KAPITEL EINS
Riley Paige hatte sich gerade zum Abendessen hingesetzt, als ihre Tochter etwas sagte, das sie innehalten ließ.
"Sind wir nicht die perfekte Familie?"
Riley starrte April an, deren Gesicht vor Scham rot wurde.
"Wow, habe ich das laut gesagt?", fragte April schüchtern. "Das war ein wenig kitschig, nicht wahr?"
Riley lachte und sah sich am Tisch um. Ihr Exmann, Ryan, saß am anderen Ende. Zu ihrer Linken saß April, ihre fünfzehn Jahre alte Tochter, neben ihr ihre Haushälterin, Gabriela. Auf ihrer Rechten saß die dreizehn Jahre alte Jilly, der Neuankömmling in ihrer Familie.
April und Jilly hatten an diesem Sonntag Gabriela das Kochen abgenommen und Hamburger gemacht.
Ryan nahm einen Bissen von seinem Hamburger und sagte, "Nun, wir sind eine Familie, oder nicht? Ich meine, sieh uns an."
Riley sagte nichts.
Eine Familie, dachte sie. Sind wir das wirklich?
Der Gedanke überraschte sie ein wenig. Schließlich hatten sie und Ryan sich vor fast zwei Jahren getrennt und waren seit einem halben Jahr geschieden. Auch wenn sie wieder Zeit miteinander verbrachten, hatte Riley es vermieden darüber nachzudenken, wohin es führen könnte. Sie hatte die Jahre des Verrats und der Qualen beiseitegeschoben, um die friedliche Gegenwart zu genießen.
Dann war da April, deren Jugend alles andere als einfach gewesen war. Würde ihr Wunsch nach Zusammensein überdauern?
Riley war sich noch unsicherer bei Jilly. Sie hatte Jilly an einem Rastplatz in Phoenix gefunden, wo sie versucht hatte, sich an Trucker zu verkaufen. Riley hatte Jilly vor einem schrecklichen Leben und einem gewalttätigen Vater gerettet und hoffte nun, sie zu adoptieren. Aber Jilly hatte ihre Probleme und die Dinge waren immer unsicher mit ihr.
Die eine Person, um die Riley sich keine Probleme machen musste, war Gabriela. Die stämmige Frau aus Guatemala hatte schon lange vor ihrer Scheidung für die Familie gearbeitet. Gabriela war immer verantwortungsvoll, bodenständig und liebevoll.
"Was denkst du, Gabriela?", fragte Riley.
Gabriela lächelte.
"Eine Familie kann man sich aussuchen, sie wird nicht nur vererbt", sagte sie. "Blut ist nicht alles. Liebe ist das Wichtige."
Riley spürte plötzlich Wärme in sich aufsteigen. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass Gabriela die richtigen Worte fand. Mit einem neuen Gefühl von Zufriedenheit sah sie auf die Menschen an dem Tisch.
Nachdem sie nun schon etwa einen Monat vom BAU Urlaub hatte, genoss sie es einfach, hier in ihrem Stadthaus zu sein.
Und ich genieße meine Familie, dachte sie.
Dann sagte April etwas, das sie überraschte.
"Daddy, wann ziehst du bei uns ein?"
Ryan sah sie verblüfft an. Wie so oft fragte Riley sich, ob sein neu gefundenes Engagement zu gut war, um lange anzuhalten.
"Das ist ein großes Thema, um es gleich anzugehen", sagte Ryan.
"Wieso?", hakte April nach. "Du könntest genauso gut hier wohnen. Ich meine, du und Mom, ihr schlaft wieder zusammen und du bist auch sonst fast jeden Tag da."
Riley spürte, wie sie rot anlief. Geschockt gab Gabriela April einen scharfen Ellbogenstoß in die Seite.
"¡Chica! ¡Silencio!", sagte sie.
Jilly sah sich mit einem Grinsen um.
"Hey, das ist eine tolle Idee", sagte sie. "Dann würde ich bestimmt nur noch gute Noten kriegen."
Es stimmte – Ryan hatte Jilly geholfen, die Materialien für ihre neue Schule aufzuholen, vor allem für Sozialkunde. Er hatte sie in den letzten Monaten wirklich alle unterstützt.
Rileys Augen trafen Ryans. Sie sah, dass er ebenfalls rot war.
Sie wusste selber nicht, was sie sagen sollte. Sie musste zugeben, dass ihr die Idee gefiel. Es war angenehm, Ryan die meisten Nächte hier zu haben. Alles war so einfach an seinen Platz gefallen – vielleicht zu einfach. Vielleicht stammte ein Teil der Bequemlichkeit daher, dass sie keine Entscheidung darüber treffen musste.
Sie erinnerte sich an das, was April gerade gesagt hatte.
"Eine perfekte Familie."
Sie alle hatten sich in dem Moment wohl gefühlt. Aber Riley konnte ein leichtes Unbehagen nicht unterdrücken. War diese Perfektion nur eine Illusion? Als würde man ein gutes Buch lesen oder einen schönen Film sehen?
Riley war sich nur zu bewusst, dass die Welt dort draußen voller Monster war. Sie hatte ihr Leben der Jagd nach ihnen gewidmet. Aber im letzten Monat war sie fast in der Lage gewesen, so zu tun, als gäbe es sie nicht.
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Ryans Gesicht aus.
"Hey, warum zieht ihr nicht alle bei mir ein?", sagte er. "Da gibt es mehr als genug Platz für uns alle."
Riley unterdrückte ein alarmiertes Keuchen.
Das Letzte was sie wollte, war wieder zurück in das große Vorstadthaus zu ziehen, das sie jahrelang mit Ryan geteilt hatte. Es gab zu viele unschöne Erinnerungen darin.
"Ich könnte das Haus nicht aufgeben", sagte sie. "Es gefällt mir hier zu gut."
April sah ihren Vater gespannt an.
"Es liegt an dir, Daddy", sagte sie. "Ziehst du bei uns ein oder nicht?"
Riley betrachtete aufmerksam Ryans Gesicht. Sie konnte sehen, dass er mit der Entscheidung haderte. Sie verstand gut, warum. Er gehörte zu einer Anwaltskanzlei in DC, aber er arbeitete oft von zu Hause. Es würde hier keinen Platz für ihn geben, um das zu tun.
Schließlich sagte Ryan, "Ich müsste das Haus behalten. Es könnte mein Büro sein."
April sprang fast auf und ab vor Begeisterung.
"Also sagst du ja?", fragte sie.
Ryan lächelte einen Moment still vor sich hin.
"Ja, ich denke, das tue ich", sagte er dann.
April quietschte begeistert auf. Jilly klatschte in die Hände und lachte.
"Das ist super!", rief Jilly. "Kannst du mir bitte den Ketchup geben – Dad?"
Ryan, April, Gabriela, und Jilly plauderten munter weiter, während sie sich über das Essen hermachten.
Riley sagte sich, dass sie dieses Glück genießen sollte, solange sie konnte. Früher oder später würde sie gerufen werden, um ein weiteres Monster zu stoppen. Der Gedanke sandte einen Schauer über ihren Rücken. Wartete das Böse bereits irgendwo auf sie?
*
Am nächsten Tag hatte April einen verkürzten Stundenplan, da die Lehrer sich zu einer Besprechung versammelten, und Riley gab dem Betteln ihrer Tochter nach, den ganzen Tag freimachen zu können. Sie entschieden sich, einkaufen zu gehen, während Jilly in der Schule war.
Die Reihen von Läden in der Shopping-Mall kamen Riley endlos vor und viele sahen sich zudem sehr ähnlich. Dürre Schaufensterpuppen in stylischen Outfits zeigten in jedem Fenster unmögliche Posen. Die Figuren, an denen sie vorbeikamen, hatten keinen Kopf, was Rileys Eindruck der Austauschbarkeit noch verstärkte. Aber April erzählte ihr unentwegt, was jeder Laden bereithielt und welche Outfits sie gerne tragen würde. April schien Unterschiede zu sehen, wo Riley nur Uniformität wahrnahm.
Eine Teenagersache, nehme ich an, dachte Riley.
Wenigstens war es heute nicht so voll.
April zeigte auf ein Schild vor einem Laden namens Towne Shoppe.
"Oh, guck mal!", sagte sie. "'Erschwinglicher Luxus'! Lass uns da mal hingehen!"
In dem Laden stürzte April sich auf einen Ständer mit Jeans und Jacken und zog Dinge heraus, um sie anzuprobieren.
"Ich nehme an, ich könnte auch eine neue Jeans gebrauchen", sagte Riley.
April rollte mit den Augen.
"Nur keine Mom Jeans, bitte!"
"Nun, nicht jeder kann tragen, was du trägst. Ich muss in der Lage sein, mich zu bewegen, ohne mir Sorgen zu machen, dass meine Anziehsachen platzen. Keine Kleiderunfälle für mich, vielen Dank auch."
April lachte. "Freizeithosen also. Viel Glück dabei hier welche zu finden."
Riley sah sich die Auswahl der Jeans an. Sie waren alle extrem schmal geschnitten, auf Hüfte, und künstlich zerrissen.
Riley seufzte. Sie kannte ein paar Läden an einer anderen Stelle der Mall, in denen sie etwas finden würde, das eher ihrem Stil entsprach. Aber sie würde die Sticheleien von April ertragen müssen.
"Ich schaue ein andermal für mich selber", sagte Riley.
April schnappte sich ein Bündel Jeans und ging in die Umkleidekabine. Als sie herauskam, trug sie die Art von Jeans, die Riley hasste – hauteng, an verschiedenen Stellen zerrissen, mit dem Bauchnabel deutlich sichtbar.
Riley schüttelte den Kopf.
"Vielleicht solltest du selber auch mal Mom Jeans probieren", sagte sie. "Die wären deutlich bequemer. Aber Bequemlichkeit ist wahrscheinlich nicht das Ziel, hm?"
"Nö", sagte April und sah sich die Jeans im Spiegel genauer an. "Die nehme ich mit. Ich probiere die anderen noch an."
April verschwand mehrere Male wieder in der Umkleidekabine. Sie kam jedes Mal mit Jeans zurück, die Riley hasste, aber ihrer Tochter nicht verbieten würde. Es war den Kampf nicht wert und sie wusste, dass sie ihn auf die eine oder andere Weise verlieren würde.
Während April sich vor dem Spiegel drehte, fiel Riley auf, dass ihre Tochter fast so groß war, wie sie selbst und das T-Shirt, das sie trug, einen gut proportionierten Körper zeigte. Mit ihrem dunklen Haar und nussbraunen Augen, war Aprils Ähnlichkeit zu Riley verblüffend. Natürlich zeigten Aprils Haare nicht die grauen Strähnen, die in Rileys Haar zu finden waren. Aber trotzdem …
Sie wird eine Frau, dachte Riley.
Sie konnte ein gewisses Unbehagen nicht unterdrücken.
Wurde April zu schnell erwachsen?
Sie hatte im letzten Jahr viel durchgemacht. Sie war zweimal gefangen genommen worden. Das eine Mal war sie von einem sadistischen Mörder mit einer Propangasfackel im Dunkeln gehalten worden. Sie hatte sich dann in ihrem eigenen Zuhause gegen einen Mörder zur Wehr setzen müssen. Am Schlimmsten war der misshandelnde feste Freund, der sie unter Drogen gesetzt und als Sexsklavin hatte verkaufen wollen.
Riley wusste, dass das alles zu viel für ein fünfzehnjähriges Mädchen war. Sie fühlte sich schuldig, weil ihre eigene Arbeit April und andere Menschen, die sie liebte, in Todesgefahr gebracht hatte.
Und hier war April nun, die trotz ihrer Bemühungen wie ein normaler Teenager auszusehen erstaunlich erwachsen aussah. April schien das Schlimmste der PTBS hinter sich zu haben. Aber welche Art von Ängsten und Sorgen beschäftigten sie tief in sich drin? Würde sie sie jemals verwinden können?
Riley bezahlte Aprils neue Anziehsachen und sie traten wieder in die Mall. Die Sicherheit in Aprils Schritt beruhigte Riley ein wenig. Es wurde schließlich alles besser. Sie wusste, dass Ryan in diesem Moment einige seiner Sachen in ihr Stadthaus räumte. Und sowohl April, als auch Jilly, machten sich gut in der Schule.
Riley wollte gerade vorschlagen, dass sie sich etwas zu Essen suchen, als Aprils Handy summte. April wandte sich abrupt ab, um den Anruf anzunehmen. Riley spürte einen kurzen Stich. Manchmal schien das Handy ein lebendiges Ding zu sein, das die komplette Aufmerksamkeit von April verlangte.
"Hey, was gibt's?", fragte April den Anrufer.
Plötzlich fingen Aprils Knie an zu wackeln und sie setzte sich auf eine Bank. Ihr Gesicht wurde weiß und ihr fröhlicher Gesichtsausdruck verwandelte sich in Schmerz. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. Sofort eilte Riley zu ihr und setzt sich neben sie.
"Oh mein Gott!", rief April. "Wie konnte– warum– ich kann nicht–"
Riley sah sie beunruhigt an.
Was war passiert?
War jemand verletzt oder in Gefahr?
War es Jilly, Ryan, Gabriela?
Nein, dann hätte man sicher Riley angerufen, nicht April.
"Es tut mir so, so leid", sagte April wieder und wieder.
Schließlich beendete sie den Anruf.
"Wer war das?", fragte Riley besorgt.
"Tiffany", sagte April wie betäubt.
Riley erkannte den Namen. Tiffany Pennington war dieser Tage Aprils beste Freundin. Riley hatte sie einige Male getroffen.
"Was ist passiert?", fragte Riley.
April sah mit einem Ausdruck von Trauer und Entsetzen zu Riley.
"Tiffanys Schwester ist tot", sagte sie.
April sah aus, als könnte sie ihre eigenen Worte nicht glauben.
Dann fügte sie mit erstickter Stimme hinzu, "Sie sagen, es war Selbstmord."