KAPITEL VIER

1968 Words
KAPITEL VIER Gareth stapfte in seiner Kammer auf und ab und ließ die nervenzerrüttenden Ereignisse der Nacht Revue passieren. Er konnte nicht fassen, was beim Festmahl passiert war; wie alles so schiefgehen konnte. Er konnte kaum glauben, dass dieser dumme Junge, dieser Außenseiter Thor, irgendwie von seinem Giftkomplott Wind bekommen hatte—und es noch dazu tatsächlich geschafft hatte, den Kelch abzufangen. Gareth dachte an den Moment zurück, als er Thor aufspringen und den Kelch umwerfen sah; als er den Kelch am Steinboden aufschlagen hörte; als er zusah, wie der Wein sich über den Boden ergoss, und mit ihm all seine Träume und Mühen. In dem Moment war Gareth ruiniert gewesen. Alles, wofür er gelebt hatte, war zerschmettert. Und als dieser Hund den Wein aufleckte und tot umfiel—da wusste er, er war erledigt. Er sah sein ganzes Leben an sich vorüberziehen, sah sich schon entlarvt, für den versuchten Mord an seinem Vater zu lebenslangem Kerker verurteilt. Oder noch schlimmer, exekutiert. Es war idiotisch gewesen. Er hätte diesen Plan niemals ausführen, diese Hexe niemals besuchen sollen. Zumindest hatte Gareth schnell reagiert, die Chance ergriffen, aufzuspringen und der erste zu sein, der den Verdacht auf Thor lenkte. Rückblickend war er stolz auf sich für die schnelle Reaktion. Es war eine Eingebung gewesen, und zu seinem Erstaunen schien es funktioniert zu haben. Sie hatten Thor abgeführt und das Festmahl hatte sich wieder beruhigt. Natürlich war es danach nicht mehr dasselbe, aber zumindest schien der Verdacht fest auf dem Jungen zu sitzen. Gareth konnte nur beten, dass es dabei blieb. Das letzte Attentat auf einen MacGil lag Jahrzehnte zurück und Gareth fürchtete, es würde Untersuchungen geben; dass die Tat genauer hinterfragt werden würde. Rückblickend war es töricht gewesen, ihn vergiften zu wollen. Sein Vater war unverwundbar. Gareth hätte das wissen sollen. Er hatte sich übernommen. Und nun wurde er das Gefühl nicht los, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Verdacht auf ihn fallen würde. Er würde alles tun müssen, was er konnte, um Thors Schuld zu beweisen und ihn hinrichten zu lassen, bevor es zu spät war. Zumindest hatte Gareth es wieder einigermaßen gutgemacht: nach dem gescheiterten Versuch hatte er das Attentat abgeblasen. Nun fühlte sich Gareth erleichtert. Nachdem er zusehen musste, wie das Komplott scheiterte, war ihm klar geworden, dass es tief in ihm einen Teil gab, der seinen Vater gar nicht töten wollte, dessen Blut nicht an seinen Händen haben wollte. Er würde nicht König werden. Er würde vielleicht nie König werden. Doch nach den Ereignissen dieses Abends war das für ihn in Ordnung. Zumindest würde er frei sein. Er würde den Stress dieser ganzen Sache nicht noch einmal aushalten: die Geheimnisse, die Verhüllungen, die ständige Angst, entlarvt zu werden. Es war zu viel für ihn. Während er hin und her stapfte, immer später in die Nacht hinein, begann er schließlich, sich langsam zu beruhigen. Gerade als er sich wieder wie er selbst fühlte und sich auf das Zubettgehen vorbereiten wollte, krachte plötzlich die Tür hinter ihm auf. Herein stürmte Firth, die Augen weit aufgerissen, kopflos, als würde er verfolgt werden. „Er ist tot!“, schrie Firth. „Er ist tot! Ich habe ihn umgebracht. Er ist tot!“ Firth war hysterisch, er jaulte geradezu, und Gareth hatte keine Ahnung, wovon er redete. War er betrunken? Firth rannte kreischend, schreiend, mit den Armen wedelnd durch das Zimmer—und da erst bemerkte Gareth seine blutüberströmten Hände, seine blutbefleckte gelbe Tunika. Gareths Herz setzte aus. Firth hatte gerade jemanden getötet. Aber wen? „Wer ist tot?“, forderte Gareth. „Von wem sprichst du?“ Aber Firth war hysterisch und konnte sich nicht konzentrieren. Gareth rannte zu ihm, packte ihn fest an den Schultern und schüttelte ihn. „Antworte mir!“ Firth öffnete die Augen und starrte, seine Augen wie die eines wilden Pferdes. „Dein Vater! Der König! Er ist tot! Durch meine Hände!“ Die Worte trafen Gareth, als hätte ihm jemand ein Messer ins eigene Herz gestoßen. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen zurück; spürte, wie sein ganzer Körper taub wurde. Er lockerte seinen Griff, trat einen Schritt zurück und versuchte, Atem zu schöpfen. Er konnte an all dem Blut erkennen, dass Firth die Wahrheit sagte. Er konnte es nicht im Ansatz begreifen. Firth? Der Stalljunge? Der Willensschwächste unter allen seinen Freunden? Soll seinen Vater ermordet haben? „Aber...wie ist das möglich?“, keuchte Gareth. „Wann?“ „Es geschah in seinem Gemach“, sagte Firth. „Gerade eben. Ich habe ihn erstochen.“ Langsam erfasste er die Bedeutung dieser Nachricht und kam wieder zu Sinnen; er bemerkte die offene Tür, rannte zu ihr und schlug sie zu, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie von keinen Wachen gesehen worden waren. Zum Glück war der Korridor leer. Er zog den schweren eisernen Riegel vor. Er eilte durch das Zimmer zurück. Firth war immer noch hysterisch, und Gareth musste ihn beruhigen. Er brauchte Antworten. Er packte ihn an den Schultern, drehte ihn herum und zog ihm den Handrücken gerade so fest übers Gesicht, dass er stockte. Endlich sammelte sich Firth. „Erzähl mir alles“, befahl Gareth kühl. „Erzähl mir genau, was passiert ist. Warum hast du das getan?“ „Was meinst du, warum?“, fragte Firth verwirrt. „Du wolltest ihn töten. Dein Gift hat nicht funktioniert. Ich dachte, ich könne dir helfen. Ich dachte, das war es, was du wolltest.“ Gareth schüttelte den Kopf. Er packte Firth am Hemd und schüttelte ihn, wieder und wieder. „Warum hast du das getan!?“, schrie Gareth. Gareth fühlte, wie seine ganze Welt in Stücke brach. Er stellte schockiert fest, dass es ihm um seinen Vater tatsächlich leid tat. Er konnte es nicht verstehen. Nur wenige Stunden zuvor hatte er nichts mehr gewollt, als ihn vergiftet zu sehen, tot an der Tafel. Nun traf ihn der Gedanke an seine Ermordung wie der Tod eines besten Freundes. Er fühlte sich von Reue überwältigt. Ein Teil von ihm wollte überhaupt nicht, dass er starb—besonders nicht so. Nicht durch Firths Hände. Und nicht durch eine Klinge. „Ich verstehe nicht“, quengelte Firth. „Erst vor ein paar Stunden hast du selbst versucht, ihn umzubringen. Dein Kelch-Komplott. Ich dachte, du würdest dankbar sein!“ Zu seiner eigenen Überraschung holte Gareth aus und zog Firth die Hand übers Gesicht. „Ich habe dir nicht aufgetragen, das zu tun!“, fauchte Gareth. „Ich habe niemals erwähnt, dass du das tun sollst. Warum hast du ihn umgebracht? Sieh dich nur an. Du bist voll Blut. Jetzt sind wir beide erledigt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Wachen uns erwischen.“ „Niemand hat es gesehen“, quengelte Firth. „Ich bin zwischen den Schichtwechsel gehuscht. Niemand hat mich bemerkt.“ „Und wo ist die Waffe?“ „Ich habe sie nicht zurückgelassen“, sagte Firth voll Stolz. „Ich bin nicht dumm. Ich habe sie entsorgt.“ „Und welche Klinge hast du verwendet?“, fragte Gareth, und seine Gedanken wirbelten um die möglichen Auswirkungen herum. Er war von Bedauern zu Sorge übergegangen. Sein Verstand brütete über jedem Detail der Spur, die dieser unbeholfene Narr möglicherweise zurückgelassen hatte; jedem Detail, das zu ihm führen könnte. „Ich habe eine verwendet, die sich nicht zurückverfolgen lässt“, sagte Firth mit Stolz auf sich selbst. „Es war eine zierlose, anonyme Klinge. Ich habe sie im Stall gefunden. Da waren noch vier andere, die genau gleich aussahen. Sie kann nicht zurückverfolgt werden“, wiederholte er. Gareth fühlte sein Herz in den Magen rutschen. „War es ein kurzes Messer mit rotem Griff und geschwungener Klinge? In einer Halterung an der Wand neben meinem Pferd?“ Firth nickte als Antwort, Zweifel in den Augen. Gareth starrte ihn finster an. „Du Narr. Natürlich lässt sich diese Klinge zurückverfolgen!“ „Aber es waren keine Markierungen darauf!“, protestierte Firth mit ängstlich zitternder Stimme. „Auf der Klinge sind keine Markierungen—aber der Griff trägt ein Zeichen!“, schrie Gareth. „Auf der Unterseite! Du hast es dir nicht sorgfältig angesehen. Du Idiot.“ Gareth trat mit rotem Gesicht vor. „Das Emblem meines Pferdes ist darunter hineingeschnitzt. Jeder, der die königliche Familie gut kennt, kann diese Klinge zu mir zurückverfolgen.“ Er starrte Firth an, der aus der Bahn geworfen schien. Er wollte ihn umbringen. „Was hast du damit gemacht?“, forderte Gareth. „Sag mir, dass du sie bei dir hast. Sag mir, dass du sie mit zurückgebracht hast. Bitte.“ Firth schluckte. „Ich habe sie sorgfältig entsorgt. Niemand wird sie je finden.“ Gareth verzog das Gesicht. „Wo genau?“ „Ich warf sie den steinernen Abfluss hinunter in den Nachttopf der Burg. Der Topf wird jede Stunde entleert, in den Fluss hinein. Keine Sorge, mein Herr. Inzwischen ist das Messer tief im Fluss verschwunden.“ Die Burgglocken läuteten plötzlich, und Gareth rannte zum offenen Fenster, sein Herz von Panik erfüllt. Er blickte hinaus auf das Chaos und den Tumult unter ihnen. Menschenmeuten umringten die Burg. Dieses Glockenläuten konnte nur eines bedeuten: Firth hatte nicht gelogen. Er hatte den König umgebracht. Gareth fühlte, wie sein Körper eiskalt wurde. Er konnte nicht fassen, dass er eine so üble Tat angezettelt hatte. Und dass ausgerechnet Firth sie ausgeführt hatte. Plötzlich klopfte es an seiner Tür, sie barst auf und mehrere königliche Wachen eilten herein. Einen Moment lang war sich Gareth sicher, sie würden ihn verhaften. Doch zu seiner Überraschung hielten sie an und standen stramm. „Mein Herr, auf Euren Vater wurde gestochen. Möglicherweise läuft ein Attentäter frei herum. Bleibt zu Eurer Sicherheit in Eurer Kammer. Er ist schwerstens verletzt.“ Bei diesem letzten Wort stellten sich Gareths Nackenhaare auf. „Verletzt?“, wiederholte Gareth, und das Wort blieb ihm beinahe im Hals stecken. „Er ist also noch am Leben?“ „Das ist er, mein Herr. Und mit Gottes Beistand wird er überleben und uns sagen können, wer diese abscheuliche Tat begangen hat.“ Mit einer kurzen Verbeugung eilten die Wachen aus dem Zimmer und schlugen die Tür hinter sich zu. Gareth wurde von Zorn überwältigt und packte Firth an den Schultern, schob ihn quer durchs Zimmer und knallte ihn gegen die steinerne Wand. Firth starrte mit weit aufgerissenen Augen zurück; entsetzt, sprachlos. „Was hast du angerichtet?“, schrie Gareth. „Jetzt sind wir beide erledigt!“ „Aber...aber...“, stammelte Firth, „...ich war mir sicher, dass er tot ist!“ „Du bist dir vieler Dinge sicher“, sagte Gareth, „und allesamt sind sie falsch!“ Da kam Gareth ein Gedanke. „Der Dolch“, sagte er. „Wir müssen ihn finden, bevor es zu spät ist.“ „Aber ich habe ihn weggeworfen, mein Herr“, sagte Firth. „Er wurde den Fluss hinuntergespült!“ „Du hast ihn in einen Nachttopf geworfen. Das heißt noch lange nicht, dass er schon im Fluss ist.“ „Aber es ist wahrscheinlich!“, sagte Firth. Gareth konnte die Stümperei dieses Idioten nicht länger ertragen. Er stürmte an ihm vorbei zur Tür hinaus, dicht gefolgt von Firth. „Ich komme mit Euch. Ich werde Euch genau zeigen, wo ich ihn hingeworfen habe“, sagte Firth. Gareth blieb im Korridor stehen, drehte sich um und starrte Firth an. Er war blutüberströmt, und Gareth war erstaunt, dass die Wachen es nicht bemerkt hatten. Das war pures Glück gewesen. Firth war mehr als je zuvor eine Belastung. „Ich sage das jetzt genau einmal“, knurrte Gareth. „Geh sofort zurück auf mein Zimmer, zieh dich um und verbrenne deine Kleider. Entferne jede Spur von Blut. Dann verschwinde aus dieser Burg. Halte dich in dieser Nacht von mir fern. Hast du mich verstanden?“ Gareth gab ihm einen Stoß, dann drehte er sich um und rannte. Er lief den Korridor entlang, die Wendeltreppe ein Stockwerk nach dem anderen hinunter, zu den Dienstboten-Räumen. Schließlich platzte er in das Untergeschoss, und die Köpfe einiger Diener drehten sich nach ihm um. Sie waren alle damit beschäftigt, enorme Töpfe zu schrubben und Eimer voll Wasser zu kochen. Riesige Feuer brannten in Ziegelöfen, und die Diener mit ihren fleckigen Schürzen waren schweißgebadet. Am anderen Ende des Raumes erblickte Gareth einen enormen Nachttopf, darüber einen steinernen Abfluss, über den minütlich Ausscheidungen in den Topf hinuntertropften. Gareth rannte zum nächsten Diener und packte ihn verzweifelt am Arm. „Wann wurde der Topf zuletzt geleert?“, fragte Gareth. „Er wurde vor wenigen Minuten erst zum Fluss gebracht, Herr.“ Gareth machte kehrt und stürmte aus dem Raum, die Burgflure entlang, wieder die Wendeltreppe hoch, und platzte hinaus in die kühle Nachtluft. Er rannte über die Wiese, atemlos auf den Fluss zu. Als er näherkam, fand er ein Versteck hinter einem großen Baum nahe am Ufer. Er beobachtete, wie zwei Diener den riesigen Eisentopf hoben und ihn in die reißende Strömung des Flusses kippten. Er sah zu, bis der Topf kopfüber stand, sein gesamter Inhalt entleert, und sie mit dem Topf kehrtmachten und zurück zur Burg marschierten. Endlich war Gareth zufriedengestellt. Niemand hatte eine Klinge entdeckt. Wo auch immer sie war, sie war nun in den Fluten des Flusses, fortgeschwemmt auf Nimmerwiedersehen. Sollte sein Vater in dieser Nacht sterben, würde es keine Beweise geben, die eine Spur zum Mörder liefern konnten. Oder etwa doch?
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