KAPITEL FÜNF
Polizistin Sadie Marlow blickte durch das kleine Glasfenster in den Raum. In dem ansonsten leeren Zimmer sah sie ein Bett an der Wand stehen. Auf dem Bett saß das Mädchen wegen dem sie gekommen war.
Der Psychologe, der an ihrer Seite stand, zog eine Plastikkarte aus der Tasche. Aber kurz bevor er sie über das Türschloss strich, um die Tür zu öffnen und den Polizisten Einlass zu gewähren, hielt er inne und wandte sich ihnen zu.
“Wissen Sie, wir waren noch nicht in der Lage auch nur ein verständliches Wort aus ihr herauszubekommen,” sagte der Psychologe. “Alles was sie sagt ist 'Scarlet. Scarlet. Ich muss Scarlet finden.'“
Nun war Officer Brent Waywood an der Reihe zu sprechen.
“Deswegen sind wir hier,” sagte er und zeigte auf sein offenes Notizbuch. “Scarlet Paine. Der Name taucht immer wieder in unseren Ermittlungen auf.”
Der Psychologe kräuselte die Lippen.
“Ich weiß, warum Sie hier sind,” erwiderte er. “Ich sehe es nur nicht gerne, wenn die Polizei meine Patienten verhört.”
Brent schlug abrupt sein Notizbuch zu, was ein klatschendes Geräusch verursachte. Er starrte den Psychologen genervt an.
“Wir haben tote Polizisten,” sagte er in abgehaktem Ton. “Gute Männer und Frauen, die heute Nacht nicht zu ihren Familien zurückkehren werden, wegen irgend so einem Psychopathen, der jeden tötet, der ihm in den Weg kommt. Was will er? Scarlet Paine. Das ist alles was wir haben. Also können Sie vielleicht verstehen, warum es für uns so wichtig ist ihre Patientin zu befragen.”
Officer Marlow trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, frustriert von der Tatsache, dass ihr Partner in jeder Situation Streit zu suchen schien. Sie konnte nicht umhin zu denken, dass es sehr viel einfacher sein würde das Interview alleine zu führen. Anders als Brent hatte sie eine ruhige Art mit den Zeugen umzugehen, vor allem mit psychisch verletzlichen, wie dem Mädchen, wegen dem sie hier waren. Darum hatte der Polizeichef sie in die Psychologische Anstalt geschickt. Sie wünschte sich nur sie hätte einen anderen Polizisten als Begleiter gewählt. Dann wurde ihr klar, warum der Polizeichef gerade nicht wirklich viele Polizisten zur Verfügung hatte und ihr Magen verknotete sich. Neben denjenigen, die die High-School bewachten, war der Rest des Reviers entweder tot oder verletzt.
Sie machte einen Schritt nach vorne.
“Wir verstehen, dass die Zeugin in einem zerbrechlichen Zustand ist,” sagte sie diplomatisch. “Wir werden unseren Ton freundlich halten. Keine pressenden Fragen. Keine lauten Stimmen. Vertrauen Sie mir, ich habe jahrelange Erfahrung in der Befragung mit Kindern wie ihr.”
Sie alle schauten zurück durch das Fenster auf das Mädchen. Sie wippte vor und zurück, ihre Knie an die Brust gezogen.
Der Psychologe schien sich damit zufriedenzugeben und ließ die Polizisten eintreten. Er wischte mit seiner Karte über das Türschloss. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf, während gleichzeitig ein Biep ertönte.
Er führte die zwei Polizisten in den Raum zu dem zusammengekauerten Mädchen. Erst da bemerkte Marlow die Manschetten an den Knöcheln und Handgelenken. Haltegurte. Das Krankenhaus nutze die Gurte nicht, wenn der Patient nicht eine Gefahr für sich selbst oder andere war. Was auch immer das Mädchen durchgemacht hatte, es war schrecklich gewesen. Warum sonst sollte ein sechzehn Jahre altes Schulkind ohne die geringsten Vorstrafen plötzlich als gefährlich gelten?
Der Psychologe sprach als Erster.
“Es sind Polizisten hier, die dich sehen wollen,” sagte er ruhig zu dem Mädchen. “Es geht um Scarlet.”
Der Kopf des Mädchens schoss nach oben. Ihre Augen waren wild und suchten die Gesichter, der drei Menschen vor ihr, ab. Sadie Marlow konnte die Qualen in ihrem Gesicht sehen und die Verzweiflung.
“Scarlet,” rief das Mädchen und zog an den Fesseln. “Ich muss Scarlet finden.”
Der Psychologe warf den beiden Polizisten noch einen letzten Blick zu, bevor er den Raum verließ.
*
Maria sah zu den Polizisten auf. Irgendwo, weit hinten in ihrem Kopf, arbeitet ihr klarer Verstand noch und war immer noch wach und klar. Aber der Teil, den Lore zerstört hatte, war jetzt die kontrollierende Macht und es fühlte sich an wie eine dunkle Sturmwolke, die ihren Verstand benebelte. Sie musste hier rauskommen und sie musste Scarlet finden. Scarlet wäre bei Sage und Sage, dessen war sie sich sicher, würde ihr helfen können. Er wäre in der Lage rückgängig zu machen, was sein Cousin angerichtet hatte.
Aber egal wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte niemandem erklären, dass sie nicht verrückt war, dass sie nicht hierher gehörte, festgekettet wie ein Verbrecher. Selbst als ihre Freunde kamen um sie zu sehen, selbst als ihre Mutter ihre Hand hielt und weinte, konnte Maria die Worte nicht aussprechen. Was auch immer Lore in ihren Geist gepflanzt hatte war undurchdringlich. Und es wurde stärker. Mit jedem Moment der verging fühlte sie, wie ihre Kräfte nachließen. Ihre Fähigkeit Lores Gedankenkontrolle zu bekämpfen wurde weniger und ihr klarer Verstand wurde schwächer und schwächer. Maria war sich sicher, dass er schließlich ganz verschwinden würde, sie als eine leere Hülle zurückbleiben würde, wenn sie keine Hilfe bekam.
Der männliche Polizist stand vor ihr und starrte auf sie herunter. Die Polizistin saß neben ihr auf dem Bett.
“Maria. wir müssen dir ein paar Fragen stellen,” sagte sie leise.
Maria versuchte zu nicken, aber nichts passierte. Ihr Körper fühlte sich schwer an. Sie war erschöpft. Sich pausenlos gegen das zu wehren, was Lore ihr angetan hatte, war ermüdend.
“Deine Freundin Scarlet,” fuhr die Frau auf die gleiche, sanfte Weise fort. “Weißt du wo sie ist?”
“Scarlet,” sagte Maria.
Sie wollte mehr sagen, aber die Worte wollten einfach nicht rauskommen. Sie sah frustriert, wie der Polizist mit den Augen rollte.
“Das ist sinnlos,” sagte er zu seiner Partnerin.
“Officer Waywood, Sie müssen etwas Geduld zeigen,” schnappte die Frau.
“Geduld?” schrie der Polizist fast. “Meine Freunde sind tot! Unsere Kollegen sind in Gefahr! Wir haben keine Zeit um geduldig zu sein!”
Gefangen in ihrem eigenen Verstand, fühlte Maria ihre Frustration steigen. Sie verstand Officer Waywoods Sorge. Sie wollte helfen, das wollte sie wirklich. Aber dank Lore konnte sie kaum ein Wort herausbringen. Der Versuch etwas zu sagen war wie auf einem Laufband zu sein - unglaublich anstrengend, aber man kam nirgendwo hin.
Die Polizistin ignorierte den Ausbruch ihres Partners und drehte sich wieder zu Maria.
“Der Mann der nach deiner Freundin sucht heißt Kyle. Hast du ihn schon mal gesehen? Hast du gehört, wie sie seinen Namen gesagt hat?”
Maria versuchte ihren Kopf zu schütteln, aber konnte es nicht. Die Polizistin kaute auf ihrer Unterlippe und bewegte ein Notizbuch in ihren Händen. Maria konnte an ihren Gesten sehen, dass sie in ihrem Kopf etwas abwog, von dem sie nicht wusste, ob sie es sagen sollte oder nicht.
Schließlich griff sie nach Marias Hand und drückte sie. Sie sah ihr tief in die Augen.
“Kyle ... er ist ein Vampir, oder nicht?”
Aus seiner stehenden Position warf Officer Waywood die Arme in die Luft und schnaubte abfällig. “Sadie, du bist verrückt geworden! Der Vampir Kram ist doch Blödsinn!”
Die Polizistin sprang auf und brachte ihr Gesicht nah an seines.
“Wagen Sie es nicht, dass zu sagen,” sagte sie. “Ich bin Polizistin. Es ist meine Pflicht diese Zeugin zu befragen. Wie kann ich ihr ordentlich Fragen stellen ohne ihr zu sagen was wir wissen?” Bevor Officer Waywood auch nur die Möglichkeit hatte zu antworten, fügte Sadie hinzu, “Und es ist Officer Marlow, vielen Dank.”
Officer Waywood warf ihr einen verärgerten Blick zu.
“Officer Marlow,” sagte er und betonte jede Silbe durch zusammengebissene Zähne, “in meiner professionellen Meinung ist es eine schlechte Idee einer labilen Zeugin von Vampiren zu erzählen.”
Auf dem Bett begann Maria wieder hin und her zu wippen. Sie konnte fühlen, wie der klare Verstand, so tief unter dem begraben, was Lore ihr eingepflanzt hatte, anfing hervorzukommen. Irgendwie schien die Tatsache, dass die Polizistin an Vampire glaubte, dabei zu helfen ihren Verstand zu befreien. Sie versuchte zu sprechen und endlich löste sich ein Geräusch in ihrem Hals.
“Krieg.”
Die Polizisten hörten auf zu streiten und sahen zu Maria.
“Was hat sie gesagt?” fragte Brent Waywood mit einem Stirnrunzeln.
Officer Marlow kam sofort zurück an ihre Seite.
“Maria?” sagte sie. “Sag das noch einmal.”
“K ...” versuchte Maria. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Ihr Verstand kam zu ihr zurück. Ihr Geist wurde wieder ihr eigener. Schließlich brachte sie das Wort heraus. “Krieg.”
Officer Marlow sah hoch zu ihrem Kollegen. “Ich glaube sie sagt 'Krieg.'“
Er nickte, jetzt mit Besorgnis auf dem Gesicht.
Maria atmete noch einmal tief ein, zwang den klaren Teil ihres Verstandes die Kontrolle zu übernehmen, um ihnen zu sagen, was sie unbedingt sagen musste.
“Vampire,” sagte sie durch zusammengebissene Zähne. “Vampire. Krieg.”
Officer Marlow wurde blass.
“Weiter,” drängte sie Maria.
Maria leckte sich über die Lippen. Es brauchte größte Anstrengung um präsent zu bleiben.
“Kyle,” sagte sie mit angespanntem Gesicht. “Führer.”
Officer Marlow drückte ihre Hand. “Kyle wird den Vampirkrieg anführen?”
Maria drückte zurück und nickte.
“Scarlet,” sagte sie weiter. “Einzige. Hoffnung.”
Officer Marlow atmete tief ein und setzte sich gerader hin. “Weißt du, wo Scarlet ist?”
Maria biss die Zähne zusammen und sprach dann so sorgfältig wie sie konnte. “Mit Sage ... das Schloss.”
Plötzlich flutete ein tiefer Schmerz Marias Gehirn. Sie schrie auf, riss die Hände an den Kopf und packte ihre Haare mit den Fäusten. Sie wusste sofort, dass ihr klarer Verstand wieder von dem überwältigt wurde, was Lore getan hatte. Sie rutschte zurück in die Dunkelheit.
“Hilf mir!” schrie sie.
Sie fing an wild von einer Seite auf die andere zu schlagen und an ihren Fesseln zu ziehen.
Erschrocken stand Officer Marlow auf. Sie sah über ihre Schulter zu ihrem Partner.
“Gib das ans Revier weiter,” wies sie ihn an.
Sie versuchte Maria zu beruhigen, aber das Mädchen war vollkommen außer sich. Sie schrie immer wieder. Die Tür biepte und der Psychologe rannte herein.
“Was ist passiert?” rief er.
“Nichts,” sagte Marlow und wich zurück. “Sie ist einfach durchgedreht.”
Sie ging einige Schritte zurück, während der Psychologe versuchte Maria zu beruhigen, und stellte sich neben ihren Partner.
“Haben Sie Bescheid gesagt?” fragte sie schwer atmend.
“Nein,” gab er kurz angebunden zurück.
Sadie runzelte die Stirn und griff nach ihrem Walkie-Talkie. Aber Officer Waywood lehnte sich vor und hielt ihre Hand fest.
“Nicht,” schnappte er. “Der Chief will diesen Blödsinn nicht hören. Er muss sich um die ganze Mannschaft kümmern und du willst ihn stören weil ein verrücktes Kind denkt, dass es ein Vampirkrieg gibt!”
Sadie Marlow übertönte die Schreie von Maria mit einer schnellen, beharrlichen Stimme.
“Der Chief hat uns aus einem Grund hier hergeschickt. Warum sollte er wollen, dass wir ein 'verrücktes Kind' befragen, wenn er nicht denken würde, dass sie uns helfen kann?” Kyle sucht Scarlet Paine. Das Mädchen,” sie zeigte auf Maria,” ist der beste Hinweis den wir haben um sie zu finden und diese Sache vielleicht zu beenden. Wenn sie etwas weiß, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass der Chief davon hören will.”
Officer Waywood schüttelte den Kopf.
“Fein,” sagte er und ließ ihre Hand los. “Deine Karriere, nicht meine. Lass den Chief denken, dass du durchgeknallt bist.”
Officer Marlow nahm das Walkie-Talkie und drückte auf den Knopf.
“Chief? Marlow hier. Ich bin fertig mit der Zeugin in der Anstalt.”
Das Walkie-Talkie knisterte.
Officer Marlow hielt inne und wog ihre Worte ab. “Sie sagt, dass es einen Vampirkrieg geben wird. Angeführt von Kyle. Und die einzige Person, die ihn aufhalten kann, ist Scarlet Paine.”
Sie sah auf die hochgezogenen Augenbrauen ihres Partners und kam sich wie ein Idiot vor. Dann summte das Walkie-Talkie wieder und die Stimme des Polizeichefs war zu hören.
“Ich komme.”