KAPITEL VIER

978 Words
KAPITEL VIER Gareth hustete und keuchte während er über die öde Landschaft stolperte, seine Lippen waren aufgesprungen vom Durst und seine Augen lagen tief in den Höhlen mit dunklen Ringen darunter. Die letzten Tage waren furchtbar gewesen, und er hatte mehr als einmal geglaubt, sterben zu müssen. Gareth war haarscharf Andronicus Männern in Silesia entkommen, indem er sich in einem Geheimgang versteckt gehalten und abgewartet hatte. Er hatte wie eine Ratte zusammengerollt in der Dunkelheit auf seine Gelegenheit zur Flucht gewartet. Er hatte das Gefühl gehabt, Tage in dem Loch verbracht zu haben. Er hatte alles mitangesehen, hatte mit Unglauben gesehen, wie Thor auf dem Rücken dieses Drachen angekommen war und all die Männer des Empire getötet hatte. In der allgemeinen Verwirrung und dem Chaos das daraufhin ausgebrochen war, hatte Gareth seine Gelegenheit zur Flucht genutzt. Er war aus einem der Nebentore von Silesia geschlichen als niemand hingesehen hatte und hatte die Straße gen Süden entlang des Canyons genommen, wobei er sich meistens im Dickicht bewegte, um nicht entdeckt zu werden. Doch das war ziemlich egal – die Straße war ohnehin leer. Alle waren unterwegs gen Osten um in der großen Schlacht um den Ring zu kämpfen. Während Gareth seines Weges zog bemerkte er die verkohlten Körper von Andronicus Männern, die die Straße säumten und wusste, dass die Schlacht hier im Süden schon geschlagen worden war. Gareth ging weiter in Richtung Süden. Sein Instinkt trieb ihn zurück nach King’s Court – oder was davon noch übrig war. Er wusste, dass Andronicus Männer die Stadt verwüstet hatte, dass sie höchstwahrscheinlich in Trümmern lag, doch er wollte nach King’s Court zurück. An den Ort, den alle anderen aufgegeben hatten. Den Ort, an dem er, Gareth, einst geherrscht hatte. Nachdem er tagelang gewandert war, schwach und verwirrt vor Hunger, kam Gareth endlich an den Rand des Waldes und sah King’s Court in der Ferne. Da lag es – und die Mauern standen noch immer, zumindest zu Teil, auch wenn sie verkohlt waren und verfielen. Überall lagen die Leichen von Andronicus Männern herum, ein Beweis, dass Thor hier gewesen war. Davon abgesehen lag es verlassen, und außer dem Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Das war Gareth gerade recht. Er wollte nicht in die Stadt gehen. Er wollte zu einem kleinen, versteckten Gebäude außerhalb der Stadt, einem Ort, an den er als Kind immer gerne gekommen war. Ein rundes Gebäude aus Marmor, das sich nur wenige Meter über dem Boden erhob mit kunstvoll verzierten Statuen auf dem Dach. Es war die Gruft der MacGils. Der Ort an dem sein Vater begraben worden war – und dessen Vater vor ihm. Gareth war sich sicher, dass die Gruft nicht zerstört worden war. Wer würde sich schon die Mühe machen, ein Grab anzugreifen? Es war der eine Ort, an dem niemand nach ihm suchen würde und an dem er Unterschlupf finden konnte. Ein Ort, an dem er sich verstecken konnte und in Ruhe gelassen wurde. Ein Ort, an dem er mit seinen Vorfahren alleine sein konnte. So sehr Gareth seinen Vater auch hasste so sehr wollte er ihm in diesen Tagen nahe sein. Gareth eilte über das offene Feld; ein kalter Windstoß ließ ihn erschaudern und er zog den verschlissenen Mantel enger um seine Schulter. Er hörte den schrillen Ruf eines Wintervogels und sah die große, furchteinflößende schwarze Kreatur, die über ihm kreiste und mit jedem Ruf erwartete, dass er zusammenbrach und ihr nächstes Mahl wurde. Gareth konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte kaum mehr Kraft und war sich sicher, dass er eine erstklassige Mahlzeit für den Vogel darstellen würde. Endlich erreichte Gareth das Gebäude, griff den schweren eisernen Türgriff mit beiden Händen und drückte ihn mit beiden Händen nach unten. Die Welt drehte sich um ihn und er war vor Erschöpfung schon fast im Delirium. Die Türe öffnete sich einen Spalt weit, und er musste all seine Kraft aufzubringen, sie weiter aufzuziehen. Gareth eilte in die Finsternis und zog die schwere Tür hinter sich zu. Der Klang hallte im alten in dem alten Gemäuer lang nach. Er griff in der Finsternis nach einer Fackel an der Wand – er wusste genau, wo sie befestigt war, schlug einen Feuerstein und entzündete sie. Sie gab gerade genug Licht, damit er die Stufen hinabsteigen konnte, immer tiefer in Finsternis hinab. Es wurde immer kälter und zugiger je tiefer er kam, der kalte Winterwind fand seinen Weg durch die schmalsten Ritzen. Er hatte das Gefühl, dass seine Vorfahren ihn anheulten, ihn tadelten. „LASST MICH IN RUHE!“ schrie er zurück. Seine Stimme hallte von den Wänden der Gruft wieder. „IHR WERDET EUREN PREIS SCHON FRÜH GENUG BEKOMMEN!“ Doch der Wind blies weiter. Gareth war wütend und stieg tiefer hinab, bis er endlich die große marmorne Kammer mit ihrer drei Meter hohen Decke erreichte, in der all seine Vorfahren in marmornen Sarkophagen lagen. Gareth durchschritt feierlich den Raum, auf die gegenüberliegende Seite zu, wo sein Vater lag. Seine Schritte hallten vom marmornen Boden und den Wänden wider. Der alte Gareth hätte den Sarkophag seines Vaters zertrümmert. Doch plötzlich begann er, so etwas wie Zuneigung ihm gegenüber zu spüren. Er konnte es kaum verstehen. Vielleicht ließ die Wirkung des Opiums nach; oder vielleicht war es auch, weil er wusste, dass er selbst bald tot sein würde. Gareth erreichte den großen Sarkophag und beugte sich darüber. Er legte seinen Kopf auf den kalten Stein und bemerkte überrascht, dass er weinte. „Ich vermisse dich Vater“, weinte er, und seine Stimme hallte in der Einsamkeit der Gruft. Er weinte und weinte, Tränen liefen ihm über das Gesicht, bis schließlich seine Beine müde wurden und er erschöpft zusammensank und an das Grab seines Vaters gelehnt am Boden saß. Der Wind heulte, als ob er ihm antworten wollte und Gareth legte seine Fackel nieder, die immer schwächer brannte – eine winzige Flamme, die von der Schwärze umfangen wurde. Gareth wusste, dass bald alles Finster sein würde und dass er bald bei denen sein würde, die er am meisten liebte.
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