KAPITEL EINS
KAPITEL EINS
Gwendolyn stand am Ufer der Oberen Inseln und blickte hinauf auf den Ozean. Mit Schrecken betrachtete sie, wie Nebel aufzog, und ihr Baby verschlang. Es brach ihr das Herz, als sie Sah, wie das kleine Boot mit Guwayne von den Wellen immer weiter in Richtung Horizont davongetragen wurde und schließlich im Nebel verschwand. Die Gezeiten würden ihn Gott weiß wohin tragen und mit jedem Augenblick entfernte er sich weiter von ihr.
Tränen rollten über Gwendolyns Gesicht als sie zusah, doch sie konnte den Blick nicht abwenden, war wie gelähmt. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und spürte ihren Körper nicht mehr. Ein Teil von ihr starb als sie zusah, wie der Mensch, den sie auf der Welt am meisten liebte, aufs Meer hinausgetragen wurde. Ein Teil von ihr wurde mit ihm von den Wellen ins Ungewisse getrieben.
Gwendolyn hasste sich für das, was sie gerade getan hatte, doch gleichzeitig wusste sie, dass es das einzige war, was ihr Kind vielleicht retten konnte. Sie hörte Donnergrollen am Horizont hinter sich, und wusste, dass bald die ganze Insel vom Feuer der Drachen verzehrt werden würde – und nichts auf der Welt konnte sie retten. Nicht Argon, der sich immer noch in einem hilflosen Zustand befand; nicht Thorgrin, der sich irgendwo am anderen Ende der Welt befand, im Land der Druiden; nicht Alistair oder Erec, die auch weit entfernt auf den Südlichen Inseln waren; und nicht Kendrick oder die Silver oder irgendeiner der anderen tapferen Männer, die hier waren – keiner von ihnen hatte, was nötig war, um einen Drachen zu bekämpfen. Sie brauchten Magie – und das war das Eine, das ihnen nicht zur Verfügung stand.
Sie hatten Glück gehabt, dem Massaker im Ring überhaupt entkommen zu sein, und nun, das wusste sie, hatte das Schicksal sie eingeholt. Es gab keinen Ausweg mehr, keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnten. Es war an der Zeit, sich dem Tod zu stellen, der sie so lange verfolgt hatte.
Gwendolyn drehte sich um und blickte gen Himmel. Selbst von hier aus konnte sie sehen, wie die riesige Schar der Drachen den Himmel verdunkelte. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit; sie wollte nicht alleine hier am Ufer sterben. Sie wollte bei ihrem Volk sein, und es so gut sie konnte verteidigen.
Sie blickte aufs Meer hinaus, in der Hoffnung, noch einen letzten Blick auf Guwayne erhaschen zu können.
Doch da war nichts. Guwayne war schon weit fort, irgendwo hinter dem Horizont, auf dem Weg in eine Welt, die sie niemals sehen würde.
Bitte Gott, betete Gwendolyn, wache über ihn. Nimm mein Leben an seiner statt. Ich bin bereit, alles dafür zu tun. Bring ihn in Sicherheit. Und erlaube mir, ihn bald wieder in den Armen halten zu können. Ich flehe dich an. Bitte.
Gwendolyn öffnete ihre Augen. Sie hoffte ein Zeichen zu sehen, vielleicht einen Regenbogen am Himmel – irgendetwas.
Doch der Himmel blieb leer. Dicke, schwarze Wolken hingen bedrohlich über ihr, gerade so, als ob das Universum wütend auf sie war für das, was sie getan hatte.
Schluchzend wandte sie sich vom Meer ab und rannte in Richtung ihres Volkes. Es war alles, was ihr geblieben war, und sie wollte in der letzten Schlacht an ihrer Seite stehen.
*
Gwendolyn stand auf den Zinnen von Tirus‘ Festung, umgeben von ihren Leuten – unter ihnen ihre Brüder Kendrick, Reece, und Godfrey; Matus und Stara, die überlebenden Kinder ihres Onkels Tirus; Steffen, Aberthol, Srog, Brandt, Atme, und die verbliebenen Angehörigen der Legion. Alle betrachteten sie ernst den Himmel. Sie wussten, was auf sie zukam.
Als sie den Fernen Schreien lauschten, die die Erde erzittern ließen, standen sie hilflos da und beobachteten, wie Ralibar für sie sein Leben in die Waagschale warf. Ein einzelner Drache, der eine riesige Herde feindlicher Drachen abhielt. Gwendolyns Herz schwoll vor Stolz, als sie ihm zusah, so tapfer, so mutig, ein Dache allein gegen Dutzende, und doch war er furchtlos. Ralibar spie Feuer auf die anderen Drachen, griff sie mit seinen scharfen Krallen an und kratzte sie, hielt sie fest, und biss ihnen in die Hälse. Er war nicht nur grösser und stärker als die anderen, er war auch schneller. Ein unglaublicher Anblick.
Gwendolyn fasste ein wenig Hoffnung; tief im Inneren hoffte, sie, dass Ralibar sie besiegen konnte. Sie sah zu, wie Ralibar einem feurigen Angriff auswich, indem er im Sturzflug in die Tiefe tauchte, wobei er einem Angreifer seine Krallen in die Brust rammte und ihn mit sich aufs Meer zu riss.
Einige andere Drachen spien Feuer auf Ralibar, als er hinabtauchte, und Gwendolyn sah erschrocken zu, wie Ralibar und der andere Drache von einem Feuerball eingehüllt aufs Wasser zustürzten. Der Drache wehrte sich, doch Ralibar nutzte seine körperliche Überlegenheit, ihn mit sich zu reißen – und bald stürzten sie unter lautem Zischen in die Wellen. Dampfwolke stiegen auf, als das Wasser die Flammen löschte.
Gebannt sah Gwendolyn zu. Sie betete zu Gott, dass Ralibar den Sturz überlebt hatte – und Augenblicke später tauchte Ralibar auf. Auch der andere Drache tauchte auf, doch sein lebloser Körper tanzte auf den Wellen; er war tot.
Ohne zu zögern schoss Ralibar in die Höhe, auf die anderen Drachen zu, die sich auf ihn stürzten. Sie kamen mit weit aufgerissenen Mäulern auf ihn zu – doch Ralibar griff sie furchtlos an: Er hieb mit seinen Krallen auf sie ein, breitete seine riesigen Flügel aus, umfasste zwei von ihnen und riss sie in die Tiefe.
Ralibar konnte sie festhalten, doch währenddessen stürzten sich dutzende anderer Drachen auf seinen ungeschützten Rücken. Gemeinsam stürzten sie auf die Wellen zu. Ralibar, so tapfer er auch kämpfen mochte, war der zahlenmäßigen Übermacht unterlegen. Er tauchte um sich schlagend ins Wasser ein, festgehalten von unzähligen anderen Drachen, die wütend kreischten.
Gwendolyn schluckte. Es brach ihr das Herz zu sehen, wie Ralibar alleine da draußen für sie alle kämpfte. Sie wünschte sich, ihm helfen zu können. Sie starrte gebannt aufs Meer hinauf, hoffend, und wartete darauf, dass Ralibar wieder auftauchte.
Doch zu ihrem großen Schrecken tauchte er nicht wieder auf.
Einer nach dem anderen kamen die anderen Drachen wieder an die Oberfläche und erhoben sich, um sich hoch oben am Himmel wieder zu sammeln und sich wieder auf die Oberen Inseln zu konzentrieren. Sie schienen Gwendolyn direkt anzusehen, als sie mit lautem Brüllen ihre Flügel spreizten.
Gwendolyns Herz brach. Ihr geliebter Freund Ralibar, ihre letzte Hoffnung, ihre letzte Verteidigungslinie, war tot.
Sie sah ihre Männer an, die schockiert aufs Meer hinausstarrten. Sie wussten, was nun auf sie zukam: eine unaufhaltsame Welle der Zerstörung.
Gwendolyn war verzweifelt; sie öffnete den Mund, doch ihr fehlten die Worte.
„Läutet die Glocken“, sagte sie schließlich mit gebrochener Stimme. „Befehlt den Leuten, Schutz zu suchen. Alle müssen sofort unter die Erde. In die Höhlen, in Keller – egal wohin, nur weg von der Oberfläche. Gebt den Befehl!“
„Läutet die Glocken!“, schrie Steffen in den Hof hinunter, während er über den Wehrgang rannte. Sofort schallten die Glocken über den Platz. Hunderte ihrer Bürger, Überlebende des Rings, rannten um ihr Leben, suchten Zuflucht in den Höhlen am Rande der Stadt oder in den Kellern unter den Gebäuden, und bereiteten sich auf die unaufhaltsame Welle des Feuers zu, die bald über sie hinwegrollen würde.
„Meine Königin“, sagte Srog. „Vielleicht können wir hier im Fort Zuflucht finden. Schließlich ist es aus Stein gebaut.“
Gwendolyn schüttelte wissend den Kopf.
„Du verstehst die Drachen nicht“, sagte sie. „Nichts an der Oberfläche ist sicher. Absolut nichts.“
„Aber Mylady. Vielleicht sind wir im Fort doch sicher. Es hat schließlich Jahrhunderte überdauert. Die Mauern sind mehr als einen halben Meter d**k. Wäret Ihr nicht lieber hier als unter der Erde?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie hörte das Brüllen der Drachen und sah, dass sie immer näher kamen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie die Drachen Feuer auf ihre Flotte hinabregnen ließen, die im fernen südlichen Hafen lag. Sie sah zu, wie ihre kostbare Flotte, ihre Lebensader, wunderschöne Schiffe, deren Bau Jahrzehnte gedauert hatte, zu Asche verbrannte.
Da sie den Angriff erwartet hatte, hatte sie einige Schiffe hinter die Klippen vor der Küste auf der anderen Seite der Insel geschickt. Wenn sie überleben sollten, dann blieben ihnen wenigsten diese. Wenn sie überleben sollten.
„Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wir müssen sofort von hier weg. Folgt mir!“
Die Männer folgten Gwendolyn die spiralförmige Treppe hinunter. Instinktiv wollte Gwendolyn dabei Guwayne umklammern – und wieder durchfuhr sie unglaublicher Schmerz, als sie bemerkte, dass er fort war. Es war, als fehlte ein Teil von ihr, als sie die Treppen hinuntereilte um sich in Sicherheit zu bringen. Sie konnte hören, dass die Schreie der Drachen näher kamen, und spürte, dass der Boden unter ihnen zitterte. Wieder schickte sie ein Stoßgebet für Guwaynes Sicherheit gen Himmel.
Sie stürmte aus dem Fort und rannte mit den anderen über den Hof auf den Eingang des Kerkers zu, in dem nun keine Gefangenen mehr saßen. Davor warteten einige Krieger, die die massiven Eisentüren öffneten, um sie einzulassen. Bevor sie eintraten, wandte sich Gwendolyn ihren Leuten zu.
Sie sah, dass einige noch auf dem Hof umherirrten und wirr durcheinanderschrien.
„Kommt her“, rief sie. „Wir müssen unter die Erde! Kommt!“
Sie trat beiseite. Bevor sie hinunterging wollte sie sicher sein, dass alle Menschen sicher in der Finsternis des Kerkers verborgen waren.
Die letzten, die bei ihr stehen blieben, waren ihre Brüder, Kendrick, Reece und Godfrey, gemeinsam mit Steffen. Gemeinsam blickten sie zum Himmel auf, als sie wieder einen markerschütternden Schrei hörten.
Die Drachen waren nur noch wenige hundert Meter entfernt, und Gwen konnte ihre wütenden Gesichter sehen. Sie hatten ihre Mäuler weit aufgerissen, als könnten sie es nicht abwarten, alles zu zerstören.
So sieht also der Tod aus, dachte Gwendolyn.
Sie blickte sich noch ein letztes Mal um, und sah, dass etliche Menschen sich in ihren neuen Häusern verbarrikadiert hatten und sich weigerten, unter die Erde zu gehen.
„Ich habe ihnen befohlen, nach unten zu gehen!“, schrie Gwendolyn aufgebracht.
„Einige unserer Leute haben auf dich gehört“, sagte Kendrick, der sie traurig ansah, „doch viele weigern sich.“
Der Schmerz zerriss Gwendolyn innerlich. Sie wusste, was mit jenen geschehen würde, die in ihren Häusern blieben. Warum mussten ihre Leute nur so halsstarrig sein?
Und dann geschah es. Der erste Drache begann Feuer zu speien – noch weit genug entfernt, um sie nicht zu verbrennen, doch nah genug, dass Gwendolyn die Hitze der Flammen spüren konnte.
Mit Schrecken hörte sie die Schreie der Menschen, die sich dazu entschlossen hatten, über der Erde in ihren Häusern oder im Fort auszuharren. Das steinerne Fort, das vor wenigen Augenblicken noch so uneinnehmbar gewirkt hatte, stand nun in Flammen. Gwendolyn schluckte. Wenn sie im Fort geblieben wären, wären sie nun alle totgeweiht.
Wie die Menschen, die brennend und schreiend durch die Straßen rannten, bevor sie tot zusammenbrachen. Der schreckliche Geruch von brennendem Fleisch füllte die Luft.
„Mylady“, drängte Steffen. „Wir müssen in den Kerker. Sofort!“
Gwen konnte sich kaum losreißen, doch sie wusste, dass er Recht hatte. Sie ließ sich von den anderen mitziehen, durch die Türen, die Treppen hinunter, in die Finsternis, während die Wand auf Flammen unaufhaltsam auf sie zuraste. Die Stahltüren wurden nur Sekunden, bevor sie das Feuer erreichte, verschlossen. Das Krachen der zuschlagenden Türen fühlte sich an, als ob auch in ihrem Herzen eine Tür zugeschlagen wurde.