KAPITEL FÜNF

1264 Words
KAPITEL FÜNF Sie kamen in Seattle an, um zwei Tatorte zu besichtigen: die Stelle des ersten Opfers wurde vor acht Tagen entdeckt und die Stelle des zweiten Opfers wurde erst gestern entdeckt. Mackenzie war noch nie in Seattle gewesen und so war sie schon fast enttäuscht, zu sehen, dass das mit den Stereotypen Städten ziemlich wahr war: es regnete leicht, als sie landeten. Der Nieselregen hielt an, bis sie im Mietauto waren und wurde dann zum ständigen Regen, als sie zu Seattle Storage Solution fuhren, dem Tatort, wo erst vor Kurzem die Leiche entdeckt worden war. Als sie ankamen, wartete ein Mann mittleren Alters auf sie in seinem Pick-up Truck. Er trat heraus, spannte einen Schirm auf und begrüßte sie an ihrem Auto. Er überreichte ihnen mit einem schiefen Lächeln einen Schirm. “Niemand außerhalb der Stadt denkt je daran einen mitzubringen”, erklärte er, als Ellington ihn nahm. Er spannte ihn auf und so ritterlich wie immer ging er sicher, dass Mackenzie ganz darunter stand. „Danke“, sagte Ellington. „Quinn Tuck“, sagte der Mann und bot seine Hand. „Agentin Mackenzie White“, sagte Mackenzie und nahm die angebotene Hand. Ellington machte dasselbe und stellte sich ebenfalls vor. „Dann kommen sie“, sagte Quinn. “Es macht keinen Sinn, das hier zu verzögern. Ich wäre lieber zu Hause, und sie wahrscheinlich auch. Die Leiche ist weg, Gott sei Dank, aber das Lager jagt mir immer noch Angst ein.“ „Ist es das erste Mal, dass so etwas passiert?“, fragte Mackenzie. „Es ist das erste Mal, dass so etwas Schreckliches passiert. Ich hatte mal einen toten Waschbär in einem Lager liegen. Und einmal sind Wespen in einem Lager gewesen und haben ein Nest gebaut und haben den Mieter attackiert. Aber naja … noch nie so etwas Schlimmes.“ Quinn brachte sie zu einem Lagerraum mit einer schwarzen 35 auf der im Garagenstil angebrachten Tür. Die Tür stand offen und ein Polizist wanderte im hinteren Teil des Lagerraums herum. Er trug einen Stift und ein Notizblock und kritzelte etwas darauf, als Mackenzie und Ellington eintraten. Der Polizist wandte sich ihnen zu und lächelte. „Sind sie vom Büro?“, fragte er. „Das sind wir“, sagte Ellington. „Es freut mich, sie kennenzulernen. Ich bin Sheriff Paul Rising. Ich dachte, es wäre gut, wenn ich hier bin, wenn sie ankommen. Ich mache Notizen über alles, was hier gelagert wurde und hoffe irgendwelche Hinweise zu finden. Weil im Moment gibt es überhaupt keine.“ „Waren Sie am Tatort, als die Leiche entfernt wurde?“ „Leider. Es war ziemlich gruselig. Eine Frau namens Claire Locke, Alter fünfundzwanzig. Sie war schon mindestens eine Woche tot. Es ist nicht klar, ob sie zuerst verhungert oder verblutet ist.“ Mackenzie nahm langsam den Zustand des Lagerraums in sich auf. Der hintere Raum war voll mit Kisten, Milchkisten und mehreren alten Koffern – typische Dinge, die man in einem Lagerraum fand. Aber die Blutflecken auf dem Boden ließen es ein wenig anders aussehen. Es waren keine großen Flecken, aber sie nahm an, dass der hohe Blutverlust zum Tod geführt haben könnte. Vielleicht war es nur ihre Vorstellung, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie noch ein wenig von dem Geruch, den die Leiche hinterlassen hatte, riechen konnte. Während Sheriff Rising weiter seiner Aufgabe mit den Kisten und Behältern im hinteren Teil nachging, begannen Mackenzie und Ellington den Rest des Raumes zu untersuchen. Soweit Mackenzie sehen konnte, deutete eine Blutspur auf dem Boden darauf hin, dass es noch etwas Wertvolles zu finden gab. Während sie sich nach Hinweisen umsah, hörte sie Ellington zu, der Rising über die Falldetails befragte. „War die Frau gefesselt oder auf eine Art geknebelt?“, fragte Ellington. “Beides. Die Hände waren hinter dem Rücken gebunden, die Zehen zusammengebunden und sie hatte einer dieser Ballknebel im Mund. Das Blut, das Sie auf dem Boden sehen, kam von einer kleinen Schnittwunde in ihrem Magen.“ Geknebelt und gefesselt erklärte zumindest, warum Claire Locke nicht in der Lage gewesen war, Geräusche zu machen, um Menschen auf der anderen Seite der Lagerwände auf sich aufmerksam zu machen. Mackenzie versuchte sich die Frau in diesem beengten, kleinen Platz vorzustellen, ohne Licht, Lebensmittel oder Wasser. Es machte sie wütend. Während sie langsam im Lagerraum umherging, kam sie zu einer Ecke an der Tür. Regen trommelte vor ihr herunter und klatschte auf den Beton draußen. Aber direkt im Inneren des Metalltürrahmens entdeckte Mackenzie etwas. Es war ganz unten am Boden, direkt am Boden des Rahmens, der die Tür hoch und runter schieben ließ. Sie ließ sich auf ihre Knie fallen und schaute näher hin. Dann sah sie einen Klecks Blut am Rand der Rille. Nicht groß … ziemlich klein eigentlich, sodass sie zweifelte, dass irgendein Polizist es bis jetzt bemerkt hatte. Und dann am Boden direkt unter dem Blutklecks, war etwas Kleines, Abgerissenes und es war weiß. Mackenzie berührte es vorsichtig mit ihrem Finger. Es war ein Stück eines zerrissenen Fingernagels. Irgendwie hatte Claire Locke es geschafft, zu versuchen zu fliehen. Mackenzie schloss ihre Augen einen Moment und versuchte sich das vorzustellen. Je nachdem wie ihre Hände verbunden waren, hätte sie sich mit dem Rücken zur Tür setzen müssen, hinknien und versuchen müssen, die Tür hochzuziehen. Das wäre ein vergeblicher Versuch, wegen des Schlosses außen, aber auf jeden Fall ein Versuch wert, wenn man am Rande war zu verhungern oder zu verbluten. Mackenzie winkte Ellington herüber und zeigte ihm, was sie gefunden hatte. Sie wandte sich dann an Rising und fragte: „Erinnern Sie sich, ob es irgendwelche zusätzlichen Verletzungen an Ms. Lockes Hand gab?“ „Ja, tatsächlich“, sagte er. „Es gab ein paar oberflächliche Schnittwunden an ihrer rechten Hand. Und ich glaube, die meisten ihrer Fingernägel waren nicht mehr da.“ Er kam hinüber, wo Mackenzie und Ellington standen und ließ ein leises „Oh“ hören. Mackenzie suchte weiter, aber fand nichts weiter außer ein paar verirrten Haaren. Haare, von denen sie annahm, dass sie entweder Claire Locke oder dem Besitzer des Lagers gehörten. „Herr Tuck?“, sagte sie. Quinn stand vor dem Lagerraum unter seinem Schirm. Er tat alles Mögliche, um nicht im Lagerraum zu stehen – nicht einmal hineinzusehen. Bei dem Klang seines Namens jedoch trat er zögernd ein. „Wem gehört dieser Lagerraum?“ „Das ist ja das Schlimmste“, sagte er. „Claire Locke hat dieses Lager seit sieben Monaten gemietet.“ Mackenzie nickte und schaute wieder dorthin, wo Lockes Sachen an der Wand in ordentlichen Reihen gestapelt waren. Die Tatsache, dass es ihr Lagerraum war, gab dem ganzen einen noch unheimlicheren Grad, aber sie dachte, das könnte zu ihrem Vorteil arbeiten, um schließlich Motive zu finden oder den Mörder aufzuspüren. “Gibt es hier Sicherheitskameras?”, fragte Ellington. „Ich habe nur eine am Haupteingang“, erwiderte Quinn Tuck. „Wir haben uns schon alles in den letzten Wochen angesehen“, erklärte Sheriff Rising. „Wir haben nichts Ungewöhnliches entdeckt. Im Moment sprechen wir mit allen, die hier in den letzten zwei Wochen aufgetaucht sind. Wie Sie sich vorstellen können, wird das mühsam werden. Wir haben noch ein Dutzend Personen, die wir befragen müssen.“ „Können wir die Ausschnitte selber ansehen?“, fragte Mackenzie. „Natürlich“, erwiderte Rising, obwohl sein Ton sagte, dass sie verrückt war, sich das anzusehen. Mackenzie folgte Ellington in den hinteren Teil des Lagers. Ein Teil von ihr wollte sich einfach durch die Kisten und Kartons wühlen, aber sie wusste, es würde wahrscheinlich zu nichts führen. Sobald sie einen Hinweis oder potenzielle Verdächtigte hatten, würden sie vielleicht etwas Wertvolles finden, die Inhalte innerhalb des Lagerraums würden ihnen nichts bedeuten. „Ist die Leiche noch beim Gerichtsmediziner?“, fragte Mackenzie. „Soweit ich weiß ja“, erwiderte Rising. „Wollen Sie, dass ich anrufe und Bescheid sage, dass sie kommen?“ „Bitte. Und sehen Sie mal, was Sie wegen des Videomaterials tun können.“ „Oh, das kann ich Ihnen schicken, Agentin White“, erwiderte Quinn. „Es ist alles digital. Lassen Sie mich einfach wissen, wohin ich es schicken soll.“ “Kommen Sie”, sagte Rising. “Ich bringe Sie zum Büro des Gerichtsmediziners. Es liegt gleich zwei Stockwerke unter meinem Büro.“ Damit verließen die Vier die Lagereinheit und gingen wieder hinaus in den Regen. Selbst unter dem Regenschirm klang er laut. Der Regen kam langsam, aber prasselte hart herunter. Als wenn es die Anblicke und Gerüche des Lagerraums wegwaschen wollte.
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