KAPITEL FÜNF
Caitlin und Caleb traten unter dem gewaltigen Torbogen der Westminster Abbey hervor ins Morgenlicht, mit Ruth an den Fersen. Sie beide kniffen instinktiv die Augen zusammen und hoben ihre Hände gegen das Licht, und Caitlin war dankbar, dass Caleb ihr die Augentropfen gegeben hatte, bevor sie herauskamen. Ihre Augen brauchten ein paar Momente, bevor sie sich angepasst hatten. Langsam kam die Welt von London im Jahr 1599 klar in den Blick.
Caitlin staunte. Paris 1789 war nicht allzu unterschiedlich von Venedig 1791 gewesen. Aber London 1599 war eine andere Welt. Sie war schockiert davon, was 190 Jahre ausmachten.
Vor ihr erstreckte sich London. Doch es war keine geschäftige Metropole. Es fühlte sich eher an wie eine große, ländliche Stadt mit großen, leeren Bauplätzen, die noch in Arbeit waren. Es gab keine befestigten Straßen—alles war Erdboden—und obwohl es viele Gebäude gab, gab es noch viel mehr Bäume. Eingebettet zwischen den Bäumen waren grob angelegte Blocks und Reihen von Häusern, viele von ihnen unregelmäßig. Die Häuser waren alle aus Holz gebaut, mit riesigen Strohdächern. Sie konnte auf einen Blick sehen, wie brennbar diese Stadt war; so gut wie alles war aus Holz gebaut, und Stroh war oben auf allen Häusern, und sie erkannte, wie stark sie einem Feuer ausgesetzt war.
Sie konnte sofort sehen, dass die unbefestigten Straßen es schwierig machten, voranzukommen. Das Reisen zu Pferd schien die bevorzugte Art, und gelegentlich zog ein Pferd, oder eine Pferdekutsche, vorbei. Doch das war die Ausnahme. Die meisten Menschen liefen zu Fuß—oder besser gesagt, stolperten. All jene, die zu Fuß auf den schlammigen Straßen unterwegs waren, schienen um ihr Gleichgewicht zu ringen.
Sie sah, dass die Straßen von Kot gesäumt waren, und der Gestank schlug ihr von Weitem ins Gesicht. Es half nicht, dass ab und zu auch ein Rind vorbeizog. Falls sie je gedacht hatte, eine Reise in die Vergangenheit wäre romantisch, dann brachte sie dieser Anblick gewiss zum Nachdenken.
Noch dazu sah sie in dieser Stadt die Leute nicht in ihrer feinsten Kleidung vorbeispazieren, mit Sonnenschirmen in der Hand, die neueste Mode vorführend, wie es in Paris und Venedig der Fall gewesen war. Vielmehr waren sie hier schlichter gekleidet, mit viel älter aussehender Kleidung, die Männer entweder in einfacher Bauernkleidung, nicht viel besser als Lumpen, und nur wenige von ihnen in weißen Kniehosen und kurzen Tuniken, die wie Röcke aussahen. Was die Frauen anging, waren die immer noch in so viel Stoff gehüllt, dass es ihnen schwerfiel, die Straßen zu bewältigen, während sie die Rocksäume gepackt hatten und so hoch hielten, wie sie nur konnten—nicht nur, um sie vom Schlamm und Kot fernzuhalten, sondern auch von den Ratten, die Caitlin schockiert bei helllichtem Tag herumwimmeln sehen konnte.
Und doch, trotz alldem, war diese Zeit gewiss einzigartig—und zumindest entspannt. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem großen Dorf am Land. Das hektische Treiben des 21. Jahrhunderts gab es nicht. Es gab keine Autos, die vorbeirasten; keinen Baulärm. Keine Hupen, Busse, LKWs, Maschinen. Sogar die Geräusche der Pferde waren gedämpft, da ihre Hufe in der Erde versanken. Tatsächlich waren, abgesehen von den Rufen der Straßenverkäufer, die einzigen lauten Geräusche die Kirchenglocken, die allgegenwärtig läuteten, wie ein Chor von Bomben durch die gesamte Stadt. Dies war eindeutig eine Stadt, die von Kirchen dominiert war.
Das Einzige, was die zukünftige Bebauung leise erahnen ließ, waren paradoxerweise die uralten Kirchen—sie erhoben sich hoch über den Rest der bescheidenen Bauten und dominierten das Stadtbild mit unmöglich hoch aufragenden Kirchtürmen. Tatsächlich ragte das Gebäude, aus dem sie kamen, Westminster Abbey, hoch über allen anderen Gebäuden in Sichtweite auf. Sie konnte jetzt schon erkennen, dass ihr Kirchturm ein Orientierungspunkt für die gesamte Stadt war.
Sie blickte zu Caleb hinüber und sah, wie er gleichermaßen erstaunt die Szenerie betrachtete. Sie streckte die Hand aus und war glücklich, seine Hand in ihrer zu spüren. Es fühlte sich so gut an, wieder seine Berührung zu fühlen.
Er drehte sich zu ihr herum, und sie konnte die Liebe in seinen Augen lesen.
„Nun denn“, sagte er und räusperte sich, „es ist nicht ganz das Paris des 18. Jahrhunderts.“
Sie lächelte zurück. „Nein, das ist es nicht.“
„Aber wir sind zusammen, und nur darauf kommt es an“, fügte er hinzu.
Sie konnte seine Liebe spüren, als er ihr tief in die Augen blickte, und einen Moment lang war sie von ihrer Mission abgelenkt.
„Es tut mir so leid, was in Frankreich passiert ist“, sagte er. „Mit Sera. Ich wollte dir niemals wehtun. Ich hoffe, das weißt du.“
Sie sah ihn an und konnte sehen, dass er es ernst meinte. Und zu ihrer Überraschung spürte sie, dass sie ihm nun mit Leichtigkeit verzeihen konnte. Die alte Caitlin wäre nachtragend gewesen. Doch sie fühlte sich stärker als je zuvor, und wahrhaft in der Lage, es gut sein zu lassen. Besonders, da er zu ihr zurückgekommen war, und besonders, seit klar war, dass er nichts für Sera empfand.
Noch dazu erkannte sie erstmals ihre eigenen Fehler der Vergangenheit, ihre vorschnellen Urteile, ihr fehlendes Vertrauen in ihn, dass sie ihm nicht genug Freiraum gelassen hatte.
„Mir tut es auch leid“, sagte sie. „Das hier ist jetzt ein neues Leben. Und wir sind gemeinsam hier. Das ist das Einzige, was zählt.“
Er drückte ihre Hand, und dabei spürte sie ein Kribbeln, das sie durchfuhr.
Er beugte sich vor und küsste sie. Sie war überrascht und aufgeregt zugleich. Sie spürte die Elektrizität durch sie fließen, und sie erwiderte seinen Kuss.
Ruth begann, zu ihren Füßen zu winseln.
Sie trennten sich, sahen hinunter und lachten.
„Sie hat Hunger“, sagte Caleb.
„Ich auch.“
„Wollen wir uns London ansehen?“, sagte er grinsend. „Wir könnten fliegen“, fügte er hinzu. „Das heißt, wenn du soweit bist.“
Sie rollte ihre Schultern zurück und spürte dort ihre Flügel, und fühlte, dass sie tatsächlich soweit war. Sie fühlte sich von dieser Reise erholt. Vielleicht gewöhnte sie sich endlich an das Zeitreisen.
„Das bin ich“, sagte sie, „aber ich würde gern spazieren. Ich möchte meine erste Erfahrung mit diesem Ort wie jeder andere auch machen.“
Und außerdem ist es romantischer, dachte sie bei sich, doch sprach es nicht aus.
Doch er blickte hinunter und lächelte sie an, und sie fragte sich, ob er ihre Gedanken gelesen hatte.
Er streckte lächelnd die Hand aus, sie ergriff sie, und die beiden machten sich auf den Weg die Treppe hinunter.
*
Als sie die Kirche verließen, erblickte Caitlin in der Ferne einen Fluss und eine breite Straße etwa fünfzig Meter davon entfernt, mit einem grob geschnitzten Holzschild, auf dem „King Street“ stand. Sie hatten die Wahl, nach links oder rechts abzubiegen. Die Stadt schien nach links hin dichter zu sein.
Sie gingen nach links, Richtung Norden, die King Street hinauf, parallel zum Fluss. Unterwegs staunte Caitlin über alles, was sie sehen und hören konnte, und nahm alles in sich auf. Zu ihrer Rechten lag eine Reihe von stattlichen Holzhäusern, große Herrenhäuser im Stil der Tudors, mit weißem Stuck, braunem Fachwerk und in einem Strohdach endend. Zu ihrer Linken, stellt sie staunend fest, lagen ländliche Parzellen von Ackerland, mit ab und zu einem kleinen, bescheidenen Haus, und Schafen und Kühen in der Landschaft verstreut. Das London von 1599 war faszinierend für sie. Eine Straßenseite war kosmopolitisch und wohlhabend, während die andere immer noch von Bauern bewohnt war.
Die Straße selbst war ebenso ein Wunderwerk. Ihre Füße blieben beinahe im Schlamm stecken, da der Boden von all den Füßen und Hufen aufgeweicht wurde. Dies für sich gesehen war erträglich, doch überall in die Erde hineingemischt war Kot, von den Rudeln wilder Hunde oder, aus den Fenstern hinausgeschüttet, von Menschen. Tatsächlich öffneten sich, während sie gingen, gelegentlich Fensterläden und Eimer erschienen, aus denen alte Frauen den Haushaltsmist ins Freie leerten. Es roch weitaus schlimmer als in Venedig oder Florenz oder Paris. Sie musste von Zeit zu Zeit beinahe würgen und wünschte, sie hätte einen dieser kleinen Parfüm-Beutel, um ihn sich an die Nase zu halten. Zum Glück trug sie zumindest die praktischen Trainingsschuhe, die Aiden ihr in Versailles gegeben hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals mit Stöckeln über diese Straße zu gehen.
Und doch, in diese seltsame Mixtur aus Ackerland und Herrenhäusern hineingemischt gab es auch die gelegentliche architektonische Errungenschaft. Staunend sah Caitlin hier und da einige Gebäude, die sie sogar aus Bildern aus dem 21. Jahrhundert wiedererkannte, reich verzierte Kirchen und gelegentlich ein Schloss.
Die Straße endete abrupt in einem großen, gewölbten Torbogen, mehrere Wachen in Uniform davor postiert, wachsam mit Lanzen bewaffnet. Das Tor stand jedoch offen, und sie gingen hindurch.
Auf einem in Stein gravierten Schild stand „Whitehall Palace“, und sie gingen weiter durch seinen langen, schmalen Innenhof, dann durch einen weiteren Torbogen auf der anderen Seite wieder hinaus und zurück auf die Hauptstraße. Bald kamen sie an eine kreisrunde Kreuzung, die mit „Charing Cross“ beschildert war, mit einem großen senkrechten Denkmal in seiner Mitte. Die Straße gabelte sich nach links und rechts.
„Wie weiter?“, fragte sie.
Caleb schien genauso ratlos wie sie. Schließlich sagte er: „Mein Instinkt sagt mir, nahe am Fluss zu bleiben und nach rechts abzubiegen.“
Sie schloss die Augen und versuchte, es selbst zu spüren. „Ich stimme dir zu“, sagte sie, dann fügte sie hinzu: „Hast du irgendeine Ahnung, wonach genau wir suchen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt so viel wie ich.“
Sie blickte auf ihren Ring hinunter und las das Rätsel noch einmal laut vor.
Über die Brücke, hinter dem Bären
Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.
Dabei klingelte gar nichts bei ihr, und bei Caleb klingelte es anscheinend auch nicht.
„Nun, es erwähnt London“, sagte sie, „also habe ich das Gefühl, dass wir auf der richtigen Spur sind. Mein Instinkt sagt mir, dass wir weitergehen müssen, tiefer in die Stadt hinein, und dass wir es wissen werden, wenn wir es sehen.“
Er stimmte zu, und sie nahm seine Hand, und sie bogen nach rechts ab, parallel zum Fluss weiterziehend, einem Schild folgend, auf dem „The Strande“ stand.
Während sie auf dieser neuen Straße ihren Weg fortsetzten, bemerkte sie, dass die Gegend zunehmend dichter besiedelt war, mit mehr Häusern, die enger aneinander standen, auf beiden Straßenseiten. Sie hatte das Gefühl, dass sie dem Stadtzentrum näher kamen. Auf den Straßen war auch mehr los. Das Wetter war perfekt—es schien ihr wie ein Tag im Frühherbst, und die Sonne schien beständig. Sie fragte sich kurz, welcher Monat es war. Es erstaunte sie, wie sehr sie ihr Zeitgefühl verloren hatte.
Zumindest war es nicht zu heiß. Doch als die Menschenmenge auf der Straße immer dichter wurde, fühlte sie sich langsam eingeengt. Sie kamen definitiv dem Zentrum einer riesigen Metropole näher, selbst wenn sie nicht die Ausgefeiltheit der modernen Zeit besaß. Sie war überrascht: sie hatte sich immer vorgestellt, dass die alten Zeiten weniger Menschen in sich hatten, weniger überfüllt waren. Doch wenn überhaupt, dann war das Gegenteil der Fall: als die Straßen immer voller wurden, konnte sie nicht glauben, wie dicht gedrängt es war. Es erinnerte sie an New York City im 21. Jahrhundert. Die Leute drängelten und rempelten und drehten sich nicht einmal um, um sich zu entschuldigen. Außerdem stanken sie.
Zum Straßenbild beitragend standen an jeder Ecke Straßenhändler, die aggressiv versuchten, ihre Waren unters Volk zu bringen. In alle Richtungen riefen die Leute mit eigenartigem britischem Akzent umher.
Und wo die Stimmen der Händler verhallten, dominierten andere die Luft: die der Prediger. Überall sah Caitlin provisorische Podeste, Bühnen, Seifenkisten, Kanzeln, auf denen Prediger standen und ihre Predigten an die Masse richteten, schreiend, um gehört zu werden.
„Jesus sagt BEREUET!“, schrie ein Pfarrer, der mit ulkigem Zylinderhut und strengem Blick dastand und seinen Blick über die Menge schweifen ließ. „Ich sage dass ALLE THEATER geschlossen werden müssen! Jeglicher Müßiggang muss VERBOTEN werden! Kehrt zurück in eure Gebetshäuser!“
Es erinnerte Caitlin an die Leute, die in New York City an den Straßenecken predigten. Auf manche Weise hatte sich nichts geändert.
Sie kamen an einen weiteren Torbogen mitten auf der Straße, mit einem Schild, auf dem „Temple Barre, City Gate“ stand. Caitlin war erstaunt, dass Städte wirklich Stadttore hatten. Das große, imposante Tor stand offen, damit die Leute direkt hindurch konnten, und Caitlin fragte sich, ob es bei Nacht geschlossen wurde. Auf beiden Seiten standen weitere Wachmänner.
Doch dieses Tor war anders: es schien ebenso ein Versammlungsort zu sein. Eine große Menschenmenge drängte sich darum, und hoch oben auf einer kleinen Plattform stand ein Wachmann mit einer Peitsche. Caitlin blickte hoch und sah erstaunt, dass ein Mann, in Ketten und kaum bekleidet, an einen Prügelpfahl gebunden war. Der Wachmann holte aus und peitschte ihn wieder und wieder, und die versammelte Menge machte ooh und aah bei dem Anblick.