KAPITEL VIER
Mackenzie entdeckte, dass McGrath nicht übertrieben hatte, als er Kingsville, Virgina als Hinterwald beschrieben hatte. Es war eine kleine Stadt, die in Bezug auf ihre Identität, irgendwo zwischen Deliverance und Amityville lag. Es hatte eine unheimliche ländliche Stimmung, aber mit dem rustikalen Kleinstadtcharme, den die meisten Menschen von den kleineren Südstädten erwarteten.
Es war Nacht geworden, als sie am Tatort eintraf. Die Brücke kam langsam in Sicht, als sie ihr Auto vorsichtig eine dünne Schotterstraße hinunter lenkte. Die Straße selbst war keine staatliche Straße, dennoch war sie nicht gänzlich der Öffentlichkeit verschlossen. Als sie weniger als fünfzig Meter von der Brücke entfernt war, sah sie, dass die Kingsville Polizei eine Reihe von Sägeböcken aufgestellt hatte, um Menschen davon abzuhalten, weiter zu gehen.
Sie parkte neben den paar einheimischen Polizeiautos und stieg dann aus. Ein paar Flutlichter waren aufgestellt worden, alle schienen auf das abschüssige Ufer auf der rechten Seite der Brücke zu leuchten. Als sie sich dem Abhang näherte, trat ein jung aussehender Polizist aus einem der Autos.
„Sind Sie Agentin White?“, fragte der Mann und sein südlicher Akzent, durchfuhr sie wie ein Rasiermesser.
„Das bin ich“, antwortete sie.
“Okay. Vielleicht ist es einfacher, wenn Sie über die Brücke gehen und auf der anderen Seite des Ufers hinuntergehen. Diese Seite ist total steil.“
Dankbar für den Tipp ging Mackenzie über die Brücke. Sie nahm ihre kleine Taschenlampe und beleuchtete die Gegend, während sie die Brücke überquerte. Die Brücke war recht alt, sicherlich war sie schon vor langer Zeit für jegliche Nutzung geschlossen worden. Sie wusste, dass es viele Brücken in Virginia und West Virginia gab, die ähnlich wie diese waren. Diese Brücke hieß Miller Moon Brücke laut den Grundinformationen, die sie sich bei Google während Halts an Ampeln unterwegs besorgt hatte, und stand schon seit 1910 dort und wurde für die Öffentlichkeit im Jahr 1969 geschlossen. Und obwohl das die einzige Information war, die sie über die Lage bekommen hatte, gab ihr ihre aktuelle Ermittlung noch mehr Einzelheiten.
Es gab nicht viel Graffiti an der Brücke, aber der Abfallberg war bemerkbar. Bierflaschen, Sodadosen und leere Tüten von Chips, die an den Rand der Brücke geschmissen worden waren, drückten sich gegen den Metallrand, welche die Eisenschienen hielt. Die Brücke war nicht so lang; ca. 50 Meter, gerade lang genug, um sich über das abschüssige Ufer und den Fluss darunter zu spannen. Es fühlte sich robust unter ihren Füßen an, aber die reine Struktur davon war in gewisser Weise recht schwach. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie auf Holzbrettern und Stützbalken in fast zwei sechzig Meter Höhe lief.
Sie ging zum Ende der Brücke und merkte, dass der Polizeibeamte recht gehabt hatte. Das Land war zugänglicher auf dieser Seite. Mit Hilfe der Taschenlampe fand sie einen Trampelpfad, der sich durch das hohe Gras wand. Die Böschung ging in einem neunzig Grad Winkel herunter, aber hier und da ragten Boden- und Felsvorsprünge hervor, die den Abstieg recht einfach machten.
“Warten Sie eine Minute”, sagte eine Männerstimme von unten. Mackenzie schaute nach vorne, in Richtung Glanz der Scheinwerfer und sah einen Schatten hervortreten. „Wer ist da?“, fragte der Mann.
„Mackenzie White, FBI“, sagte sie und suchte nach ihrem Ausweis.
Der Schatten wurde ein paar Sekunden später zu einer Person. Er war ein älterer Mann mit einem riesigen buschigen Bart. Er trug eine Polizeiuniform, die Marke über seiner Brust sagte, dass er der Sheriff von Kingsville war. Hinter ihm konnte sie die Figuren von vier weiteren Beamten sehen. Einer machte Fotos und bewegte sich langsam im Schatten.
„Oh, wow“, sagte er. “Das ging schnell”. Er wartete darauf, dass Mackenzie näher kam, und streckte dann seine Hand aus. Er gab ihr einen herzlichen Händedruck und sagte, „Ich bin Sheriff Tate. Nett Sie kennenzulernen.“
„Gleichfalls“, erwiderte Mackenzie, als sie das Ende der Böschung erreicht hatte und sich wieder auf ebenem Boden befand.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um den Tatort anzuschauen, der professionell von den Fluchtlichtern an den Seiten der Böschung beleuchtet wurde. Das Erste was Mackenzie bemerkte, war, dass der Fluss nicht wirklich mehr ein Fluss war – nicht unter der Miller Moon Brücke auf jeden Fall. Dort gab es nur etwas, was aussah wie übrig gebliebene Pfützen von abgestandenem Wasser, dass sich an die Seiten und scharfen Kanten von Felsen und großen Felsbrocken schmiegte, die das Gebiet eingenommen hatten, durch den der Fluss hätte führen sollen.
Einer der Felsbrocken unter den Trümmern war riesig und hatte leicht die Größe von zwei Autos. Auf der Spitze dieses Brockens lag eine Leiche. Der rechte Arm war sichtbar gebrochen und fast unmöglich unter die Reste des Köpers gebogen. Eine Blutspur lief den Brocken hinunter, schon fast getrocknet, aber dennoch nass genug, dass es aussah, als würde sie noch weiter laufen.
“Schlimmer Anblick, oder?”, fragte Tate und stellte sich neben sie.
„Ja. Was können Sie mir zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit sagen?
„Also das Opfer ist ein zweiundzwanzigjähriger Mann. Kenny Skinner. Soweit ich weiß, ist er mit jemand höher gestellten in Ihrem Büro verwandt.“
„Ja. Der Neffe des stellvertretenden FBI Direktors. Wie viele Männer wissen davon im Moment?“
„Nur ich und mein Vorgesetzter“, erwiderte Tate. „Wir haben bereits mit Ihren Kollegen in Washington gesprochen. Wir wissen, dass wir darüber Stillschweigen bewahren sollen.“
„Danke“, sagte Mackenzie. „Soweit ich weiß, gab es eine weitere Leiche, die hier vor ein paar Tagen entdeckt wurde?“
“Vor drei Tagen, ja”, sagte Tate. „Eine Frau namens Malory Thomas.“
„Irgendwelche Anzeichen von Fremdeinwirkung?“
„Naja, sie war nackt. Und ihre Kleidung wurde oben auf der Brücke gefunden. Aber abgesehen davon war da nichts. Man hat angenommen, dass es ein weiterer Selbstmord war.“
„Haben Sie davon viele von hier?“
„Ja“, sagte Tate mit einem nervösen Lächeln. „Das kann man so sagen. Vor drei Jahren haben sich sechs Menschen getötet, in dem sie von dieser Scheißbrücke gesprungen sind. Es war wie eine Art Rekord pro Lage für den Staat Virginia. Das Jahr danach waren es drei. Letztes Jahr waren es fünf.“
“Waren sie Einheimische?”, fragte Mackenzie.
„Nein. Von diesen vierzehn Menschen lebten nur vier innerhalb eines achtzig-Kilometer-Radius.“
„Und wissen Sie, ob es vielleicht eine Art Großstadtlegende oder einen Grund dafür gibt, dass diese Menschen sich ihr Leben an dieser Brücke nehmen?“
“Es gibt natürlich Geistergeschichten”, sagte Tate. „Aber es gibt für jede stillgelegte Brücke im Land eine Geistergeschichte. Ich weiß es nicht. Ich schiebe die Schuld auf die verkorkste Generationslücke. Die Kinder heutzutage werden in ihren Gefühlen verletzt und denken, sie selbst sind die Antwort. Das ist ziemlich traurig.“
„Was ist mit Obdachlosen?“, fragte Mackenzie. „Wie ist die Quote hier in Kingsville?“
„Es gab zwei im letzten Jahr. Und bis jetzt einen in diesem Jahr. Es ist eine ruhige Stadt. Jeder kennt jeden, und wenn Sie jemanden nicht mögen, dann halten Sie sich einfach von ihm fern. Warum fragen Sie? Glauben Sie, der Mörder ist darunter?“
“Ich weiß es nicht”, erwiderte Mackenzie. „Zwei Leichen in einer Zeitspanne von vier Tagen, am selben Ort. Ich denke, es lohnt sich da näher nachzuschauen. Wissen Sie, ob Kenny Skinner und Malory Thomas sich kannten?“
“Wahrscheinlich. Aber ich weiß das nicht so genau. Wie ich gesagt habe … jeder kennt jeden in Kingsville. Aber wenn Sie fragen, ob Kenny sich vielleicht selbst getötet hat, weil Malory das getan hat, dann bezweifle ich das. Es gibt fünf Jahre Altersunterschied und sie haben auch nicht mit denselben Leuten herumgehangen, soweit ich weiß.“
„Darf ich mir das Mal ansehen?“, fragte Mackenzie.
„Natürlich“, sagte Tate und ging sofort von ihr weg und gesellte sich zu den anderen Beamten, welche den Tatort durchkämmten.
Mackenzie näherte sich besorgt dem Brocken und der Leiche von Kenny Skinner. Je näher sie an die Leiche kam, umso mehr wurde sie sich bewusst, wie viel Schaden entstanden war. Sie hatte schon recht grausame Dinge während ihrer Arbeit gesehen, aber das hier war einer der Schlimmsten.
Die Blutspur kam von einer Stelle, in der Kennys Kopf gegen den Stein geschlagen war. Sie machte sich nicht die Mühe, sich das näher anzuschauen, den das beleuchtete schwarz und rot durch die Lichter war nichts, woran sie später noch denken wollte. Der große Bruch am Hinterkopf betraf den Rest seines Schädels und verzerrte die Gesichtszüge. Sie sah auch, wo seine Brust und sein Bauch aussahen, als wären sie von innen aufgeblasen worden.
Sie gab sich Mühe da dran vorbeizuschauen, schaute sich Kennys Kleidung an und suchte auf seiner Haut nach irgendwelchen Zeichen von Fremdeinwirkung. In dem grellen und dennoch unwirksamen Licht der Scheinwerfer war es schwer sich sicher zu sein, aber nach mehreren Minuten konnte Mackenzie nichts finden. Als sie wegtrat, begann sie sich zu entspannen. Anscheinend hatte sie sich angespannt, während sie die Leiche untersucht hatte.
Sie ging zurück zu Sheriff Tate, der mit einem weiteren Beamten sprach. Sie hörten sich an, als wenn sie Pläne darüber machten, die Familie zu benachrichtigen.
„Sheriff, glauben Sie, jemand könnte für mich die Aufzeichnungen dieser vierzehn Selbstmorde in den letzten drei Jahren heraussuchen?“
„Ja, das kann ich machen. Ich werde gleich anrufen und sicherstellen, dass alles auf der Polizeistation auf sie wartet. Und wissen Sie …. Da gibt es jemanden, den Sie vielleicht anrufen wollen. Es gibt eine Frau in der Stadt, die von zu Hause aus als Psychiaterin arbeitet und als Lehrerin für Behinderte. Sie hängt mir schon seit letztem Jahr oder so wegen all der Selbstmorde in Kingsville in den Ohren, die nicht einfach nur Selbstmorde sein können. Sie kann Ihnen vielleicht etwas sagen, was Sie nicht in den Berichten finden.“
“Das wäre toll.”
“Ich werde veranlassen, dass jemand ihre Kontaktinformation in die Berichte beifügt. Ist das in Ordnung?“
„Im Moment, ja. Könnte ich Ihre Nummer haben, um Sie leichter zu kontaktieren?“
„Sicherlich. Aber das verdammte Ding ist störanfällig. Ich muss es mal aktualisieren. Hätte ich schon vor fünf Monaten tun sollen. Wenn Sie mich also anrufen und es direkt zur Mailbox geht, dann ignoriere ich Sie nicht. Ich werde Sie sofort zurückrufen. Es ist ein blödes Ding, das Handy. Ich hasse Handys sowieso.“
Nach seinem Meckern über die moderne Technologie gab Tate ihr seine Handynummer und sie speicherte sie in ihrem Handy.
„Ich sehe Sie dann“, sagte Tate. „Der Gerichtsmediziner ist auf dem Weg. Ich bin verdammt froh, wenn wir diese Leiche entfernen können.“
Es schien unsensibel, so etwas zu sagen, aber wenn Mackenzie zurück schaute und den wunden und gebrochenen Zustand der Leiche sah, konnte sie nicht anders als dem zustimmen.