Yachats, Oregon:
Vor sechsundzwanzig Jahren
Der siebenjährige Asahi Tanaka lugte neugierig hinter dem langen Sofa hervor und zuckte zusammen, als sein Vater beim Verlassen des Hauses die Haustür hinter sich zuschlug. Asahi hatte sich versteckt, um das Gespräch zwischen seinem Vater und dem Mann zu belauschen, der sich als Aiko, sein Großvater, vorgestellt hatte.
Sie waren gerade von Babas Beerdigung zurückgekehrt, deshalb war der heutige Tag schon schwer genug, auch ohne dass der Zorn seines Vaters überkochte. Doch kaum hatte Hinata Tanaka das Haus betreten, hatte er Aiko angeschrien. Ihr Gespräch war schnell hitzig geworden – vor allem, weil sein Vater sich weigerte, Aikos Erklärung darüber anzuhören, wo er gewesen war.
Asahi legte den Kopf schief, als er das Quietschen der Reifen des Sportwagens seines Vaters hörte. Wieder einmal hatte sein Vater ihn vergessen. Baba, Asahis Großmutter, wäre wütend gewesen, wenn sie noch am Leben wäre. Sie hatte sich immer darüber beschwert, dass sein Vater auf den engen, kurvenreichen Straßen hier zu schnell fuhr.
Bei dem Gedanken an seine Großmutter brannten Tränen in seinen Augen. Als sich eine aus dem Augenwinkel löste und über seine Wange kullerte, hob er die Hand und wischte sie weg. Baba hätte ihn dafür gescholten, dass er um sie weinte.
„Asahi, ich weiß, dass du da bist. Bitte komm raus“, sagte der Mann, der auf dem Sessel saß.
Asahi kroch langsam hinter dem Sofa hervor und stand auf. Er blickte den Mann an, der aussah, als wäre er genauso alt wie sein Vater. Sie sahen sich so ähnlich, dass man Aiko und seinen Vater für Zwillinge hätte halten können.
„Komm, setz dich, damit wir reden können“, bat Aiko Tanaka sanft.
Asahi straffte seine schmalen Schultern und hob den Kopf. Schweigend ging er zum Lieblingssessel seiner Großmutter und setzte sich. Die makellosen weißen Deckchen, die sie gehäkelt hatte, waren über alle Armlehnen des grünen, blumengemusterten Polstermöbels drapiert. Er schluckte und wartete, während sein Großvater ihn musterte.
Aiko seufzte und betrachtete das Bild, das er in der Hand hielt. Asahi sah sich das Foto ebenfalls an. Es war ein altes Bild von Baba, seinem Vater als Kind, und Aiko – Aiko sah genauso aus wie jetzt.
„Wie … wie kann das sein?“, fragte Asahi mit stockender Stimme.
Aiko lächelte ihn an. „Das ist eine lange Geschichte. Eine, die ich gerne mit deiner Baba geteilt hätte und die ich deinem Vater in allen Einzelheiten erzählen werde, wenn er es erlaubt. Ich würde sie auch dir gerne erzählen, wenn du sie hören möchtest“, sagte er.
Asahi nickte eifrig. „Ja. Ich liebe Geschichten. Baba hat mir viele Geschichten erzählt“, antwortete er schüchtern.
Aiko gluckste. „Deine Großmutter war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Diese hier hätte ihr gefallen. Meine Geschichte beginnt an einem nebligen Morgen vor vierzig Jahren …“, fing er an und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Asahi hörte gebannt zu, als sein Großvater von seiner unglaublichen Reise in eine andere Welt erzählte, einer Welt voller Magie, Drachen, Riesen, Hexen, Piraten – und Monster. Die Wunder der Sieben Königreiche regten Asahis Fantasie an.
Während sie zu Abend aßen, brach die Dunkelheit herein. Sein Großvater hielt inne und starrte ihn schweigend an, dann drehte er sich in seinem Sessel um, öffnete eine Tasche, die daran hing, und zog einen verzierten Dolch heraus. Oben auf dem Griff befand sich ein kleiner geflügelter Löwe aus Gold. Aiko hielt ihn behutsam in seinen Händen.
Fasziniert betrachtete Asahi die seltsamen Symbole, die in die dicke Lederscheide eingeprägt waren. Sein Großvater legte den Dolch vor ihm auf den Tisch und nickte ihm zu. Asahis Blick blieb auf dem aufwändig verzierten Löwen haften.
„Dieser Dolch war das Geschenk eines guten Freundes. Jahrelang hegte ich den Wunsch, ihn deinem Vater zu geben, aber ich war mir nicht sicher, ob ich jemals nach Yachats zurückkehren würde“, erklärte Aiko leise.
Asahi legte den Kopf schief. „Baba sagte, dass Vater Dinge, die er bekommt, nicht immer so zu schätzen weiß, wie er es sollte. Sie hat dich vermisst. Ich fand es immer schön, wenn sie mir Geschichten über dich erzählt hat“, gestand er.
Aiko lächelte und schob ihm den Dolch hin. „Dann werde ich diesen magischen Dolch dir schenken“, sagte er.
Ein Klopfen an der Haustür hinderte Asahi daran zu sagen, was er sagen wollte. Er wartete, bis Aiko im Wohnzimmer war, bevor er mit den Fingern über den Griff des Dolches strich. Überrascht stellte er fest, dass der mit roten Juwelen besetzte Griff aufleuchtete. Er zog seine Hand weg.
Als er den heiseren Schrei seines Großvaters hörte, stand er auf. Asahi ging zu dem Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer. Er spähte um die Ecke, um zu sehen, wer an der Tür war. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er sah, dass ein Polizist mit Aiko sprach.
„Wo ist es passiert?“, fragte sein Großvater mit zittriger Stimme.
„Auf dem Highway 101. Anscheinend hat er in der Kurve die Kontrolle verloren und ist gegen die Leitplanke geprallt. Sein Auto ist über die Böschung und die Klippe hinuntergestürzt. Jemand hat gemeldet, dass er das Auto unten in der Schlucht gesehen hat. Er ist bei dem Aufprall gestorben. Es tut mir leid“, erklärte der Polizeibeamte.
„Nein“, flüsterte Asahi. Tränen liefen ihm und seinem Großvater über das Gesicht. Wut durchflutete seinen Körper.
„Asahi“, begann sein Großvater.
„Es ist alles ihre Schuld“, flüsterte Asahi.
Der Polizist sah ihn an und runzelte die Stirn. „Wessen Schuld, Kleiner?“, fragte er.
Asahi sah seinen Großvater an. „Die der Monster. Wenn sie dich nicht entführt hätten, wärst du für Baba und Vater da gewesen. Sie hätten dich nicht mitnehmen dürfen. Die Monster sind der Grund, warum Baba und Vater tot sind“, murmelte er grimmig.
Er wartete nicht, bis der Polizist oder sein Großvater antworteten. Nichts, was sie sagten, würde seine Großmutter oder seinen Vater zurückbringen. Er eilte zurück in die Küche, schnappte sich den Dolch vom Tisch und ein Geschirrtuch von der Theke und verließ die Küche durch die Hintertür.
Die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen, vermischten sich mit dem feuchten Nebel, als er den unebenen Weg in den Wald hinter ihrem Haus entlangeilte. Nach etwa hundert Metern blieb er stehen und atmete mehrmals zitternd die kühle Luft ein. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über das Gesicht.
Neben dem Weg befand sich ein Felsvorsprung, auf dem er oft gespielt hatte. Er ließ sich daneben auf den Boden sinken und legte den Dolch seines Großvaters und das Geschirrtuch neben sich ab.
Es dauerte ein paar Minuten, bis er die Erde, die er an einer Seite der Felsen aufgehäuft hatte, weggeschafft hatte. Er suchte den Boden ab, bis er den großen, losen Stein fand, der sein geheimes Versteck bedeckte. Er löste den Stein, legte ihn beiseite und griff in den kleinen Spalt. Darin befanden sich die Schätze, die er im Laufe des letzten Jahres gesammelt hatte. Er kramte die Steine, Muscheln und eine Reihe von Spielsachen hervor, die er in dem Hohlraum versteckt hatte, und warf sie beiseite.
Vorsichtig wickelte Asahi das Geschirrtuch um den Dolch, bevor er ihn in den Hohlraum schob. Anschließend legte er den Stein wieder über den Hohlraum und versteckte ihn, indem er ihn mit noch mehr Steinen und Erde bedeckte.
Als er sicher war, dass niemand den Dolch finden würde, kehrte er auf den Weg zurück. Der schwere Nebel ging in einen leichten Regen über, der das Hemd und die Hose, die er noch von der Beerdigung trug, durchnässte. Seine Kleidung war mit dunklen Schmutzflecken übersät, aber das war ihm egal.
Asahi ging langsam zum Haus zurück, zitternd vor Kälte und Schock. Sein Großvater stand in der Tür und wartete auf ihn. Er blieb stehen, und sie starrten sich eine Weile schweigend an, bevor Aiko aus dem Haus trat, durch den Regen ging und vor ihm stehenblieb.
Er zitterte, als Aiko ihm eine warme Hand auf die Schulter legte. „Wir werden neu anfangen, Asahi. Yachats birgt zu viele Erinnerungen für uns beide“, verkündete sein Großvater leise.
„Ich habe dein magisches Messer versteckt“, gestand Asahi.
Aiko nickte verständnisvoll. „Dann weißt du, wo es ist, wenn du bereit bist“, antwortete er.
Asahi warf sich in Aikos ausgebreitete Arme und umklammerte die Taille seines Großvaters. Leise Schluchzer erschütterten seinen Körper. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es sich bei dem Regen um Babas Tränen handelte, und sie mit ihm weinte.