Kapitel 2-3

1959 Words
„Er hat mir einen hochgereckten Daumen gezeigt. Also gehe ich mal davon aus, dass du kein gefährlicher Verbrecher bist“, entgegnete ich. „Gefährlich vielleicht schon, aber nicht für dich. Niemals für dich. Dann schreib ihm später, nach der Party. Ich möchte, dass du das tust, damit du keine Angst vor mir hast.“ Irgendwie wusste ich, dass er nicht so gefährlich war, wie er aussah – Tattoos, kurzgeschorene Haare, Narben. Ich war einfach von Natur aus wahnsinnig vorsichtig. Wenn ich jemals aus meinem Schneckenhaus kommen wollte, wozu mich Christy ständig überreden wollte, musste ich jetzt damit anfangen. Gray war nicht auf der Suche nach etwas. Jemandem. Das hatte er gesagt. Ich hatte gesehen, dass er sich gut mit Paul verstand. Er war einfach freundlich zu mir. Ich streckte meine Hand aus und nahm das Glas, wobei sich unsere Finger streiften. Bei dem Funken, den ich bei dieser leichten Berührung verspürte, schnellten meine Augen nach oben, um nachzuschauen, ob er ihn auch gespürt hatte. Einen kurzen Augenblick hielten wir beide das Glas fest. Die Welt um mich herum konzentrierte sich allein auf diese minimale Verbindung. „Ich habe keine Angst vor dir“, versicherte ich ihm, kurz bevor ich einen Schluck von dem kalten Wasser nahm. Er zog seine Braue hoch und sah mich skeptisch an. „Ehrlich, das habe ich nicht. Ich habe keine Angst, aber du machst mich… nervös.“ Meine Finger zitterten und ich hielt meine Hand hoch, um es ihm zu zeigen. „Siehst du?“ Überraschung huschte über sein Gesicht. „Nervös? Wegen mir? Liegt das an meinem guten Junge-von-Nebenan Aussehen?“ Er wusste, dass er einschüchternd war und machte sich über sich selbst lustig. „Nervös genug, um dich zu beschuldigen, mir K.O.-Tropfen in mein Getränk gekippt zu haben.“ Sein breites Lächeln brachte mich auch zum Lächeln. Wie schaffte er es nur, dafür zu sorgen, dass ich mich entspannte, wenn ich mich stattdessen doch wahnsinnig schämen sollte? „Kann ich auch nochmal von vorne anfangen, wie du es gemacht hast?“ Er nickte und verschränkte seine stumpfen Finger vor der Brust. „Klingt fair. Wir bekommen beide eine Neuauflage.“ Ich holte tief Luft, sah ihm direkt in die Augen und lächelte. „Danke für das Wasser, Gray.“ Ich nahm einen kalten und erfrischenden Schluck. Hielt inne. Er beobachtete, wie ich schluckte. Er räusperte sich. „Gern geschehen.“ „Woher wusstest du, dass ich nicht getrunken habe? Alkohol, meine ich.“ „Das erste Mal, als ich dich sah – ich kam wegen eines Meetings zu spät – hast du dich mit dem Barkeeper unterhalten. Bildhübsch und du hast den Kerl zum Lächeln gebracht. Er hat zu etwas genickt, das du gesagt hast, und dir ein Getränk zubereitet, das wie ein Gin Tonic aussah.“ Das war mindestens zehn Minuten vor dem Moment passiert, als er zu mir gekommen war und mich gerettet hatte. Gray hatte mich länger beobachtet, als ich angenommen hatte. Wie hatte er davor meinem Blick entgehen können? Er war unmöglich zu übersehen. Ich reagierte auf ihn auf Arten, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Es war schon fast eine instinktive Reaktion. Wegen seiner…Attraktivität wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Mich geschmeichelt fühlen? „Ich hatte ein Glas Wein, als ich hier ankam, und ich muss noch nach Hause fahren“, erklärte ich. „Ich vertrage nicht viel, weshalb ich nicht mehr brauchte. Wenn ich aber ein Glas Wasser in der Hand halte, das wirklich wie Wasser aussieht, fragen mich die Leute, ob ich eine ehemalige Alkoholikerin bin oder sie schauen auf meinen Bauch und fragen, ob ich schwanger bin.“ Sein Kiefer spannte sich an. „Ich habe mit dem Trinken aufgehört, als ich mit dem Training anfing, und nie wieder damit begonnen. Aber mir stellen die Leute solche Fragen nicht. Beschissene Doppelstandards.“ Ich zuckte nur mit den Achseln, denn dem gab es nichts hinzuzufügen. Es war ein beschissener Doppelstandard, aber es freute mich, dass er nicht froh darüber war. „Außerdem, wenn ich abends zu viel trinke, fällt es mir schwer, gleich am Morgen zu trainieren.“ „Joggst du?“ Ich verdrehte meine Augen bei der Vorstellung, dass ich freiwillig joggte. Als ob. „Nur wenn ich verfolgt werde.“ Seine Augen verzogen sich bei meinem schwarzen Humor zu Schlitzen. Das amüsierte ihn eindeutig nicht. „Die Vorstellung, dass du verfolgt wirst, ist nicht witzig.“ „Ja, sorry“, sagte ich zerknirscht. Wow, er hatte auch noch einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. „Nein. Ich mache Yoga.“ Interesse leuchtete auf seinem Gesicht auf. „Yoga? Wirklich?“ Ich wartete darauf, dass er etwas darüber sagen würde, wie flexibel ich war, aber er tat es nicht. „Yin? Vinyasa? Hot Yoga?“, fragte er. Mein Mund klappte auf, da ich leicht verblüfft war, dass er die verschiedenen Arten kannte. „Du praktizierst Yoga?“ Er lachte. „Ich kann nicht einmal meine Zehen berühren, aber wir bieten Kurse in meinem Fitnessstudio an. Dann bist du also ein Morgenmensch.“ „Ich schaue mir gerne den Sonnenaufgang an.“ Ich mochte es, wie der Himmel die Farbe von schwarz zu grau zu pink und dann zu blau veränderte, wie die Berggipfel die ersten Sonnenstrahlen einfingen. Dass die Stadt noch zu schlafen schien. „Das kann ich gut verstehen. Ich jogge fast jeden Morgen um sechs Uhr. Ich mag die Stille.“ War das der Grund dafür, dass er die Männer von gerade eben weggeschickt hatte – weil sie zu laut gewesen waren? War es möglich, dass dieser Mann ebenfalls wie ich introvertiert war? Etwas wurde meinem Inneren bewusst. Er wusste es. Er mochte die Stille. „Du…du verstehst es also“, erwiderte ich mit leiser Stimme. Ich freute mich, war geradezu euphorisch und Freude durchströmte mich. Sein Mundwinkel hob sich an, aber er sagte nichts, sondern betrachtete mich einfach weiterhin. Als seine Augen jetzt meinen Blick hielten, war ich nicht nervös, ich war…fasziniert. „Ich spiele sonntags Flag Football in einer Freizeit-Liga. Nur zum Spaß. Wir nehmen es nicht sonderlich ernst, vor allem da viele von uns einem älteren Semester angehören.“ Älterem Semester? Er konnte nicht viel älter sein als ich. Vielleicht vierzig oder so. Ich bezweifelte, dass er Probleme hatte, mit irgendjemand Jüngerem mitzuhalten, insbesondere, wenn er ein Trainer war. Er sah mehr als fit genug aus, um bei allem, was er erreichen wollte, mitmachen zu können. Ich hatte nur nicht erwartet, dass ein Cowboy Flag Football spielen würde. Aber das war ziemlich voreingenommen von mir, vor allem da ich es selbst hasste, wenn die Leute voreilige Schlüsse über mich zogen. Wie Bob/Bill und dass ich eine freiwillige Helferin war. „Das Spiel ist um elf“, fuhr er fort. „Ich würde mich freuen, wenn du kommen würdest.“ Mein Mund klappte auf und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Er bat mich um ein Date? Er hielt eine Hand hoch. „Keine Panik – es ist kein Date.“ Die Einladung brachte mein Herz trotzdem dazu, wild zu pochen. Ich hob eine Braue. „Wirklich? Bittest du etwa so alle Frauen, mit dir auszugehen?“ „Frauen? Wie die im Restaurant?“ Ich konnte nur nicken. Er beugte sich nach vorne, musterte mich eindringlich. „Ich will dich…bei meinem Spiel sehen. Nicht als Date, weil ich mir vorstellen kann, dass du sofort flüchtest, wenn ich dich offen um eines bitte. Wie ich bereits sagte, möchte ich nicht, dass du Angst vor mir hast.“ Als ich ein weiteres Mal den Mund öffnete, um zu sprechen, legte er einen Finger auf meine Lippen. Die Berührung war warm und sanft und ich konnte nicht viel mehr tun, als das Kribbeln bis in meine Zehenspitzen…und andere Stellen zu spüren. „Oder nervös bist. Glaub mir, Emory, wenn ich dich um ein Date bitte, wirst du es wissen.“ Er sagte wenn, nicht falls. „Ich will dich einfach nur wiedersehen.“ Er senkte seine Hand. „Ich dachte, du wolltest nicht versuchen, mich aufzureißen“, wand ich ein. „Das hier“, er wedelte mit dem Finger zwischen uns herum, „ist anders. Das ist kein Aufreißen. Diese Frauen, die sind zum Aufreißen da. Du…“ Er ließ den Rest des Satzes offenstehen. Während ich noch immer das Warum verarbeitete, redete er weiter: „Betrachte es einfach nicht als Date, sondern als Zufall, dass wir beide zur gleichen Zeit im Antelope Park sind.“ Ich musterte ihn, zweifelte an seiner Aufrichtigkeit. „Du willst wirklich – “ Er unterbrach mich mit einem einzigen Wort. „Ja.“ Die Schmetterlinge, Bienen, nein, Hornissen tobten wieder in meinem Bauch. Er wollte, dass ich dort hinkam, ansonsten hätte er es nicht angesprochen. Er überließ die Entscheidung jedoch ganz allein mir, weil er eindeutig wusste, wie nervös ich war. Wieder einmal beruhigte er mich in der Hoffnung, dass ich kommen würde. Ich hatte noch bis Sonntagmorgen, um zu entscheiden, was ich tun wollte. Nach der lächerlich kurzen Zeit, die er mich nun kannte, hatte er bereits gelernt, dass ich eine begründete, sichere Entscheidung treffen musste. Während wir uns unterhalten hatten, war die Sonne untergegangen. Abgesehen von den kleinen weißen Lichtern, die um die Brüstung gewickelt worden waren, wurden wir noch von dem Restaurant beleuchtet. Grays Gesicht lag im Schatten, sein Blick war dunkler und entschlossener. Er sah aus wie ein Kerl, dem man nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollte, aber ich fühlte mich bei ihm…sicher. Ich musste nichts vortäuschen oder ein künstliches Gespräch führen. Es war einfach passiert, obwohl ich in ein Fettnäpfchen getreten war. Er hatte dafür gesorgt, dass ich mich wohlfühlte und es hatte sich herausgestellt, dass wir sogar viele Gemeinsamkeiten hatten. Außerdem fand ich ihn absolut heiß. „Dann gibt es also keinen Grund, nervös zu sein“, erwiderte ich, wobei ich mich über mich selbst lustig machte. „Nein.“ Er lächelte warm, herzlich. Sein Blick sank auf meinen Mund und ich fragte mich, ob er mich küssen wollte. Ich wollte ihn irgendwie auch küssen. Mein Herz raste bei der Idee. Ich hatte schon so lange Zeit kein Interesse mehr daran gehabt, einen Mann zu küssen, und mir das einzugestehen, war leicht furchteinflößend. Schnell und furchteinflößend. Nicht Gray an sich. Er schien geduldig und angenehm zu sein. Ich wagte es jedoch nicht, ihm das zu erzählen. Kein Mann wollte als angenehm bezeichnet werden. „Ich…ich sollte dann mal gehen. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Gray, aber ich habe morgen um sechs Uhr Yoga.“ Ich erhob mich, wobei meine Stuhlbeine nicht über den Beton kratzten. Er stand ebenfalls auf und ich musste meinen Kopf nach hinten neigen, um ihn anschauen zu können. „Ich möchte nicht, dass du allein zu deinem Auto läufst. Also lass mich dich begleiten.“ „Dankeschön. Ich würde dein Angebot annehmen, wirklich, aber ich habe es beim Parkservice abgegeben.“ Dadurch, dass ich in der Notaufnahme arbeitete, sah ich mit eigenen Augen all die schlimmen Dinge, die in Brant Valley passierten. Er lachte leise. „Natürlich hast du das.“ Ich sah durch meine Wimpern zu ihm hoch und realisierte, dass er sich nicht über mich lustig machte, aber definitiv von mir amüsiert war. „Gute Nacht“, murmelte ich und lief an ihm vorbei. Seine Hand auf meinem nackten Arm ließ mich anhalten, meinen Atem stocken. Die Berührung war sanft, seine Haut warm und rau von Schwielen, dennoch war es wie ein kleiner Elektroschock. „Ich hoffe, dass ich dich am Sonntag wiedersehe, Emory.“ Seine Stimme war leise, fast schon intim. Ich nickte leicht, aber sah nicht zu ihm hoch. Meine Haut kribbelte dort, wo er sie berührte hatte, bis ich bei meinem Auto ankam.
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