Zweites Kapitel
Lucy
Als Ravil und sein junger Bratwa-Söldner mein Büro verlassen haben, stütze ich mich auf meinen Schreibtisch und versuche, wieder Luft zu bekommen.
Kein Yoga-Atmen. Mehr eine Art panisches Hecheln, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.
Wie unwahrscheinlich war das denn?
Nach all meinen Bedenken, dass meine beste Freundin Gretchen es jemandem im Black Light verraten würde und es irgendwie zu Master R. gelangen würde, meinen Partner aus dieser Nacht, taucht er ganz zufällig in meinem Büro auf.
Über eine Empfehlung vom italienischen Mafiaboss Paolo Tacone.
Gretchen wird es als Schicksal bezeichnen, wenn ich ihr das erzähle. Sie glaubt, das Universum schenkt einem die größten Freuden und diesen ganzen Mist. Sie hat mir außerdem gesagt, ich hätte eine moralische Verpflichtung, Ravil von meiner Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen.
Aber ich hatte einen sehr guten Grund, das nicht zu tun.
Gott, ich weiß nicht, ob ich da die richtige Entscheidung getroffen habe. Einem russischen Mafiaboss zu drohen, war vermutlich nicht mein cleverster Zug.
Und ich habe ihn definitiv beleidigt.
Aber vielleicht hat er auch gar kein Interesse an dem Kind. Soweit ich weiß, kann er ebenso gut verheiratet sein. Oder Kinder hassen. Oder mit mir einer Meinung sein, dass sein Beruf sich nicht mit dem Vaterdasein vereinbaren lässt.
Ein Schaudern läuft mir über die Haut, als ich mich daran erinnere, wie er meine Hand viel zu lange festgehalten hat. Wie ich mich in ein Reh im Scheinwerferlicht verwandelt habe, seine männliche Anziehungskraft meine Knie ganz weich gemacht hat, obwohl ich eigentlich hätte davonrennen sollen.
Ich hätte definitiv nicht lügen sollen. Das ist überhaupt nicht meine Art und beleidigt seine Intelligenz. Natürlich hat er sofort erraten, dass es sein Kind ist. Ich kann mich erinnern, dass er ausgesprochen scharfsinnig ist. Dass er wusste, wie ich auf jede seiner Andeutungen reagieren würde, noch bevor ich selbst es wusste. Dass er unsere gemeinsamen Szenen bis ins kleinste Detail geplant hatte, um mich zur Unterwerfung zu bewegen.
Aber ich erinnere mich auch daran, wie er einen Mann gewürgt hat, der respektlos über mich gesprochen hatte.
Ravil ist gefährlich. Sogar tödlich. Er ist Mitglied der Bratwa, der russischen Mafija. Als ich ihn im Black Light traf, wusste ich es in dem Augenblick, als ich die Tattoos sah, die seinen Körper bedecken. Er ist vermutlich ein ranghohes Mitglied, wenn man bedenkt, dass er mit einem russischen Diplomaten im Black Light war. Er bewegt sich außerhalb der Gesetze, um die ich den ganzen Tag herumtänzle. Er nimmt sich, was er will.
Bei einem Klienten macht mir tödlich nichts aus. Ich habe mit der Tacone-Familie zu tun, seit ich mein Examen bestanden habe. Ein Teil von mir findet die Macht und die Gefahr, die von diesen Familien ausgeht, geradezu berauschend. Und ebenso aufregend fand ich diese Qualitäten in einem Spielpartner im Black Light. Bis sich die Gewalt direkt vor meinen Augen entfesselt hat. In dem Moment habe ich mein Safeword benutzt und bin gegangen.
Aber ganz definitiv macht es mir etwas beim Vater meines Sohnes aus. Bei jemandem, der wirklich die Vaterrolle übernimmt, der nicht nur Samenspender ist. Als Samenspender ist Ravil Baranov perfekt. Ich kenne zwar seine Krankengeschichte nicht, aber er ist in guter Verfassung und attraktiv, mit stechend blauen Augen, blondem Haar und einem Körper, der nur aus Muskeln zu bestehen scheint. Außerdem ist er hochintelligent.
Er ist eben nur nicht die Sorte Mann, die ich mir als Vorbild für unseren Sohn wünsche.
Verdammt.
Jetzt sitze ich auf glühenden Kohlen und warte auf seine Reaktion. Wird er versuchen, sich in meine Schwangerschaft einzumischen, oder wird er mich in Ruhe lassen? Jetzt ist er am Ball, während ich darauf warte, ob der Himmel über mir einstürzt.
Und ich befürchte, dass er einstürzen wird.
Ich weiß nur nicht, wie. Oder wann.
Ravil
„Es ist ein Junge.“ Dima – der beste Hacker auf diesem Kontinent und in ganz Russland – zwinkert mir über seinen Laptop hinweg zu.
Ein Junge.
Ich bekomme einen Sohn.
Ich beuge mich über Dimas Schulter, während er durch Lucys Krankenakte scrollt. Ich habe Dima damit beauftragt, mir jeden Fetzen an Informationen zu besorgen, die er finden kann, angefangen bei der Krankenakte.
„Das Entbindungsdatum ist der sechste November“, liest Dima laut vor. Sein Zwillingsbruder, Nikolai, beugt sich über seine andere Schulter.
„Demzufolge ist das Empfängnisdatum … Moment …“ Nikolais Daumen fliegt über den Bildschirm seines iPhones. „Valentinstag.“ Unsere Blicke treffen sich. „Aber das wusstest du schon.“
Ich hole tief Luft und reibe meinen Kiefer. Ja, das wusste ich. Es ist definitiv mein Baby.
Ich bekomme einen Sohn.
Ich hatte nie damit gerechnet, Vater zu werden.
„Wir werden unseren Papa scheinbar mit einem neuen kleinen Bruder teilen müssen“, frotzelt Nikolai und gibt mir einen Klaps auf die Schulter. Papa ist die Bezeichnung, die manchmal für den Pachan, den Boss der Bratwa, benutzt wird. Es ist keine Bezeichnung, die ich je in Anspruch genommen habe, aber meine Männer benutzen ihn im Spaß.
Der schneidende Blick, den ich ihm zuwerfe, lässt ihn seine Hand augenblicklich zurückziehen. Er bietet mir ein Schulterzucken an. „Glückwunsch? Wirst du Anspruch auf ihn erheben?“
Ein Bestandteil des Kodex der Bratwa ist es, allen familiären Bindungen abzuschwören – sich von Müttern, Brüdern, Schwestern, Frauen loszusagen.
Geliebte sind in Ordnung, weil wir dem s*x natürlich nicht abschwören. Wir sind das Gegenteil von Mönchen.
Aber familiäre Verbindungen zu kappen ist ein Weg, um die Organisation zu schützen. Es sorgt dafür, dass die Interessen jedes einzelnen Mitglieds klar und unbeeinträchtigt sind. Und es schützt die Unschuldigen.
Das ist einer der Gründe, weshalb ich Lucy nach dem Valentinstag nicht weiter nachgelaufen bin, obwohl sie mich in dieser Nacht so unglaublich in ihren Bann gezogen hatte. Obwohl ich seitdem nicht mehr aufgehört habe, an sie zu denken. Herauszufinden, dass sie schwanger ist, ändert alles und nichts.
Nicht, dass die Regeln der Bratwa nicht gebrochen werden würden.
Vor allem von ranghohen Mitgliedern.
Igor, unser Pachan in Moskau, hat angeblich eine wunderschöne, rothaarige Tochter. Er hat die Mutter nie geheiratet – sie war all die Jahre über immer seine Geliebte, aber im Grunde genommen hat er eine Familie. Natürlich ist ihr Aufenthaltsort nicht bekannt. Er muss sie beschützen. Wenn er stirbt – und man hört, dass sich der Krebs in seinem Körper unaufhaltsam ausbreitet –, wird er womöglich versuchen, ihnen sein ausgesprochen großes Vermögen zu vermachen.
In welchem Falle der niedliche Rotschopf vermutlich nicht einmal bis zu seiner Beerdigung überleben wird. Ich gebe ihr nach seinem Tod noch drei Monate. Maximum.
Und jetzt werde auch ich ein Kind haben, das ich beschützen muss.
Werde ich Anspruch auf ihn erheben?
Lucy scheint zu glauben, dass ich kein Recht dazu habe. Dass ich ungeeignet bin.
„Es ist mein Kind“, sage ich finster.
Niemand nimmt sich, was mir gehört.
„Schick mir alles an Informationen, die du über Lucy Lawrence herausfinden kannst“, befehle ich Dima. „Was sie macht. Wo sie isst. Was sie kauft. Wen sie anruft. Alles.“