KAPITEL DREI

2081 Words
KAPITEL DREI Am nächsten Nachmittag fuhr Riley April zum Haus der Penningtons. Trotz ihrer Zweifel, dass Lois Pennington ermordet wurde, war sich Riley sicher, dass es das Richtige war. Das bin ich April schuldig, dachte sie, während sie fuhr. Schließlich wusste sie, wie es war, wenn man sich einer Sache sicher war, aber einem niemand glaubte. Und April schien sich sicher zu sein, dass etwas nicht stimmte. Soweit es Riley betraf, hatten sich ihre Instinkte noch nicht gemeldet. Aber während sie in die noblere Gegend von Fredericksburg fuhr, erinnerte sie sich selbst daran, dass Monster oft hinter den friedlichsten Fassaden lauerten. Viele der charmanten Häuser, an denen sie vorbeikamen, verbargen vermutlich dunkle Geheimnisse. Sie hatte schon zu viel Böses in ihrem Leben gesehen und kannte es zu gut. Und ob es nun Selbstmord oder Mord gewesen war, es bestand kein Zweifel daran, dass ein Monster das scheinbar fröhliche Haus der Penningtons besetzt hatte. Riley hielt vor dem Haus. Es war ein großes Haus, drei Stockwerke hoch, auf einem großen Grundstück. Riley erinnerte sich daran, was Riley über die Penningtons gesagt hatte. "Nicht gerade reich, aber recht komfortabel." Das Haus bestätigte diesen Eindruck. Es war ein schönes Haus in einer netten Nachbarschaft. Das einzige, was ungewöhnlich schien, war das Absperrband, das vor den Türen der Garage hing, in dem die Eltern ihre Tochter gefunden hatten. Die kalte Luft war beißend als Riley und April aus dem Auto stiegen und zum Haus gingen. Mehrere Wagen standen dicht gedrängt in der Auffahrt. Sie klingelten und Tiffany begrüßte sie an der Tür. April warf sich in Tiffanys Arme und beide Mädchen fingen an zu weinen. "Oh, Tiffany, es tut mir so leid", sagte April. "Danke, dass du gekommen bist", erwiderte Tiffany mit erstickter Stimme. Das geteilte Leid schnürte Riley die Kehle zu. Die beiden Mädchen erschienen ihr so jung, kaum mehr als Kinder. Es schien so schrecklich unfair, dass sie solche Qualen durchmachten. Dennoch spürte sie einen seltsamen Anflug von Stolz auf April und ihre herzliche Anteilnahme. April entwickelte sich zu einer mitfühlenden und fürsorglichen jungen Frau. Ich muss zumindest etwas richtig machen als Mutter, dachte Riley. Tiffany war ein wenig kleiner als April, noch ein wenig deutlicher der ungelenke Teenager. Sie hatte erdbeerblonde Haare und ihre Haut war blass und voller Sommersprossen, die durch die Röte um die Augen noch betont wurden. Tiffany führte Riley und April ins Wohnzimmer. Tiffanys Eltern saßen auf der Couch, leicht voneinander getrennt. Sagte ihre Körpersprache etwas aus? Riley war sich nicht sicher. Sie wusste, dass Pärchen oft unterschiedlich mit Trauer umgingen. Einige andere Menschen standen in der Nähe und unterhielten sich in gedämpften Stimmen. Riley nahm an, dass es Freunde und Verwandte waren, die gekommen waren, um zu helfen, so gut sie konnten. Sie hörte leise Stimmen und Klappern aus der Küche, wo einige Leute Essen zuzubereiten schienen. Durch den Bogen, der in das Esszimmer führte, sah sie zwei Pärchen, die Bilder und Andenken auf dem Tisch arrangierten. Auch im Wohnzimmer standen Bilder von Lois und ihrer Familie in verschieden Lebensstadien. Riley schauderte bei dem Gedanken, dass das Mädchen in den Bildern noch vor zwei Tagen lebendig gewesen war. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie April so plötzlich verlieren würde? Es war eine schreckliche Vorstellung und es war schon zu oft knapp davor gewesen. Wer würde zu ihrem Haus kommen, um Hilfe und Trost anzubieten? Würde sie überhaupt wollen, dass jemand kam? Sie schüttelte den Gedanken ab, als Tiffany sie ihren Eltern, Lester und Eunice, vorstellte. "Bitte, bleiben Sie ruhig sitzen", sagte Riley, als das Pärchen sich erheben wollte. Riley und April setzten sich neben sie auf die Couch. Eunice hatte die gleichen Sommersprossen und helle Haut, wie ihre Tochter. Lester war dunkler und sein Gesicht lang und dünn. "Mein herzliches Beileid für Ihren Verlust", sagte Riley. Das Pärchen bedankte sich. Lester schaffte es, ein gezwungenes kleines Lächeln zu zeigen. "Wir haben uns nie kennen gelernt, aber ich kenne Ryan ein wenig", sagte er. "Wie geht es ihm?" Tiffany reichte aus ihrem Sessel herüber und tippte ihrem Vater auf den Arm. Sie bedeutete ihm leise, "Sie sind geschieden, Dad." Lesters Gesicht wurde rot. "Oh, das tut mir leid", sagte er. Riley spürte, wie sie ebenfalls rot wurde. "Das braucht es nicht", sagte sie. "Wie die Leute heutzutage sagen – 'es ist kompliziert.'" Lester nickte und lächelte schwach. Sie schwiegen für einen Moment, während um sie herum weiter Aktivität herrschte. Dann sagte Tiffany, "Mom, Dad – Aprils Mutter ist FBI Agentin." Lester und Eunice starrten sie verdutzt an. Wieder peinlich berührt, wusste Riley nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste, dass April Tiffany gestern angerufen und informiert hatte, dass sie kommen würden. Offenbar hatte Tiffany es bisher vermieden, ihren Eltern zu erzählen, was Riley beruflich machte. Tiffany sah zwischen ihren Eltern hin und her, bevor sie sagte, "Ich dachte, vielleicht kann sie uns helfen, herauszufinden was … wirklich passiert ist." Lester schnappte nach Luft und Eunice seufzte bitter. "Tiffany, wir haben darüber geredet", sagte Eunice. "Wir wissen, was passiert ist. Die Polizei ist sich sicher. Wir haben keinen Grund etwas anderes anzunehmen." Lester stand schwankend auf. "Ich kann das gerade nicht", sagte er. "Ich kann einfach nicht." Er drehte sich um und ging ins Esszimmer. Riley konnte sehen, dass die beiden Pärchen sofort zu ihm eilten, um ihn zu trösten. "Tiffany, du solltest dich schämen", sagte Eunice. Die Augen des Mädchens schwammen vor Tränen. "Aber ich will einfach die Wahrheit wissen, Mom. Lois hat sich nicht umgebracht. Das kann sie einfach nicht getan haben. Das weiß ich." Eunice sah Riley an. "Es tut mir leid, dass Sie da mit hineingezogen worden sind", sagte sie. "Tiffany hat Probleme die Wahrheit zu akzeptieren." "Du und Dad, ihr könnt die Wahrheit nicht akzeptieren", rief Tiffany. "Schhh", sagte ihre Mutter. Eunice reichte ihrer Tochter ein Taschentuch. "Tiffany, es gibt Dinge, die du nicht über Lois wusstest", sagte sie langsam und vorsichtig. "Sie war unglücklicher als sie dir vermutlich erzählt hat. Sie hat das College geliebt, aber es war nicht einfach für sie. Sie stand unter großem Druck ihre Noten für das Stipendium zu halten und es war auch schwer für sie, von zu Hause weg zu sein. Sie hat Antidepressiva genommen und war in psychologischer Beratung am Byars. Dein Vater und ich dachten, dass es ihr besser ging, aber wir hatten unrecht." Tiffany versuchte ihre Schluchzer unter Kontrolle zu bringen, aber sie schien immer noch sehr wütend zu sein. "Die Schule ist ein schrecklicher Ort", sagte sie. "Da gehe ich niemals hin." "Sie ist nicht schrecklich", sagte Eunice. "Es ist eine sehr gute Schule. Nur sehr fordernd, das ist alles." "Ich wette, diese anderen Mädchen dachten nicht, dass es eine gute Schule ist", sagte Tiffany. April hatte ihrer Freundin besorgt zugehört. "Welche anderen Mädchen?", fragte sie. "Deanna und Cory", sagte Tiffany. "Sie sind auch gestorben." Eunice schüttelte traurig den Kopf und sagte zu Riley, "Zwei weitere Mädchen haben im letzten Semester am Byars Selbstmord begangen. Es ist ein fürchterliches Jahr gewesen." Tiffany starrte ihre Mutter an. "Das waren keine Selbstmorde", beharrte sie. "Lois dachte das nicht. Sie dachte, dass mit der Schule was nicht stimmt. Sie wusste nicht was, aber sie hat mir gesagt, dass es etwas wirklich Schlimmes ist." "Tiffany, es waren Selbstmorde", sagte Eunice müde. "Jeder sagt das. Solche Dinge passieren eben." Tiffany stand zitternd vor Wut und Frustration auf. "Lois' Tod ist nicht 'einfach passiert'", sagte sie. Eunice sah zu ihr auf, "Wenn du älter bist, dann wirst du verstehen, dass das Leben härter sein kann, als dir jetzt klar ist. Jetzt setz' dich bitte wieder hin." Tiffany ließ sich trotzig wieder in den Sessel fallen. Eunice starrte in die Ferne. Riley fühlte sich mehr als unbehaglich. "Wir sind nicht hergekommen, um Sie aufzuregen", sagte Riley zu Eunice. "Ich entschuldige mich für das Eindringen. Vielleicht ist es besser, wenn wir jetzt gehen." Eunice nickte schweigend. Riley und April verabschiedeten sich und gingen. "Wir hätten bleiben sollen", sagte April unzufrieden, sobald sie vor der Tür waren. "Wir hätten mehr Fragen stellen sollen." "Nein, wir haben sie nur aufgebracht", sagte Riley. "Das war ein Fehler." Plötzlich lief April von ihr weg. "Wo gehst du hin?", fragte Riley alarmiert. April ging direkt auf die Seitentür der Garage zu. Absperrband war quer vor die Tür gespannt. "April, komm da weg!", sagte Riley. April ignorierte sowohl das Absperrband, als auch ihre Mutter, und drehte den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen und schwang auf. April duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging in die Garage. Riley eilte hinter ihr her, in der Absicht sie zurechtzuweisen. Stattdessen wurde sie von ihrer Neugier übermannt und sie sah sich vorsichtig in der Garage um. Es standen keine Autos in der Garage, was die große Garage auf unheimliche Weise höhlenartig wirken ließ. Gedämpftes Licht schien durch mehrere Fenster. April zeigte auf eine Ecke. "Tiffany hat mir gesagt, dass sie Lois dort gefunden haben", sagte April. Tatsächlich war Absperrband auf dem Boden zu sehen. Ein großer Querbalken verlief unter dem Dach und eine Leiter lehnte an der Wand. "Komm", sagte Riley. "Wir sollten nicht hier sein." Sie führte ihre Tochter nach draußen und schloss die Tür. Während sie und April zurück zu ihrem Wagen gingen, visualisierte Riley die Szene. Es war einfach sich vorzustellen, wie das Mädchen auf die Leiter geklettert war und sich gehängt hatte. Oder war das wirklich, was passiert war? fragte sie sich. Sie hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Trotzdem spürte sie ein leichtes Kribbeln des Zweifelns. * Als sie kurz darauf wieder zu Hause waren, rief Riley die örtliche Gerichtsmedizinerin Danica Selves an. Sie war seit Jahren mit Danica befreundet. Als Riley sie nach dem Lois Pennington Fall fragte, klang Danica überrascht. "Warum bist du so neugierig?", fragte Danica. "Hat das FBI Interesse an dem Fall?" "Nein, es ist etwas Persönliches." "Persönlich?" Riley zögerte und sagte dann, "Meine Tochter ist gut mit Lois' Schwester befreundet und kannte auch Lois ein wenig. Sowohl sie, als auch Lois' Schwester können nicht glauben, dass sie Selbstmord begangen hat." "Ich verstehe", sagte Danica. "Nun, die Polizei hat keine Anzeichen eines Kampfes gefunden. Und ich habe die Tests und die Autopsie selber durchgeführt. Laut den Ergebnissen der Blutuntersuchungen, hat sie eine große Dosis Alprazolam kurz vor ihrem Tod genommen. Ich nehme an, dass sie einfach so wenig wie möglich mitbekommen wollte. Als sie sich gehängt hat, war ihr vermutlich bereits egal, was sie tat. Es wird einfach so gewesen sein." "Also ist es wirklich ein klarer Fall", sagte Riley. "Scheint mir so", bestätigte Danica. Riley bedankte sich und beendete den Anruf. In dem Moment kam April mit einem Taschenrechner und einem Stück Papier in der Hand die Treppe herunter. "Mom, ich denke, ich habe es bewiesen!", rief sie aufgeregt. "Es kann nur Mord gewesen sein!" April setzte sich neben Riley und zeigte ihr einige Zahlen, die sie aufgeschrieben hatte. "Ich habe online recherchiert", sagte sie. "Ich habe herausgefunden, dass von hunderttausend Studenten 7,5 Studenten Selbstmord begehen. Das sind 0,075 Prozent. Aber es sind nur etwa siebenhundert Studenten in Byars und in den letzten Monaten haben angeblich drei Selbstmord begangen. Das sind etwa 0,34 Prozent – was siebenundfünfzig Mal mehr als der Durchschnitt ist! Das ist unmöglich!" Rileys Mut sank. Sie wusste es zu schätzen, dass April sich so viele Gedanken darum machte. Es erschien ihr sehr erwachsen. "April, ich denke deine Rechnung stimmt, aber …" "Aber was?" Riley schüttelte den Kopf. "Das beweist leider nichts." Aprils Augen weiteten sich ungläubig. "Was meinst du damit, das beweist nichts?" "In der Statistik werden diese Fälle Ausreißer genannt. Sie sind die Ausnahmen zur Regel und gehen gegen den Durchschnitt. Es ist wie der letzte Fall, an dem ich gearbeitet habe – der Giftmörder, erinnerst du dich? Die meisten Serienmörder sind Männer, aber das war eine Frau. Und die meisten Mörder sehen ihren Opfern beim Sterben zu, aber das war ihr nicht wichtig. Es ist hier das Gleiche. Es ist nicht überraschend, dass es einige Colleges gibt, an denen mehr Studenten Selbstmord begehen als der Durchschnitt vermuten lässt." April starrte sie schweigend an. "April, ich habe gerade mit der Gerichtsmedizinerin telefoniert, die die Autopsie durchgeführt hat. Sie ist sich sicher, dass Lois' Tod ein Selbstmord war. Und sie ist gut in ihrem Job. Sie ist eine Expertin. Wir müssen ihrem Urteil vertrauen." Aprils Gesicht wurde rot vor Wut. "Ich verstehe nicht, warum du nicht einmal meinem Urteil trauen kannst." Dann stürmte sie wieder nach oben. Wenigstens ist sie sich sicher, dass sie weiß, was passiert ist, dachte sie stöhnend. Das war mehr, als Riley von sich sagen konnte. Ihre Instinkte schwiegen weiterhin.
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