Elftes KapitelEs war ein schöner, sonniger Tag; Mrs. Lewsons Mut begann zu wachsen.
«Ich habe immer an dem Glauben festgehalten,” gestand die würdige alte Frau, „dass schönes Wetter Glück bringt - natürlich vorausgesetzt, dass der betreffende Tag kein Freitag ist. Heute ist aber Mittwoch. Fassen Sie also Mut, Miss.”
Der Bote kehrte mit guten Nachrichten zurück. Mr. Arthur war wie immer fröhlich und guter Dinge gewesen. Er hatte seine Späße über einen zweiten Brief voll guter Ratschläge gemacht, der ihm ohne Unterschrift zugekommen war.
„Mrs. Lewson aber soll ihren Willen haben,” hatte er gesagt. „Aus Liebe zu der guten Alten will ich zwei Stunden später aufbrechen und werde daher erst um fünf Uhr zum Mittagessen zurück sein.”
„Wo gab Ihnen Mr. Arthur diesen Auftrag?” fragte Iris.
„In dem Stalle, Miss, während ich mein Pferd wieder aufzäumte. Die Leute, die umherstanden, grinsten alle, als sie Mr. Arthurs Worte hörten.”
Iris, noch immer in der krankhaften Aufregung, bedauerte stillschweigend, dass dieser Auftrag nicht schriftlich, sondern mündlich gegeben worden war. Auch hiebei kam sie wieder auf ähnliche Gedanken wie der wilde Lord: sie fürchtete die Horcher.
Die Stunden schlichen träge dahin, bis es endlich vier Uhr nachmittags geworden war. Iris konnte das Stillsitzen nicht länger ertragen.
„Es ist so schönes Wetter,” sagte sie zu Mrs. Lewson, „wir wollen einen Spaziergang machen und Arthur ein Stück Wegs entgegen gehen.”
Ihr Vorschlag fand bei der alten Haushälterin die freudigste Zustimmung.
Es war beinahe fünf Uhr, als sie eine Stelle erreichten, an der ein Nebenweg durch den Wald sich von der Landstraße abzweigte, der sie bis hieher gefolgt waren. Mrs. Lewson fand einen Sitz auf einem gefällten Baume.
„Wir tun besser, nicht weiter zu gehen,” sagte sie.
Iris fragte nach dem Grunde.
Es gab einen sehr guten Grund für die soeben ausgesprochene Ansicht Mrs. Lewsons. Eine Strecke weiter bog die Landstraße ab von der geraden Linie - im Interesse einer großen Ackerbau treibenden Ortschaft - und schlug dann wieder ihre frühere Richtung ein. Der Nebenweg durch den Wald diente für Reiter und Fußgänger als Richtweg von dem einen abweichenden Punkte der Landstraße bis zu dem andern. Es war daher sehr wohl möglich, dass Arthur diesen Nebenweg bei seiner Rückkehr benützen würde. Da aber Zufall oder Laune ihn auch die Landstraße vorziehen lassen konnte, lag die Notwendigkeit auf der Hand, ihn an einem Punkte zu erwarten, von dem aus man beide Straßen übersehen konnte.
Zu aufgeregt, um in ruhiger Erwartung an einer Stelle sitzen zu bleiben, machte Iris den Vorschlag, sie wolle ein Stück weit auf dem Nebenwege in den Wald hineingehen und umkehren, wenn sie nichts von Arthur sähe.
„Sie sind ermüdet,” sagte sie zu ihrer Begleiterin, „bitte, bleiben Sie hier und ruhen Sie sich einstweilen aus!” Mrs. Lewson machte zu diesem Vorschlage ein ziemlich verdrießliches Gesicht, aber ohne Erfolg: „Sie können sich verirren, Miss. Geben Sie nur ordentlich auf den Weg acht!” Iris verfolgte die hübschen Windungen des Waldweges und dehnte ihren einsamen Spaziergang in der bestimmten Hoffnung, Arthur zu begegnen, um ein Beträchtliches aus. Die helle Linie der Landstraße, die weiter durch den Wald führte, schimmerte schon wieder durch die Bäume, als sich Iris entschloss, zu Mrs. Lewson zurückzukehren.
Auf ihrem Rückwege machte sie eine Entdeckung.
Eine Ruine, die sie vorher gar nicht bemerkt hatte, kam zwischen den Bäumen auf der linken Seite des Weges zum Vorschein. Ihre Neugierde wurde rege; sie bog von dem Wege ab, um die Trümmer genauer zu untersuchen. Die halb verfallenen Mauern sahen, als sie ihnen näher kam, wie die Überreste eines gewöhnlichen Wohnhauses aus. Alter ist ein wesentliches Erfordernis für die malerische Wirkung des Verfalls; eine moderne Ruine ist unnatürlich und hat etwas Niederdrückendes; hier zeigte sich der traurige Anblick.
Als sie ihre Schritte wieder nach dem Wege zurück-lenkte, trat ein Mann aus dem Raume, der von den Trümmern des zerstörten Hauses umschlossen war. Ein Schrei des Schreckens entfuhr ihr. War sie ein Opfer des Schicksals oder ein Spielball des Zufalls? Da stand der wilde Lord vor ihr, welchen sie gelobt hatte, nicht wieder zu sehen, der Herr ihres Herzens - vielleicht der Herr ihres Geschickes!
Jeder andere Mann würde erstaunt gewesen sein, sie zu sehen und gefragt haben, wie es komme, dass eine englische Dame plötzlich hier vor ihm mitten in einem irischen Walde erscheine. Dieser Mann aber war entzückt, sie zu sehen, und nahm ihr Hiersein als einen Glücksfall auf, nach dessen Ursache nicht gefragt zu werden brauchte.
„Mein Engel ist vom Himmel herabgestiegen,” sagte er. „Dem Himmel sei Dank dafür!” Er trat an sie heran und umschloss ihre Gestalt mit seinen Armen. Sie versuchte, sich seiner Umarmung zu entziehen. In demselben Augenblick aber vernahmen sie beide in dem Gebüsch unter den Bäumen rings umher ein Zerknicken und Zerbrechen von Holz. Lord Harry blickte auf.
Das ist ein gefährlicher Platz,” flüsterte er. „Ich wartete hier, um Arthur ungefährdet vorbeireiten zu sehen. Lassen Sie sich von mir küssen, oder ich bin ein toter Mann!”
Seine Augen sagten ihr, dass er sich wirklich in einer besorgniserregenden Lage befand. Ihr Kopf sank an seine Brust. Als er sich zu ihr niederbeugte und sie küsste, traten drei Männer aus ihren Verstecken unter den Bäumen hervor. Sie hatten ohne Zweifel auf Befehl der mordgierigen, furchtbaren Brüderschaft, welcher sie angehörten, auf ihn gelauert. Ihre Pistolen blitzten schussfertig in ihren Händen - und welche Entdeckung machten sie nun? Da stand der Bruder, der als Verräter denunziert war, keines schlimmeren Verrates schuldig, als dass er in einem Walde mit seiner Geliebten zusammengetroffen war!
„Mir bitten um Verzeihung, Mylord!” riefen sie mit echt irischer Freude über ihren eigenen Irrtum, brachen dann in ein lautes Gelächter aus und ließen die Liebenden allein.
So hatte Iris zum zweitenmale Lord Harry in einer bedenklichen Lebenslage gerettet.
„Lass mich jetzt gehen!” flüsterte sie leise, vor heimlicher Furcht zitternd, als sie sich nun erst ihrer Lage recht bewusst wurde.
Er aber hielt sie so fest in seinen Armen, als ob er sie nie wieder von sich lassen wollte.
„O, Du mein süßes Kind, gib mir nur noch einmal, zum letztenmale Gelegenheit und hilf mir, ein besserer Mensch zu werden! Du brauchst nur zu wollen, Iris, und Du kannst mich Deiner würdig machen!”
Plötzlich fingen seine Arme, die sie an seine Brust drückten, an zu beben und sanken herab. Die ringsum herrschende Stille wurde durch ein entferntes Geräusch gestört, welches wie das Echo eines Schusses klang. Er blickte nach dem vor ihnen liegenden Ende des Waldes hin. Eine Minute später wurde der dumpfe Hufschlag eines im Galopp dahinjagenden Pferdes hörbar aus der Richtung her, wo sich der Reitweg zwischen den Bäumen verlor. Es kam näher und näher und erschien endlich in ihrem Gesichtskreis, vor Furcht rasend und mit reiterlosem Sattel auf seinem Rücken. Lord Harry sprang auf den Weg und hielt das scheu gewordene Tier auf, welches bei seinem Anblick sich hoch aufbäumte. Vorn an dem leeren Sattel war eine Ledertasche befestigt.
„Durchsuche sie!” rief er Iris zu, während er das erschreckte Tier zum Stillstehen zwang. Sie zog eine silberne Feldflasche heraus. Ein Blick auf den eingravierten Namen verkündete ihm die entsetzliche Wahrheit. Seine zitternden Hände verloren ihre Kraft. Das wütende Pferd riss sich los und jagte davon. Von seinen Lippen ertönten die Worte: „O, mein Gott, sie haben ihn getötet!”