Kapitel 5

1534 Words
Zehn Jahre später: Mach weiter, Harley. Geh weiter. Meine Beine schmerzten, und meine Lungen rangen verzweifelt nach Luft. Eine riesige alte Eiche fiel mir ins Auge. Mich auf sie zu stürzen war eine kluge Idee, bis die Rinde in mein ohnehin schon schmerzendes Fleisch biss und sich in meine Handflächen und nackten Füße grub. Darauf kann ich mich jetzt nicht konzentrieren. Weiterschieben. Klettern. Ast für Ast kletterte ich, bis die Äste zu dünn wurden, um mein Gewicht zu halten, und doch waren sie zu nah. Ich spüre, wie sie sich mir nähern, wie ein Raubtier, das seine Beute verfolgt. Verlangsamen Sie Ihren Herzschlag. Atmen. Sie müssen jetzt unter mir sein. Die Luft um mich herum verwandelte sich in etwas anderes, etwas Dickes und Beängstigendes. „Komm heraus, kleiner Vogel.“ Der Ton in Axels Stimme ließ mich zittern. Zum Teufel damit. Sie wissen nicht, dass du hier bist, Harley. Gib nicht nach. *Knacks* Scheiße. Sie klettern den Baum hoch. „Wir sehen dich, kleiner Vogel. Wir wollen nur reden.“ Atlas' dunkle Stimme ließ mein Herz wieder rasen. In meinem Kopf machte sich Panik breit, und der Drang, mich zu übergeben, machte mich schwindelig. Wie hatten sie mich gefunden? In meinem Kopf schwirrten Ideen herum, wie ich von hier wegkommen könnte, weg von den Zwillingsschrecken, die mich unbedingt ruinieren wollten. *Knacks* Die Äste unter mir schwankten. Sie knarrten und ächzten unter ihrem zusätzlichen Gewicht. Was soll ich tun?... Was soll ich tun? SPRINGEN! Ich gab der Stimme nach, die mir einen klaren Ausweg sang. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Entweder breche ich mir die Beine, und sie beenden, was sie angefangen haben, der Sturz tötet mich, oder... ich entkomme. Ich gab mir keine Sekunde Zeit, mich von meiner Angst abhalten zu lassen. Stattdessen sprang ich durch die Äste. Fallend... Fallend. *Dumpf* Ein Stöhnen durchfuhr meine schmerzende Brust, die Bettdecke und das Laken wickelten sich um meine Beine und ließen mich gefesselt auf dem Boden liegen. Der Schweiß klebte mir auf der Stirn, und der Schlaf riss mich auch nach all dem nicht los. Mein Verstand wollte, dass ich um mein Leben rannte. Aber in meinem Kopf war ich immer noch das zerbrechliche sechzehnjährige kleine Mädchen. Die Weichheit des Teppichs und das Geräusch des Regens, der die Stadt verschluckte, ließen mich in der Realität verharren. Tränen brannten in meinen Augen, eine Katharsis, die ich mir nicht erlauben wollte. Reißen Sie sich zusammen. Sie bekommen keine Tränen... sie bekommen gar nichts. Mit einem Stöhnen erhob ich mich vom Boden, warf mein Bettzeug zurück an seinen Platz und machte mein Bett, bevor ich mich an meinen nach Koffein schreienden Körper wandte. Selbst nach zehn Jahren haben die Albträume noch nicht aufgehört. Ich nahm die Treppe zu zweit, die Angst saß mir in den Knochen wie eine ätzende Substanz, die mich zum Schmelzen bringen wollte. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee zog durch die Küche und brachte mich zum Stöhnen. Ich war mir nicht sicher, wie spät es war, aber ich bemerkte, dass das Orange den Himmel noch nicht geküsst hatte. Ich nahm meinen Kaffee mit ins Schlafzimmer, da ein Teil von mir immer noch darum bettelte, sich zu verstecken. Mein Spiegelbild fiel mir im bodenlangen Spiegel ins Auge, eine weitere Erinnerung daran, dass ich nicht mehr das verängstigte junge Mädchen bin. Mein langes schwarzes Haar, das mir um die Taille hängt, ist ein einziges Durcheinander. Meine weiche, blasse Haut war mit eingefärbter Spitze und Blumen bedeckt, die sich eng um jede Kurve wickelten und um jeden Zentimeter meiner Haut tanzten, gemischt mit Bildern von Tod und Drama, die perfekt in einem Sturm von Chaos und Kontrolle koexistierten. Andrew kam verärgert durch meine Tür, sein Klemmbrett an die Brust geklebt. „Ich kann heute einfach nicht mehr leben, Harley. Können wir nicht einfach im Bett bleiben?“, schnaufte er, warf sein Klemmbrett irgendwo hin, stellte seinen Kaffee auf den Nachttisch und kroch in mein bereits gemachtes Bett. Das ist für uns zur Routine geworden. Wir koffeinieren, beschweren uns und machen dann mit dem Tag weiter. „Ich verstehe nicht, warum du, der eigentlich der Chefkrieger dieses Rudels sein sollte, oder besser noch Gamma, seien wir ehrlich, und ich, die unwürdige Gamma, dieses Rudel trainieren müssen! Ich hasse es... ich liebe es, natürlich. Aber ich hasse es.“ Er pustete und schlug sein Haar zur Seite. „Du bist eine erstaunliche Gamma. Ich könnte keine Gamma sein und würde es auch lieber nicht. Der einzige Grund, warum ich überhaupt ein anständiger Krieger bin, ist, dass ich ständig sehr bitterböse bin. Und schließlich trainieren wir das Rudel, weil es unsere Aufgabe ist.“ Ich nippte an meinem Kaffee und hielt ihm dieselbe Rede, die ich seit sechs Jahren jeden Morgen halte. Als Nächstes stürmte Byron herein, ohne anzuklopfen. Er nahm die andere Seite des Bettes neben Andrew ein. „Was steht heute auf dem Programm?“, stahl er Andrew den Kaffee und erntete dafür ein Gejammer von seinem besten Freund. „Training.“ Ich schnaufte und suchte in den Tiefen meines Kleiderschranks nach dem Adidas, das ich gestern gesehen hatte. „Du solltest wirklich nicht so trocken sein mit deiner Alpha-Harley.“ Er plusterte sich auf. „Ohhh - ich entschuldige mich, Alpha. Ich wollte sagen, dass wir denselben Scheiß machen, den wir jeden Tag machen. Es ist nur ein neuer Tag. Jetzt gib Drew seinen Kaffee, bevor seine Tränen meine Seidenlaken beflecken.“ Byron und Andrew sind seit dem Tag des Vorfalls, der mich in Evergreens Rudelgebiet zurückgelassen hat, meine besten Freunde. Byron war damals gerade siebzehn und trainierte noch dafür, eines Tages die Rolle des Alphas zu übernehmen. Ich war nur ein dürres sechzehnjähriges Mädchen, das sein Vater bemitleidete. Trotz dieses Mitleids habe ich hier ein Zuhause gefunden. Er ließ angesichts meines Trotzes die Luft ab und ließ einen Seufzer hinter einem Lächeln hervor. „Dann lasst uns loslegen. Ich habe heute zwei Meetings hintereinander, also werde ich nicht da sein, und vergesst nicht, dass wir heute Abend um sechs Uhr Amaris Geburtstagsessen haben.“ Er ging hinaus und zerzauste mir auf dem Weg nach draußen noch mehr die Haare. Selbst nachdem Byron Amari und Andrew Clayton gefunden hatten, behandelten sie mich immer noch wie ihre kleine Schwester. Ich bin froh, dass ich sie trotz allem habe. Andrew schwafelte immer noch, als ich den Schrank betrat. Ich wühlte mich durch meine Berge von Müll, bis ich endlich einen schwarzen Sport-BH und eine Trainingsshorts fand. Leider konnte ich meine Adidas nicht finden, also schnappte ich mir meine klapprigen Converse und lachte, als Andrews Drama sofort abebbte, damit er seine Meinung über meine „hässliche“ Schuhwahl kundtun konnte. Zögerlich machten wir uns auf den Weg zum Trainingsgelände, um uns für heute einzurichten. Zum Glück geht es heute um Waffen und Kämpfe in menschlicher Form, was meine Stärke ist, denn mein Wolf ist nach dem Vorfall inaktiv geworden. Ich konnte mich seitdem nicht mehr verwandeln. Ich weiß, dass sie immer noch bei mir ist; hin und wieder spüre ich sie in den dunkelsten Teilen meines Geistes rascheln, aber nie mehr als das. Als wir begannen, ließ ich die Angst und Wut aus meinem Albtraum mich durch das Training treiben. Sie gaben mir einen zusätzlichen Schub, um nach etwas Neuem zum Lernen oder einer Möglichkeit zu suchen, meine Techniken zu verbessern. Nach dem Training rannte ich nach Hause, um zu duschen und mich für Amaris Abendessen anzuziehen. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich ihr schenken sollte, also entschied ich mich für eine Designer-Tasche in ihrer Lieblingsfarbe. Girlkram, weißt du? Nur dreißig Minuten nach dem Abendessen klingelte mein Handy. Was seltsam ist, denn die Leute, mit denen ich regelmäßig spreche, sind bereits hier. Der Name, der auf dem Bildschirm blinkte, machte mir Angst im Hals. Verdammt... es ist Denny. „Entschuldigt, Leute. Ich muss das mal annehmen.“ Verabschiedete ich mich, zog mich widerwillig nach draußen. Die kühle Nachtluft peitschte in sanften Strähnen und wehte mir mein Haar durcheinander. „Denny. Lange nicht gesehen.“ Ich sehe keinen Sinn darin, formelle Grüße mit irgendjemandem in meiner Familie auszutauschen. Ich liebe sie, aber nachdem ich das Clearwater-Rudel verlassen hatte, ohne die Absicht zurückzukehren, war die Art und Weise, wie sie mein Leben und meine Entscheidungen begannen zu betrachten, nichts anderes als ein Urteil, trotz meines Erfolgs hier. „Harls... es ist Zeit, nach Hause zu kommen.“ Seine Stimme war wie eine hübsche melancholische Melodie. Ich versuchte, die Gleichgültigkeit in meiner Stimme zu verstecken, aber er wusste, dass ich lieber sterben würde, als den Grimm-Zwillingen gegenüberzutreten. Und zu guter Letzt würden Axel und Atlas Grimm mich eher töten wollen, als mich in ihrem Gebiet zu haben. „Das ist nicht möglich.“ Erwiderte ich ausdruckslos. Ich bin seit diesem Tag nicht zurückgekehrt und habe nicht vor, diese Serie zu unterbrechen. Diese Bastarde haben mir geschworen, dass ich sie nie wieder sehen würde, an dem Tag, an dem sie mich ruiniert haben, und ich halte fest an diesem Versprechen. „Harley... Mama und Papa wurden letzte Nacht bei einem Angriff von Streunern getötet. Ich brauche dich... wir... müssen ihre Beerdigungen organisieren. Ich kann das nicht alleine machen. Dir wurde der Zugang zu Clearwater zurückgewährt. Komm nach Hause. Bitte?“
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD