Alice las noch einmal die Textnachricht, um sicher zu sein, dass sie am richtigen Ort war. Christopher hatte ihr eine SMS geschickt, wo sie sich treffen sollten. Sie hatte zwar nicht gewusst, was auf sie zukam, aber diese verräucherte Kneipe mit dem knallig pinken Schriftzug „AUDREY'S“ hatte sie nicht erwartet. AUDREY’S Bar war ein einsam gelegenes, mehrstöckiges Gebäude auf einer Lichtung in einem dunklen Wald. Auf dem Parkplatz standen hauptsächlich Motorräder und verbeulte Limousinen. Die Eisblumen an den Fenstern verwehrten ihr den Blick in das Innere, aber irgendwie gefiel Alice diese Kneipe. Durch die Doppeltüren drangen Musik, Gelächter und warmes Licht, die sehr einladend waren.
Ihr Handy piepste. Christopher hatte ihr eine SMS geschickt, dass er bereits da war und an der Theke auf sie wartete. Er musste kurz vor ihr eingetroffen sein. Pünktlich und höflich. Zwei weitere Pluspunkte für den heißen Typen. Sie lächelte vor sich hin. Nach ihren letzten, sehr enttäuschenden Verabredungen, sah der heutige Abend wirklich vielversprechend aus.
Alice trat durch die Tür. Plötzlich traf sie die stärkste allergische Reaktion, die sie je in ihrem Leben gehabt hatte wie ein Hammer. Sie sah alles wie durch einen Schleier, ihre Augen juckten und sie hatte hämmernde Kopfschmerzen. Sie presste die Finger an die Nasenwurzel und hielt den Atem an, in der Hoffnung, dass der Anfall vorübergehen würde.
Mist. Nicht jetzt. Sie hatte schon früher solche Allergieattacken gehabt, aber sie dauerten meist nur einige Sekunden. Das letzte Mal war es ihr beim Wandern passiert. Als sie an einer großen Gruppe vorbeilief, die sich einen sportlichen Freiluftwettkampf ansah, hatte sie auf einmal auch solche Kopfschmerzen bekommen. Erst als sie schon ein ganzes Stück weg war und nicht mehr daran dachte, was sie gesehen hatte, waren die Kopfschmerzen abgeklungen.
Mit verschleiertem Blick durchsuchte Alice die Menge an der Bar nach Christopher. Als sie ihn entdeckte, unterhielt er sich gerade intensiv mit der Bardame, einer blassen Frau mit rabenschwarzen, zu lauter kleinen Zöpfchen geflochtenen Haaren, die ihren Kopf umtanzten, und einer verzweigten Rosentätowierung auf der Brust.
Christopher sah so toll aus, dass Alice der Atem stockte und sie erstmal haltmachte, um sich zu sammeln. Seine Jeans, Sneakers und T-Shirt saßen perfekt und betonten seine schmale Taille, die breiten Schultern und muskulösen Arme. Seine Hand umklammerte das Glas so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten und seine Augenbrauen zogen sich zusammen als stünde er unter Stress. Obwohl die Bardame unablässig Cocktails mixte und Getränke an andere Gäste ausgab, hielt sie ihren mitleidigen und verständnisvollen Blick immer auf Christopher gerichtet. Keiner von beiden schien Alice zu bemerken, als sie sich ihren Weg durch die Menge zur Theke bahnte, wobei ihre Kopfschmerzen immer heftiger wurden, je weiter sie in den Raum hineinging.
Zu ihrer Linken feuerten vier riesige Typen mit Mohikanertolle lautstark einen hitzigen Wettkampf im Armdrücken am nächsten Tisch an. Dieser fand zwischen einem zierlichen jungen Mädchen in einem geblümten Kleid und einem riesigen Kerl, dessen Haut so blass war, dass sie schon fast bläulich wirkte, statt. Alice blinzelte. Ihr Kopfschmerz wurde stärker, als sie die beiden ansah. Einen Moment lang schien es, als hätten die Typen mit der Mohikanertolle grüne Haut und dem jungen Mädchen würden Blumen in den Haaren wachsen. Alice schüttelte den Kopf. Das ist unmöglich. Ihre Kopfschmerzen ließen einen Moment nach und die Blumenfrau war wieder ein ganz normales Mädchen, die Typen waren Biker und der riesige Kerl war ein gutmütiger Gigant, der vorgab, dass er sich beim Armdrücken wirklich gegen die Kleine anstrengen musste.
Ein Vogel flog zwischen den Dachbalken hindurch, dicht an Alices Gesicht vorbei. Sie schrie erschrocken auf. Was hat denn ein Vogel hier zu suchen?
Da spürte sie eine Hand, die sanft ihren Ellenbogen erfasste. Sofort erkannte Alice die Schwielen, die ihre Haut berührten, noch ehe sie sich umdrehte und Christopher ansah. Seine Haut war noch kühler als damals in der Galerie und wirkte beruhigend auf das heiße Hämmern ihrer Kopfschmerzen.
Christopher lächelte sie an. „Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Sorry, aber an diese Bar muss man sich erst langsam gewöhnen.“
Alice war froh, sich an ihn lehnen zu können, um das Gleichgewicht zu bewahren, als er sie zur Theke führte. „Es wird schon gehen. Wahrscheinlich trägt hier jemand ein Parfüm oder sowas, gegen das ich allergisch bin. Ich hoffe, es wird Ihnen nichts ausmachen irgendwo anders hinzugehen?“
Christopher wechselte einen Blick mit der Bardame. Diese beugte sich über die Theke und reichte Alice die Hand.
„Hallo, ich bin Lola. Es ist schon eine Weile her, dass wir hier frisches Blut hatten.“ Lola lächelte sie mit strahlend weißen Zähnen an. „Deine Kopfschmerzen kommen daher, dass deine Wahrnehmung der Wirklichkeit sich ändert und dein Körper sich dagegen wehrt. Versuche, alles um dich herum, außer Christopher und mir, zu ignorieren. Dann wirst du dich gleich viel besser fühlen.“
Was zum Teufel sollte das bedeuten? Meine Wahrnehmung der Wirklichkeit? Automatisch schüttelte Alice der Bardame die Hand und ihre Kopfschmerzen verschwanden so plötzlich als hätte man eine Lampe ausgeknipst.
Alice ließ sich auf einem der gepolsterten Barhocker nieder. Der verschwommene Schleier war noch immer vor ihren Augen und Alice versuchte ihn wegzublinzeln. Was ist hier nur los? Die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf warnte sie eindringlich, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, aber sie war einfach zu neugierig um darauf zu hören. Sie sah Christopher verstohlen an. Er betrachtete sie mit einem Blick, der so voller Hoffnung war, dass ihr davon ganz warm ums Herz wurde.
Christopher sah schon fast unwirklich gut aus, nahezu perfekt. Seine Gesichtszüge waren symmetrisch und der einzige Makel in seinem Gesicht war eine winzig kleine Narbe, die an der Bartlinie entlang auf seiner Wange verlief, sowie sein wirres Haar, das in alle Richtungen zu wachsen schien. Die Bardame ließ ein pinkfarbenes Getränk über die Theke auf sie zu schlittern, und Alice ergriff das Glas, bevor es über die Kante sauste.
„Gut gerettet.“ Lola zwinkerte ihr zu und wandte sich ab, um einem anderen Gast, dessen Kopf kaum bis zur Theke reichte, ein giftgrünes Gemisch zu servieren.
Alice zuckte zusammen, als der Vogel wieder knapp an ihrem Gesicht vorbeiflog. Dann landete er auf der Schulter des jungen Mädchens, das immer noch mit Armdrücken beschäftigt war.
„Der arme Vogel.“ Alice blinzelte mit den Augen. Der ganze Raum sah aus, als verschwämme er hinter einem Schleicher. „Wir sollten ihm helfen, hier heraus zu kommen. Vielleicht hat die Bardame etwas das wir dazu benutzen könnten.“
Christopher setzte sich auf den Hocker neben Alice und sah sie aus seinen braunen Augen etwas besorgt an.
„Das ist kein Vogel. Wir können immer noch gehen, wenn Sie wollen. Wenn wir hierbleiben, wird sich Ihre Sicht auf die Welt für immer ändern. Ich kenne eine andere Bar, wo wir hingehen könnten, wenn Sie dazu nicht bereit sind.“
Alice nahm einen Schluck von ihrem Drink. Er schmeckte himmlisch, erst süß auf der Zunge, aber dann mit einem würzigen Nachgeschmack, der in der Kehle brannte. Zugegeben, dieses ganze Gerede über veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit war etwas seltsam, aber sie würde nicht gehen und den besten Cocktail, den sie je getrunken hatte, stehen lassen.
„Das ist schon okay. Es gefällt mir hier. So einen Ort hätte ich mir nur nicht für unser erstes Date vorgestellt.“
Christopher lehnte sich sofort von ihr zurück. Jegliche Spur von Humor verschwand aus seinem Gesicht. „Miss Jones, ich habe Sie hierhin eingeladen, weil ich eine geschäftliche Angelegenheit mit Ihnen besprechen wollte.“
Alice fühlte, wie ihre Wangen sich röteten. Ich bin ja so ein Idiot! Natürlich ist es kein Date. „Oh, selbstverständlich. Das war mir nicht klar.“ Verzweifelt versuchte sie ihre Würde zu wahren. „Ein interessanter Ort für eine geschäftliche Besprechung. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe Sie hierher eingeladen, da ich der Überzeugung bin, dass die Welt davon profitieren würde, wenn Sie über Ihre normale Lebenserwartung hinaus weiterleben würden.“ Christopher hörte sich völlig ernst an.
„Wie bitte?“ Die Kopfschmerzen begannen wieder an ihren Schläfen zu hämmern.
„Ich bin ein Vampir. Und ich glaube, dass Sie auch einen großartigen Vampir abgeben würden.“
Die Kopfschmerzen kamen mit voller Kraft zurück und bauten sich auf wie eine Hitzewelle. Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Cocktail, konnte aber dieses Mal nur das Brennen schmecken. Alice sah Christopher an und wartete darauf, dass er sie plötzlich angrinsen und zugeben würde, dass das alles nur ein blöder Witz war.
„Es gibt keine Vampire.“ Das ist wieder mal typisch für mich, dass ich mich mit einem Irren zu einem Nicht-Date treffe. „Sie können ja gerne glauben, was Sie wollen, aber ich denke ich gehe jetzt besser“, sagte sie langsam.
Christopher legte sanft seine Hand auf ihre. „Warten Sie noch einen Moment. Sehen Sie sich um. Sehen Sie genau hin. Die meisten Menschen ignorieren alles Übernatürliche mit lebenslanger Sturheit, aber Sie sind eine Künstlerin. Sie haben Ihr Leben lang ein Auge für Schönheit gehabt.“ Seine Finger strichen sanft über ihren Handrücken und schickten kleine Wellen des Verlangens ihren Arm hinauf. Warum sind es immer die heißen Typen, die am beklopptesten sind? Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum und versuchte, nicht zu beachten was er sagte. Doch der Schleier vor ihren Augen hob sich langsam und ihr Blick wurde immer klarer.
Wie kann es nur möglich sein? Es ließ sich nicht abstreiten, dass sich tatsächlich irgendetwas veränderte.
Christophers Stimme wurde leiser, klang sexy und stark. „Es ist Ihre Entscheidung. Sie können in Ihr altes Leben zurückkehren. Sie können das alles hier vergessen und mich als verrückten Idioten abtun, den Sie zufällig in der Galerie kennengelernt haben. Aber Sie müssen sich entscheiden.“
„Was muss ich entscheiden?“ Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er mit tausend Hämmern bearbeitet. Was hatte Lola vorhin gesagt? Dass die Kopfschmerzen ein Symptom dafür waren, dass ihr Körper sich gegen die Änderung ihrer Wahrnehmung wehrte? Wenn Alice die Kopfschmerzen bekämpfen wollte, wusste sie was sie zu tun hatte: sie musste sich auf die hölzerne Theke oder auf ihr Glas konzentrieren, auf irgendetwas das normal war.
Aber vielleicht ist es ja an der Zeit mal etwas Verrücktes zu tun. Sie dachte zurück an die Galerie, wie sie sich schüchtern in ihrer Ecke versteckt hatte. Wenn sie da kein Risiko eingegangen wäre, hätte sie Christopher nie kennengelernt und wäre jetzt nicht hier. Was, wenn es wirklich noch mehr in dieser Welt gab, Dinge, die sie bis jetzt nie wahrgenommen hatte. War sie es sich nicht schuldig, die Wahrheit herauszufinden? Auch wenn sich das alles hier total bescheuert anhörte.
Sie setzte sich gerade auf ihrem Hocker auf und sah sich im ganzen Raum um. Sie konzentrierte sich auf jede Einzelheit auf die ihr Blick fiel.
„So ist es richtig.“ Sie konnte das Lächeln in Christophers Stimme hören, obwohl sie ihn gar nicht ansah. „Sehen Sie sich die Wahrheit an. Es gibt mehr Wunder in dieser Welt als wir in zwanzig Leben sehen könnten.“
Sie hielt sich an seiner Hand fest, wie an einem Rettungsanker. Der Schleier, der über dem ganzen Raum lag, schimmerte und hob sich dann plötzlich wie ein sich öffnender Vorhang. Jede Erinnerung an die Momente, in denen sie geglaubt hatte eine allergische Reaktion zu erleben, kam zurück, aber war jetzt völlig anders.
Vor einigen Monaten hatte sie am Himmel tief fliegende Flugzeuge entdeckt und sofort wahnsinnige Kopfschmerzen bekommen. Aber es waren gar keine Flugzeuge gewesen. Es waren Drachen mit wunderschön gefärbten Schuppen, die am Himmel entlang geflogen waren. Der Wettkampf, den sie bei ihrer Wanderung beobachtet hatte, war in Wirklichkeit ein komplizierter Hinderniskurs gewesen, während dessen sich Männer und Frauen zwischen ihrer Menschen- und Tiergestalt hin und her verwandelten, um die magischen Hindernisse zu überwinden.
„Miss Jones?“ Christopher berührte ihre Schulter.
Alice blinzelte. Sie war hin- und hergerissen zwischen Angst und Faszination. Alles was ich über meine Welt wusste, war falsch.
„Alice, geht es Ihnen gut?“