PROLOG
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Obwohl Sarah Caldwell erst sechzehn Jahre alt war, hatte sie bereits ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wenn etwas nicht stimmte. Und hier stimmte definitiv etwas nicht.
Sie wäre beinahe nicht mitgegangen. Aber als Lanie Joseph, ihre beste Freundin seit der ersten Klasse, sie anrief und fragte, ob sie an diesem Nachmittag mit ins Shopping Center gehen wollte, fiel ihr einfach kein überzeugender Grund dagegen ein.
Doch von der ersten Minute an kam ihr Lanie nervös vor. Sarah verstand nicht, was an der Fox Hills Mall so bedrohlich sein sollte. Als sie bei Claire’s billigen Modeschmuck ansahen, fiel Sarah auf, dass Lanies Hände zitterten.
In Wahrheit wusste Sarah überhaupt nicht mehr, was in Lanie vorging. In der Grundschule hatten sie sich sehr nahe gestanden, aber seitdem Sarahs Familie von Culver City Süd in das nicht weit entfernte, aber weniger kriminelle Westchester gezogen war, hatten sie sich langsam auseinander gelebt. Obwohl nur wenige Meilen sie voneinander trennten, war es ohne Auto dennoch nicht einfach, sich regelmäßig zu besuchen. So hatten die beiden Mädchen nach und nach immer weniger Zeit miteinander verbracht.
Als sie bei Nordstrom Makeup auflegten, warf Sarah einen verstohlenen Blick auf ihre Freundin. Lanies hatte pinke und blaue Strähnen in ihr blondes Haar gefärbt und ihre Augen waren bereits so dunkel umrandet, dass es eigentlich keinen Sinn machte, noch mehr Makeup auszuprobieren. Ihre blasse Haut wirkte gegen die dunklen Tattoos und das schwarze Tank Top noch bleicher. Lanie zeigte viel Haut, sodass Sarah zwischen der beabsichtigten Körperkunst auch zahlreiche blaue Flecken bemerkte.
Sie sah ihr eigenes Spiegelbild an und war über den Kontrast selbst erstaunt. Ihr war bewusst, dass sie auch eine attraktive junge Frau war, jedoch auf eine subtilere, nahezu besonnene Art. Ihr schulterlanges, braunes Haar trug sie im Pferdeschwanz, ihre haselnussbraunen Augen hatte sie mit dezentem Makeup hervorgehoben. Ihre olivfarbene Haut war makellos, im Gegensatz zu ihrer Freundin war sie nicht tätowiert und trug lange, ausgewaschene Jeans und ein unauffälliges hellblaues Top.
Jetzt fragte sie sich, ob sie ihrer Freundin heute ähnlicher sehen würde, wenn sie noch immer in der gleichen Nachbarschaft leben würde. Bestimmt nicht – ihre Eltern hätten das niemals zugelassen.
Würde Lanie in Westchester leben, würde sie sich trotzdem auftakeln wie eine Prostituierte an einem Truck-Stop?
Sarah schämte sich für diesen Gedanken und schüttelte unmerklich den Kopf. Seit wann erlaubte sie sich so schreckliche Urteile über ein Mädchen, mit dem sie früher Barbie gespielt hatte? Schnell wendete sie ihr Gesicht ab und hoffte, dass Lanie ihr die Schuldgefühle nicht ansehen würde, die ihr jetzt ohne Frage ins Gesicht geschrieben standen.
„Lass uns etwas essen“, sagte Sarah, um sich abzulenken. Lanie nickte und zusammen schlenderten sie aus dem Laden, begleitet von den argwöhnischen Blicken der Verkäuferin.
Als sie sich mit einer Riesenbrezel an einem der Tische niederließen, beschloss Sarah, ihrer Freundin auf den Zahn zu fühlen.
„Du weißt, dass ich mich immer freue, von dir zu hören, Lanie. Aber als du mich angerufen hast, hast du irgendwie aufgewühlt geklungen. Und du kommst mir die ganze Zeit schon so nervös vor… Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
„Bei mir ist alles cool… aber mein Freund wollte uns gleich noch treffen. Vielleicht bin ich einfach gespannt, was du von ihm hältst. Er ist ein bisschen älter als ich und wir sind erst seit ein paar Wochen zusammen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn verlieren könnte und habe gehofft, dass du mir etwas Mut zureden kannst. Vielleicht sieht er mich mit anderen Augen, wenn er mich mit meiner besten und ältesten Freundin zusammen erlebt.“
„Wie sieht er dich denn jetzt?“, fragte Sarah verdutzt.
Noch bevor Lanie etwas antworten konnte, kam ein Typ auf ihren Tisch zu. Auch ohne die Ankündigung hätte Sarah ihn als Lanies Freund identifizieren können.
Er war groß und extrem dünn, trug enge Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Haut war genauso blass und tätowiert wie Lanies. Sarah bemerkte, dass sie das gleiche kleine Tattoo am linken Handgelenk hatten: Einen Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen darunter.
Er war bestimmt zweiundzwanzig und seine langen, schwarzen, stachelig gestylten Haare und die dunklen Augen wirkten tatsächlich attraktiv. Er erinnerte Sarah an den Sänger einer Rockband aus den 80er Jahren, von dem ihre Mutter immer geschwärmt hatte. Skid Row, Motley Row, irgendetwas mit Row.
„Hey, Babe“, sagte er lässig und lehnte sich zu Lanie herunter um ihr einen überraschend intensiven Kuss zu geben – zumindest für ein kleines Shoppingcenter mitten am helllichten Tag. „Hast du es ihr schon gesagt?“
„Hatte noch keine Gelegenheit“, erwiderte Lanie kleinlaut und wandte sich an Sarah. „Sarah Caldwell, das ist mein Freund Dean Chisolm. Dean, das ist meine älteste Freundin Sarah.“
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Sarah und nickte höflich.
„Ganz meinerseits“, erwiderte Dean, nahm ihre Hand und machte eine tiefe, verspielt übertriebene Verbeugung. „Lanie redet ständig von dir. Sie würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Schön, dass ihr euch heute treffen könnt.“
„Das finde ich auch“, sagte Sarah. Sie war einerseits überrascht von seiner charmanten Art, andererseits blieb sie misstrauisch. „Was sollte sie mir denn sagen?“
Dean lächelte herzlich und Sarahs Misstrauen löste sich langsam auf.
„Ach das“, sagte er. „Heute Nachmittag kommen ein paar Freunde bei mir vorbei und wir dachten, dass es nett wäre, wenn ihr auch dazu kommt. Ein paar Leute spielen zusammen in einer Band und sie suchen eine neue Sängerin. Lanie hat erwähnt, dass du toll singen kannst und wir dachten, dass du sie vielleicht gerne treffen willst.“
Sarah sah zu Lanie, die zwar lächelte, aber nichts sagte.
„Möchtest du das gerne, Lanie?“, fragte Sarah sie direkt.
„Wäre doch lustig, neue Leute zu treffen“, sagte Lanie. Sie klang neutral, aber ihr Blick flehte Sarah wortlos an, sie vor ihrem coolen neuen Freund nicht zu blamieren.
„Wo wollt ihr euch denn treffen?“, fragte Sarah.
„Nicht weit von Hollywood“, sagte er. Seine Augen leuchteten freudig auf. „Dann mal los! Das wird bestimmt witzig!“
*
Sarah saß auf dem Rücksitz von Deans alten Sportwagen. Der Oldtimer sah von außen sehr gepflegt aus, aber im Innenraum wimmelte es nur so vor Zigarettenstummeln und zusammengeknüllten McDonald’s Papieren. Dean und Lanie saßen vorne. Die Musik war so laut aufgedreht, dass es unmöglich war, sich zu unterhalten. Sie knatterten durch die Straßen von Hollywood und erreichten bald den Stadtteil Little Armenia.
Sarah beobachtete ihre Freundin auf dem Beifahrersitz und fragte sich, ob sie ihr wirklich einen Gefallen tat, indem sie sich auf diesen Ausflug eingelassen hatte. Sie musste daran denken, wie Lanie ihr auf der Toilette im Shopping Center gegenüber gestanden hatte, bevor sie losgefahren waren.
„Dean ist sehr leidenschaftlich“, hatte sie gesagt, während sie ihren Lidstrich nachgezogen hatte. „Ich befürchte, dass er mich vielleicht abserviert, wenn ich nicht mitziehe. Er ist so sexy, er könnte jede haben. Aber er will mich. Und er behandelt mich nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine richtige Frau.“
„Hast du deswegen diese blauen Flecken? Weil er dich nicht wie ein kleines Mädchen behandelt?“
Sie hatte versucht, Lanies Blick im Spiegel zu begegnen, aber ihre Freundin wich ihr aus.
„Er war nur ein bisschen aufgebracht“, sagte sie. „Er dachte, dass ich mich für ihn schäme und ihm deswegen von meinen anständigen Freundinnen fern halte. Aber in Wahrheit habe ich kaum mehr Freundinnen wie dich. Genau genommen bist du die einzige. Ich dachte, wenn ich euch einander vorstelle, kann ich doppelt bei ihm punkten: Dann weiß er, dass ich ihn nicht verstecken will und er ist beeindruckt, weil ich wenigstens eine Freundin habe, die … naja… eine echte Zukunft hat.“
Ein Schlagloch holte Sarah in die Gegenwart zurück. Dean parkte auf einer heruntergekommenen Straße. Die wenigen Häuser hatten vergitterte Türen und Fenster.
Sarah holte ihr Handy aus der Hosentasche und versuchte zum dritten Mal eine kurze SMS an ihre Mutter zu senden, doch wie zuvor hatte sie keinen Empfang. Das Seltsame war, dass sie immer noch mitten in L.A. waren, nicht irgendwo in den Bergen.
Als Dean den Schlüssel abzog, steckte Sarah ihr Handy schnell wieder ein. Wenn sie im Haus immer noch keinen Empfang hatte, konnte sie bestimmt seinen Festnetzanschluss benutzen. Ihre Mutter ließ ihr viel Freiheit, aber wenn sie sich mehrere Stunden nicht meldete, ging das gegen ihre Vereinbarung.
Als sie zum Haus gingen, konnte Sarah bereits einen rhythmischen Bass hören. Ein unsicheres Gefühl lag ihr in der Magengrube, doch Sarah beschloss, es zu ignorieren.
Dean trommelte laut gegen die Haustür und wartete, bis von innen mehrere Riegel geöffnet wurden.
Schließlich öffnete sich die Tür gerade weit genug, um einen verzottelten dunklen Haarschopf preiszugeben, unter dem sich das Gesicht eines Typen zu verbergen schien. Der schwere Geruch von Gras waberte ihr in einer dicken Rauchwolke entgegen und Sarah musste husten. Als der Unbekannte Dean erkannte, streckte er ihm seine Faust zum Gruß hin und riss die Tür auf.
Lanie trat als erste ein und Sarah folgte ihr. Die Diele war mit einem dicken roten Samtvorhang vom Rest des Hauses abgetrennt, der Sarah an einen Zaubertrick auf einem Kindergeburtstag erinnerte. Während der Langhaarige die Tür wieder mehrfach verriegelte, zog Dean schon den Vorhang zum Wohnzimmer auf.
Sarah erschrak. Überall im abgedunkelten Raum standen schäbige Sofas, abgenutzte Sessel und fleckige Sitzsäcke. Die meisten waren besetzt von Pärchen oder Gruppen, die wild herumknutschten oder noch viel weiter gingen. Die Mädchen schienen ausnahmslos in Sarahs Alter zu sein und außerdem unter Drogen zu stehen. Ein paar hatten offenbar das Bewusstsein verloren, was die Typen – alle mindestens in Deans Alter – nicht davon abhielt, ihr Ding durchzuziehen. Das ungute Gefühl, das sie vor dem Haus befallen hatte, kehrte jetzt um ein Vielfaches stärker zurück.
Ich will nicht an diesem Ort sein!
Die abgestandene Luft roch nach Gras und etwas Süßerem, das Sarah nicht benennen konnte. Schon hielt Dean Lanie einen Joint unter die Nase. Sie zog ein paarmal daran, bevor sie ihn Sarah hinhielt. Sie schüttelte den Kopf. Sarah hatte genug gesehen. Sie wollte diesen Raum schnellstmöglich verlassen, der ihr wie die alte Kulisse eines Pornos vorkam.
Sie holte ihr Handy heraus, um ein Taxi zu rufen, aber noch immer hatte sie keinen Empfang.
„Dean“, rief sie über die Musik, „ich muss meiner Mutter sagen, dass ich später nach Hause komme, aber ich habe keinen Empfang. Gibt es hier ein Festnetz?“
„Klar. Im Schlafzimmer. Ich zeige es dir.“ Wieder lächelte er sie vertrauensvoll an. Dann wandte er sich an Lanie: „Babe, würdest du mir ein Bier aus der Küche holen?“
Lanie nickte und verschwand in dem Nebenraum, auf den Dean gerade gezeigt hatte. Dann winkte er Sarah mit sich in die entgegengesetzte Richtung. Sarah wusste nicht, warum sie wegen des Telefonats gelogen hatte, aber sie hatte den Eindruck, dass es den Männern nicht gefallen würde, wenn sie ehrlich sagte, dass sie nicht bleiben wollte.
Dean öffnete eine Tür am Ende des Gangs und trat zur Seite, um sie einzulassen. Sie sah sich um, konnte aber kein Telefon erblicken.
„Wo ist es denn?“, fragte sie und drehte sich zu Dean um. Dann hörte sie, wie er die Tür abschloss und zusätzlich eine Kette ganz ober an der Tür vorschob.
„Sorry“, sagte er schulterzuckend, „muss wohl in der Küche sein.“ Er klang nicht, als würde er den Irrtum bedauern.
Sarah überlegte, wie sie sich am besten aus dieser Situation befreien konnte. Sie war mehr als bedrohlich. Sarah war in das Schlafzimmer eines Hauses gesperrt, das so etwas wie ein Puff zu sein schien, in einem besonders zwielichtigen Teil von Little Armenia. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn unter diesen Umständen besser nicht reizen sollte.
Am besten stelle ich mich unschuldig und naiv. Ich muss hier weg.
„Kein Problem“, sagte sie keck, „dann gehen wir doch einfach in die Küche.“
Sie hörte eine Klospülung und fuhr herum. Eine unauffällige Tür wurde geöffnet und ein großer, breiter Südländer betrat das Schlafzimmer, dessen dreckig weißes T-Shirt ein Stück haarigen Bauches freigab. Sein Schädel war kahl rasiert und er hatte einen langen Bart. Hinter ihm lag ein Mädchen auf dem Linoleumboden, die kaum vierzehn Jahre alt war. Sie trug nur eine Unterhose und war scheinbar bewusstlos.
Sarahs Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl sie kaum mehr atmen konnte, versuchte sie, sich die Panik nicht anmerken zu lassen.
„Sarah, das ist Chiqy“, sagte Dean.
„Hi Chiqy“, sagte Sarah und gab sich alle Mühe, ruhig zu klingen. „Wir wollten gerade in die Küche gehen. Ich müsste mal telefonieren. Kannst du mir bitte aufmachen, Dean?“
Ihr Plan war jetzt, nur noch aus dem Haus zu kommen. In der Küche würde sie ohnehin kein Telefon finden. Nur noch raus und die Polizei verständigen.
„Erstmal möchte ich dich genauer ansehen“, sagte Chiqy mit rauer Stimme und ohne auf das einzugehen, was Sarah gerade gesagt hatte. Sarah sah den massigen Mann an, der sie von oben bis unten begutachtete. Dann leckte er sich über die Lippen. Sarah fühlte sich, als müsste sie sich übergeben.
„Und? Was sagst du?“, fragte Dean ungeduldig.
„Leichtes Sommerkleid, zwei unschuldige Zöpfchen und sie wird uns ein solides Einkommen bringen.“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Sarah und eilte zur Tür. Zu ihrer Überraschung trat Dean zur Seite.
„Hast du den Störsender benutzt?“, hörte sie Chiqy fragen.
„Ja. Ich habe sie beobachtet. Sie hat immer wieder versucht, eine Nachricht zu verschicken, aber ich bin sicher, dass nichts rausging. Oder, Sarah?“
Sarah fummelte gerade an der Türkette herum. Gerade als sie sie öffnete, fiel ein riesiger Schatten auf sie. Sie wollte sich umdrehen, aber ein dumpfer Knall war alles, was sie noch mitbekam.
Dann wurde es schwarz um sie.