hol mir ein Hemd.“ Und wieder verschwindet er hinter der Tür. „Deine Sorge um meine Ehre ist sehr rührend.“ „Du brauchst etwas zum Anziehen. Du bist fast ...“ Ich lache bitter. „Nun, wir alle wissen, wem wir das zu verdanken haben.“ Er erstarrt neben mir, seine Stimme nimmt einen eisernen Klang an. „Sprich mit gebührendem Respekt von seiner Majestät.“ „Oder was, Chief Ryder... wirst du seine Arbeit für ihn beenden?“ Zu meiner Überraschung konnte ich es nicht, selbst wenn ich es versuchte. Zum Glück, bevor ich mich in noch größere Schwierigkeiten bringen konnte, öffnete sich die Tür erneut und Garwith tauchte wieder auf, einen einzigen braunen Kittel, mehr Sack als Kleid, über den Arm gehängt. Leo schickt ihn weg und reicht ihn mir, und ich reiße ihn ihm aus der Hand. Aber als ich es anziehe, das einfache Hemd fällt mir kaum über die Oberschenkel, und der kratzige Stoff erinnert mich an das, was ich vor diesem verfluchten Abkommen getragen habe, bin ich sofort dankbar, dass ich nicht meinen ganzen Körper zur Schau stellen muss. Aber ich würde mir lieber die Zunge abbeißen und mich in einen Topf mit kochendem Fett stürzen, als irgendeinem von ihnen meine Dankbarkeit zu zeigen. Leo nimmt wieder meinen Arm und führt uns durch die Tür nach links. Wir kommen an eine Eisentür, neben der ein Wächter mit einer hohen, gebogenen Lanze steht. Der Wächter geht in Position und öffnet wortlos die schweren Türen, und ich begreife, dass wir oben auf gewundenen, schmalen Stufen stehen, die in die tiefe Finsternis führen. Er führt mich die heimtückischen Stufen hinunter, hält eine Fackel, die er von der Wand genommen hat, die Luft wird mit jedem Schritt kälter, und meine Angst kehrt mit solcher Wucht zurück, dass ich mir auf die Lippen beißen muss, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt, vielleicht sind es die immer weniger werdenden brennenden Fackeln, so dass jeder Schritt dunkler ist als der vorherige, oder vielleicht ist es die vollkommene, fast absolute Stille, eine hoffnungslose Stille, die mich bis ins Mark erschreckt. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir das Ende der Treppe und ich bemerke ein Licht vor uns. Leos Flüstern durchdringt den Nebel der Angst um meinen Kopf. „Meine Königin... Du musst mir vertrauen“, sagt er. „Dem Mann vertrauen, der mich ins sichere Verderben führt? Was für ein herrlicher Gedanke. Und dann kommt der Henker und singt mich in den Schlaf“, entgegne ich. Er hält abrupt inne und dreht mich zu sich. „Der Drachenkönig ist kein sehr nachsichtiger Mann und leicht zu verärgern, aber vielleicht überdenkt er sein Urteil bis morgen. Damit das passiert, musst du am Leben sein.“ Die Dringlichkeit in seiner Stimme lässt mein Herz in meiner Brust klopfen und ich starre ihn schweigend an, die Augen vor Angst weit aufgerissen. „Ich bitte dich, ganz genau zuzuhören. Es gibt versperrte Tunnel jenseits der Zellen, voller Felsen und Verstecke. Keiner von ihnen führt irgendwohin, aber sie sind klein und dunkel genug, dass jemand wie du Gnade darin verstecken könnte.“ „Warum sollte ich mich verstecken?“, frage ich. Wir sind jetzt nahe an einem Satz eiserner Gitter und ich kann zwei Wächter sehen, eher Riesen als Drachenhüter. Ihre Gesichter sind von Narben gezeichnet, sie haben lange Bärte und zwei Schwerter auf dem Rücken. Er ignoriert meine Frage, die Dringlichkeit in seiner Stimme nimmt zu, je näher wir den Wachen kommen. „Wenn die Uhr um Mitternacht dreimal schlägt, rennst du ohne zu zögern in einen dieser Tunnel und versteckst dich, egal was du hörst, bis die Glocke wieder schlägt und die Morgendämmerung verkündet. „Was redest du da, was wird passieren?“ Ich versuche nicht, die Panik in meiner Stimme zu verbergen. Einer der Wächter hat uns gesehen und verlässt seinen Posten, um zu uns zu kommen. „Tu, was ich dir sage, und wenn es der verdammte Wille der Götter ist, wirst du noch einen weiteren Tag erleben“. Der Wächter ist jetzt hier, aber das ist mir egal. Ich klammere mich an Leos Arm, verzweifelt und ängstlich wie nie zuvor in meinem Leben. „Nein, tu das nicht...“ „Es sind die Befehle des Königs und sie müssen befolgt werden. Ich weine hysterisch. „Nein, nein... Bitte! Das kannst du nicht tun!!“ Der Riese zieht mich von sich weg, ich strampel in der Luft, Arme und Beine fuchteln wild, meine Finger finden Halt in der Haut des Riesen und kratzen, bis ich Blut sehe, aber es nützt nichts. Die schweren Gitter heben sich mit einem lauten Quietschen, und ich kämpfe noch heftiger, aber es hilft nichts, der Riese trägt mich hinein. Das Letzte, was ich sehe, beleuchtet von den Flammen der brennenden Fackel in seiner Hand, ist Leos Gesicht. Völlig ohne Ausdruck. Als der Wärter mich in eine Zelle wirft und die Tür hinter sich schließt, bin ich völlig außer mir vor Trauer und Angst. Schnell krieche ich in eine Ecke des fast völlig dunklen Raumes und mache so wenig Lärm wie möglich. Obwohl ich am liebsten schreien und weinen würde, weiß ich, dass es mir nichts nützt, auf mich aufmerksam zu machen. Auch wenn ich aus meiner umgedrehten Position auf der Schulter des Riesen andere Zellen gesehen und flüchtige Blicke in furchterregende Gesichter erhascht habe, teile ich diese Zelle, soweit ich weiß, mit keinem anderen Wesen außer mir. Die Minuten zogen sich in die Länge, wie sie es tun, wenn man sich vor einer fernen Gefahr fürchtet, und während ich in der Ecke saß und kaum zu atmen wagte, fragte ich mich, was Leo wohl gemeint haben mochte. Könnte er sich geirrt haben? Die Eisenstangen vor meiner Zelle bedeuten doch, dass ich nirgendwo hingehen kann, und ein Tunnel ist auch nicht in Sicht, es sei denn, unter meiner Strohmatratze ist ein Geheimgang. Vielleicht irrt er sich, vielleicht hat Midas ihm befohlen, all diese Dinge zu sagen und mich vor Angst fast umgebracht. Aber als die Glocken zwölf schlugen, wurde alles klar, und jeder Funken Mut, der mir noch geblieben war, verbrannte wie trockenes Laub im Feuer. Es war der schrecklichste Klang, den eine kleine, verletzliche Frau in einer Zelle voller blutrünstiger Verbrecher hören konnte. Laut und kreischend war das Geräusch der steifen Scharniere, wenn sie lange nicht geölt worden waren. Das Geräusch aller Zellentüren, die sich gleichzeitig öffnen. Zuerst ist es ganz still und dann... beginnt der Lärm. Blutrünstige Schreie und das Geräusch brechender Knochen dringen an mein Ohr. Die Häftlinge fallen übereinander her. Ich überlege, in meiner Zelle zu bleiben und mich in eine dunkle Ecke zu verkriechen. Aber ich habe die Augen gesehen, die meiner Ankunft gefolgt sind, und wenn ich hier bleibe, werden sie kommen, und der Himmel weiß, was sie tun werden. Ich reiße mich zusammen und unterdrücke mein Schluchzen, während ich mich zum Eingang meiner Zelle schleiche, aber ich bin zu spät, dunkle Schatten fallen auf den Zellenboden. Ein Grinsen, zu schrecklich, um es in Worte zu fassen, ist in das Gesicht des Mannes geätzt, der die Gruppe anführt, als er auf mich zukommt. „Was haben wir denn hier?“ Langsam krieche ich zurück, meine Handflächen kratzen über den schmutzigen Boden, doch bald gibt es kein Entrinnen mehr und ich stoße mit dem Rücken an die Wand. Ich schließe die Augen, als er sich wenige Zentimeter vor mir hinhockt, sein stinkender Atem brennt mir heiß ins Gesicht. Götter über mir... soll das mein Ende sein? Er packt mich, zieht mich unter sich, ich schreie, trete und weine, aber ich bin kein Gegner für ihn. „Es ist zu lange her, ich werde jede Sekunde genießen...“ Plötzlich ist das Gewicht weg und etwas Warmes, Flüssiges spritzt gegen mein Gesicht und der metallische Geschmack von Blut füllt meinen Mund. Aber das Blut, das über mein Gesicht spritzt, ist nicht meins, und als ich mich endlich wieder traue, vorsichtig ein Augenlid nach dem anderen zu öffnen... Meine kleine Zelle ist übersät mit den toten Körpern der Männer, die versucht haben, mich anzugreifen. Aber ich sehe sie kaum. Meine Aufmerksamkeit ist ganz woanders. Das Hellste in diesem dunklen, kalten Raum sind ihre Augen. Das glühende, wütende Rot einer Schweißerwerkstatt und die Farbe des Feuers. Ich renne in seine Arme.
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