VII
Als ich in's Zimmer trat, saßen Miß Halcombe und eine ältliche Dame bereits am Eßtische.
Die ältliche Dame erwies sich, als ich ihr vorgestellt wurde, als Miß Fairlie's frühere Erzieherin, Mrs. Vesey, von der meine lebhafte Gefährtin am Frühstückstische mir die kurze Beschreibung gegeben, daß sie »alle Cardinaltugenden besitze und nicht mitgerechnet werde«. Ich kann wenig mehr als mein bescheidenes Zeugnis darbieten, daß Miß Halcombe's Skizze von dem Charakter der alten Dame eine durchaus getreue war. Mr. Vesey sah wie die personificirte menschliche Gemüthsruhe und weibliche Liebenswürdigkeit aus. Ruhiger Genuß eines ruhigen Daseins glänzte in schläfrigem Lächeln aus ihrem runden, friedlichen Gesichte.
Wenn Mrs. Vesey eine Leidenschaft hatte, so war es die, ihr Leben möglichst sitzend zuzubringen. Man mochte sie im Hause, im Garten oder sonst wo sehen – überall dieselbe Manie. Selbst auf Spaziergängen, zu denen sie dann und wann ihre Freunde vermochten, bediente sie sich eines Feldsessels, auf den sie sich stets zuvor, ehe sie einen Gegenstand in Augenschein nahm, niederließ; ja, um die einfachste Frage zu beantworten, war es nur mit Ja oder Nein, mußte sie sich zuvor niedersetzen – immer mit demselben ruhigen Lächeln auf den Lippen, derselben allezeit bereiten aufmerksamen Haltung des Kopfes, derselben gemüthlich bequemen Haltung ihrer Hände und Arme unter allen erdenklichen Wechseln häuslicher Verhältnisse. Eine milde, willfährige, durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, bei der Einem nie der Gedanke kam, daß sie seit der Stunde ihrer Geburt jemals wirklich lebendig gewesen sei! Die Natur hat in dieser Welt so viel zu thun und ist mit der Erschaffung einer so unendlichen Mannigfaltigkeit von nebeneinander bestehenden Producten beschäftigt, daß sie gewiß nothwendigerweise hin und wieder zu verwirrt und zerstreut sein muß, um die verschiedenen Bildungsprocesse und Veranstaltungen, die sie immer zur selben Zeit unter den Händen hat, klar zu unterscheiden. Indem ich von diesem Gesichtspunkte ausgehe, wird es stets meine Ueberzeugung sein, daß die Natur mit der Herstellung von Kohlstauden beschäftigt war, als Mrs. Vesey geboren wurde, und daß die gute Dame unter den Folgen der damals vorzugsweise dem Gemüse geltenden Beschäftigung der Allmutter zu leiden hatte.
»Nun, Mrs. Vesey,« sagte Miß Halcombe und sah im Gegensatze zu der gelassenen alten Dame an ihrer Seite munterer, schärfer und geschäftiger aus, denn je, »was wollen Sie haben, eine Cotelette?«
Mrs. Vesey legte ihre gefalteten Hände auf den Rand des Tisches, lächelte mild und sagte: »Ja, meine Liebe.«
»Was ist das da vor Mr. Hartright? – Gesottenes Huhn, nicht wahr? Ich glaubte, Sie äßen gesottenes Huhn lieber als Coteletten, Mrs. Vesey?«
Mrs. Vesey nahm ihre weichen Hände vom Rande des Tisches und faltete sie statt dessen auf ihrem Schooße; dann nickte sie dem gesottenen Huhn freundlich zu und sagte: »Ja, meine Liebe.«
»Nun ja, aber welches von den Beiden wollen Sie heute haben? Soll Mr. Hartright Ihnen etwas Huhn geben, oder ich eine Cotelette?«
Mrs. Vesey legte eine ihrer weichen Hände wieder auf den Tisch, zögerte träumerisch und sagte: »Was Sie wollen, meine Liebe.«
»Um aller Barmherzigkeit willen! Es ist eine Frage für Ihren Geschmack, liebe Madame, nicht für den meinigen. Ich schlage vor, Sie nehmen von Beiden ein wenig und von dem Huhn zuerst, denn Mr. Hartright stirbt vor Sehnsucht, für Sie zu tranchiren.«
Mrs. Vesey legte auch die andere weiche Hand wieder auf den Rand des Tisches, verbeugte sich gehorsam und sagte: »Wenn ich bitten darf, Sir.«
Ganz gewiß eine milde, gefällige durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, wie? Aber vielleicht haben wir für den Augenblick genug von Mrs. Vesey.
Unterdessen war noch immer keine Spur von Miß Fairlie zu sehen, wir waren mit dem Gabelfrühstück zu Ende, und sie kam noch immer nicht. Miß Halcombe, deren Scharfsinne nichts entging, bemerkte die Blicke, welche ich von Zeit zu Zeit der Thür zuwarf.
»Ich verstehe Sie, Mr. Hartright,« sagte sie; »Sie möchten wissen, was aus Ihrer anderen Schülerin geworden ist. Sie ist bereits heruntergekommen und ihr Kopfweh los geworden; aber ihr Appetit ist noch nicht so weit zurückgekehrt, daß sie an unserem Gabelfrühstück theilnehmen möchte, wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, so denke ich, sie irgendwo für Sie auffinden zu können.«
Sie nahm einen Sonnenschirm von einem Stuhle neben ihr und führte mich durch eine große Glasthür am andern Ende des Zimmers auf den freien Gartenplatz. Es ist fast unnöthig zu sagen, daß Mrs. Vesey am Tische sitzen blieb, auf dessen Rande sie noch immer ihre weichen Hände gefaltet hielt, dem Anscheine nach nunmehr für den ganzen übrigen Theil des Rachmittags.
Als wir über den Rasenplatz schritten, sah Miß Halcombe mich bedeutungsvoll an und schüttelte den Kopf.
»Jenes geheimnisvolle Abenteuer, das Sie hatten, bleibt nach wie vor in ein angemessenes, mitternächtiges Dunkel gehüllt,« sagte sie. »Ich habe den ganzen Morgen meiner Mutter Briefe durchsucht und bis jetzt noch keine Entdeckungen gemacht. Doch seien Sie ohne Sorge, Mr. Hartright. Dies ist eine Sache der Neugierde, und Sie haben ein Weib zu Ihrem Verbündeten. Unter solchen Verhältnissen ist früher oder später der Erfolg gewiß. Ich habe noch nicht alle Briefe durchgelesen, es bleiben mir noch drei Paquete, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich den ganzen Abend mit Durchsuchen derselben zubringen werde.«
Hier also war eine meiner Erwartungen noch unerfüllt geblieben. Ich war nun begierig zu erfahren, ob auch die Vorstellung, welche ich mir seit dem Frühstück von Miß Fairlie gemacht, mich täuschen werde.
»Und wie sind Sie mit meinem Onkel fertig geworden?« fragte Miß Halcombe, als wir den Rasenplatz verließen und in ein Gebüsch einbogen. »War er heute Morgens besonders nervenschwach? Sie brauchen Ihre Antwort nicht zu überlegen, Mr. Hartright. Es genügt mir schon, daß Sie überhaupt genöthigt sind, sie zu überlegen. Ich sehe es Ihrem Gesichte an, daß er besonders nervenschwach war, und da ich liebenswürdig genug bin, nicht zu wünschen, daß Sie in denselben Zustand gerathen, so fragte ich lieber gar nicht weiter.«
Während sie noch sprach, bogen wir in einen Schlangenweg ein und näherten uns einem hübschen Lusthäuschen, von Holz und in Form eines Schweizerhäuschens in Miniatur gebaut. In dem einzigen Stübchen dieses Lusthäuschens sahen wir, als wir die Stufen hinaufstiegen, eine junge Dame. Sie stand an einem ländlichen, aus Baumästen angefertigten Tische und schaute auf Heide und Hügel landeinwärts durch eine Lichtung in den Bäumen, wobei sie zerstreut in einem kleinen Skizzenbuche blätterte, das neben ihr lag.
Es war Miß Fairlie.
Wie kann ich sie beschreiben? Wie kann ich sie von meinen eigenen Gefühlen und von alledem trennen, was sich später ereignet? Wie kann ich sie wiedererblicken, wie sie aussah, als meine Augen zum ersten Male auf ihr ruhten – sowie sie den Augen Derer erscheinen soll, die sie jetzt durch diese Blätter kennen lernen?
Das kleine Aquarell, das ich zu einer späteren Zeit von Laura Fairlie in dieser Stellung und Umgebung malte, liegt vor mir auf meinem Pulte, während ich schreibe. Ich schaue es an und es dämmert mir auf dem grünlich braunen Hintergrunde des Gartenhauses eine leichte, jugendliche Gestalt entgegen in einem einfachen Musselinkleide, dessen Muster von breiten, abwechselnden hellblauen und weißen Streifen gebildet wurde. Ein Shawl von demselben Stoffe schmiegt sich leicht um ihre Schultern und ein kleiner, runder Strohhut von natürlicher Farbe und ein wenig mit Band garnirt, das mit dem Kleide harmonirt, bedeckt ihr Haupt und wirft seinen weichen Schatten auf den oberen Theil ihres Gesichtes. Ihr Haar ist von einem so matten, blassen Braun – nicht flachsfarben und doch beinahe so hell; nicht goldig und doch fast so glänzend – daß es hier und da mit dem Schatten ihres Hutes zu verschmelzen scheint. Es ist einfach gescheitelt und über die Ohren zurückgezogen, über der Stirn kräuselt es sich in einer natürlichen Wellenlinie. Die Augenbrauen sind etwas dunkler als das Haar und die Augen von jenem schmachtenden Himmelblau, das so oft von Dichtern besungen und so selten im wirklichen Leben gesehen wird. Liebliche Augen in Farbe, lieblich in Form – große, zärtliche, still gedankenvolle Augen – aber am schönsten durch die klare Wahrhaftigkeit des Blickes, die in ihrer innersten Tiefe ruht und durch alle Wechsel des Ausdruckes wie das Licht einer reineren und besseren Welt hindurch leuchtet. Der Reiz – so zart und doch so deutlich ausgedrückt – den sie über das ganze Gesicht gossen, verbirgt und verändert die kleinen sonstigen natürlichen menschlichen Mängel desselben dergestalt, daß es schwer ist, die beziehungsweisen Vorzüge und Fehler der anderen Züge Zu beurtheilen. Es ist schwer zu erkennen, daß der untere Theil des Gesichtes nach dem Kinne zu fast zu zart gebildet ist, um zu dem oberen im richtigen Verhältnisse zu stehen; daß die Nase, indem sie dem Adlerbogen entging (der bei Frauen immer etwas Hartes und Grausames hat, wie vollkommen er an und für sich auch sein mag) ein wenig nach der entgegengesetzten Richtung hin abgewichen ist und die ideale Geradheit übertreten hat und daß die lieblichen, gefühlvollen Lippen an einem kleinen nervösen Zucken leiden, das sie, wenn sie lächelt, ein wenig auf einer Seite in die Höhe zieht. Man dürfte solche Fehler möglicherweise in dem Gesichte einer anderen Frau bemerken, aber in dem ihrigen beachtet man sie nicht leicht; sie sind dazu mit Allem, was in ihrem Ausdrucke individuell und charakteristisch ist, zu genau verbunden, und der Ausdruck selbst ist in seiner ganzen Lebendigkeit in allen anderen Zügen zu sehr von der lebendigen Sprache der Augen abhängig.
Zeigt meine arme Zeichnung, die minnigliche, mit aller Muße vollendete Arbeit langer, glücklicher Tage, mir Alles dies? Ach! wie wenig ist davon in der mechanischen Zeichnung zu sehen und wie viel in den Gedanken, mit denen ich sie betrachte! Ein zartes, schönes Mädchen in einem hübschen, hellen Kleide, das mit den Blättern eines Zeichenbuches spielt, indem sie dabei mit treuen, unschuldigen blauen Augen aufblickt: – das ist Alles, was die Zeichnung sagt; vielleicht auch Alles, was selbst die größere Ausdrucksweise der Gedanken und der Feder in ihrer Sprache zu sagen vermögen. Das Weib, das unseren schattenhaften Vorstellungen von Schönheit zum ersten Male Leben, Licht und Gestalt verleiht, füllt eine Leere in unserer geistigen Natur aus, die uns, bis wir sie sahen, unbewußt war. Sympathien, die zu tief liegen für Worte, zu tief fast für Gedanken, werden in solchen Augenblicken von anderen Reizen berührt, als denen, welche die Sinne fühlen oder die Hilfsquellen des Ausdruckes bezeichnen können. Das Geheimnis, das sich in der Schönheit der Frauen birgt, erhebt sich nicht eher über den Ausdruck hinaus, bis es Verwandtschaft mit dem tieferen Geheimnisse in unserer Seele beansprucht. Dann und nur dann erst, hat sie jenes enge Bereich überschritten, auf welche in dieser Welt Feder und Griffel Licht zu werfen vermögen.
Denke an sie, wie an jenes erste Weib, das deine Pulse fliegen machte, über die bisher noch keine Andere ihres Geschlechtes Macht hatte. Laß die guten, offenen blauen Augen den Deinen begegnen, wie sie den meinen begegneten, mit dem einen unvergleichlichen Blicke, dessen wir uns Beide so wohl erinnern. Laß ihre Stimme in jener Musik sprechen, die du einst so liebtest und die deinem Ohre und dem meinen so harmonisch klang. Laß ihre Schritte, wie sie in diesen Blättern kommt und geht, gleich jenem Schritte sein, zu dessen leichtem Rauschen dein Herz den Takt schlug. Nimm sie hin als den geträumten Pflegling deiner eigenen Phantasie, und sie wird in einem so klaren Bilde vor dir stehen als das Weib, das in meiner Seele lebt.
Unter den Gefühlen, die sie mir aufdrängen, als ich sie zum ersten Male erblickte – Gefühle, die wir Alle kennen, die in den meisten unserer Herzen aufleben, in so vielen sterben und in ihr schönes Dasein in so wenigen wieder erneuern – war eins, das mich beunruhigte und verwirrte; ein Gefühl, das in Bezug auf Miß Fairlie auf seltsame Weise nicht folgerichtig und durchaus nicht gerechtfertigt schien.
Mit dem lebhaften Eindrucke, den der Liebreiz ihres schönen Gesichtes und Kopfes, der sanfte Ausdruck ihrer Züge und die einnehmende Einfachheit ihrer Manieren hervorbrachten, vermischte sich ein anderer, der mich auf nebelhafte Weise einen Mangel fühlen ließ. Einen Augenblick schien es, als ob ihr etwas fehle, im nächsten als ob der Mangel in mir sei und mich verhinderte, sie zu verstehen, wie ich sie hätte verstehen sollen; und das Widersprechende an der Sache war, daß dieser Eindruck immer am stärksten schien, wenn sie mich ansah, oder mit anderen Worten, wenn ich mir des Reizes und der Harmonie ihres Gesichtes am deutlichsten bewußt und doch dabei durch die Ahnung einer Unvollständigkeit verwirrt ward, der ich durchaus nicht näher aus die Spur kommen konnte. Es fehlte etwas, das zu ergründen ich damals zu ohnmächtig war.