Drittes Kapitel. Fünfzehn Jahre später.-1

2207 Words
Drittes Kapitel. Fünfzehn Jahre später.Die Kirche von Long Beckley – eines bedeutenden landwirtschaftlichen Dorfes in einer der Binnengrafschaften Englands – besitzt, obschon sie sich weder durch ihre Größe, noch durch ihre Bauart, noch durch ihr Alter auszeichnet, nichtsdestoweniger einen Vorzug, welchen die kaufmännischen Despoten von London ihrer stattlichen St. Pauls-Kathedrale barbarischerweise versagt haben. Sie steht nämlich auf einem großen freien Platz und man kann sie daher rings herum von jedem Punkte aus mit Bequemlichkeit überschauen. Dieser große freie Raum um die Kirche herum ist von drei verschiedenen Richtungen her zugänglich. Es führt eine Straße geradeaus nach dem Haupteingange. Zweitens gibt es einen breiten Kiesweg, der an dem Tore des Pfarrhauses anfängt, quer über den Kirchhof führt und gebührendermaßen bis an den Eingang der Sakristei reicht. Drittens führt ein Fußweg über die Felder, mittelst dessen der Gutsherr und die feineren Leute, die in seiner erhabenen Nachbarschaft wohnen, überhaupt die Seitentür der Kirche erreichen können, so oft ihre angeborene Demut, von günstiger Witterung unterstützt, sie geneigt macht, die Heiligung des Sabbaths unter ihren Dienstleuten dadurch zu ermutigen, daß sie gleich der geringeren Klasse von Andächtigen auf ihren eigenen Füßen zur Kirche gehen. Um halb acht Uhr an einem gewissen schönen Sommermorgen des Jahres achtzehnhundertvierundvierzig würde ein fremder Beobachter, wenn er zufällig in einem unbemerkten Winkel des Kirchhofs gestanden und mit scharfen Augen um sich geblickt hätte, wahrscheinlich Augenzeuge von Vorgängen gewesen sein, die ihn zu dem Glauben verleitet haben würden, daß in Long Beckley eine Verschwörung im Werke sei, deren Sammelpunkt die Kirche wäre und deren Haupträdelsführer aus den angesehensten Einwohnern bestünden. Gesetzt, er hätte, als die Uhr die halbe Stunde schlug, nach dem Pfarrhause geblickt, so würde er gesehen haben, wie der Pfarrer oder Vikar von Long Beckley, der ehrwürdige Doktor Chennery, argwöhnisch sein Haus durch die Hintertür verließ, sich wie mit bösem Gewissen umsah, als er sich dem nach der Sakristei führenden Kieswege näherte, geheimnisvoll außen vor der Tür stehen blieb und unruhig die nach dem Dorfe führende Straße hinabschaute. Angenommen, unser fremder Beobachter hätte sich versteckt gehalten und gleich dem Pfarrer die Straße hinabgeschaut, so hätte er sodann den Küster, einen würdevollen Mann mit einem strengen gelben Gesicht – er war ein protestantischer Loyola seinem Ansehen und ein fleißiger Schuhmacher seinem Handwerke nach – mit einem Blick unaussprechlichen Geheimnisses in seinem Gesicht und einem dicken Schlüsselbund in der Hand sich nähern gesehen haben. Er würde ferner gesehen haben, wie der Küster sich gegen den Pfarrer mit einem grimmigen Lächeln geheimen Einverständnisses verneigte, gerade so wie Guy Fawkes sich wahrscheinlich gegen Catesby verneigte, als diese beiden bedeutenden Schießpulvereigentümer zusammenkamen, um in ihrer umfangreichen Niederlage unter den Parlamentshäusern Inventur zu halten. Er würde gesehen haben, wie der Pfarrer in zerstreuter Weise dem Küster zunickte und – es war dies unzweifelhaft eine geheime Parole unter der doppelten Maske der alltäglichen Bemerkung und der freundlichen Frage – sagte: „Ein schöner Morgen, Thomas. Habt Ihr schon gefrühstückt ?“ Er würde ferner gehört haben, wie Thomas mit einer argwöhnischen Rücksicht auf die kleinsten Einzelheiten antwortete: „Ich habe eine Tasse Tee und eine Brotrinde zu mir genommen, Sir.“ Und dann würde er gesehen haben, wie diese beiden Verschwörer, nachdem sie beide gleichzeitig den Blick auf die Kirchenuhr geworfen, sich mit einander nach der Seitentür bewegten, welche die Aussicht auf den über die Felder führenden Fußweg hatte. Wäre er ihnen gefolgt – wie unser fremder Beobachter doch ganz gewiß getan haben würde – so hätte er noch drei fernerweite Verschwörer entdeckt, welche den Fußweg entlang kamen. Der Anführer dieses verräterischen Trupps war ein ältlicher Herr mit verwittertem Gesicht und einer biedern geraden Haltung, welche ganz bewundernswürdig geeignet war, den Argwohn zu entwaffnen. Seine beiden Begleiter waren ein junger Herr und eine junge Dame, welche Arm in Arm gingen und flüsternd miteinander sprachen. Sie trugen beide das allereinfachste Morgenkostüm. Die Gesichter beider waren ein wenig bleich und das Benehmen der Dame ein wenig aufgeregt. Außerdem war nichts Besonderes an ihnen zu bemerken, bis sie an das in den Kirchhof hineinführende Pförtchen kamen, wo dann das Benehmen des jungen Herrn auf den ersten Anblick ziemlich befremdend erschien. Anstatt das Pförtchen zu öffnen und die Dame zuerst eintreten zu lassen, blieb er nämlich zurück, ließ es sie selbst öffnen, wartete bis sie die andere Seite erreicht hatte, streckte dann die Hand über das Pförtchen und ließ sich von ihr durch den Eingang hindurchführen, als wenn er sich plötzlich aus einem erwachsenen Mann in ein hilfloses kleines Kind verwandelt hätte. Unser fremder Beobachter würde, wenn er dies bemerkt hätte, sowie ferner, daß, als die Personen vom Felder her sich dem Pfarrer so weit genähert hatten, daß sie ihn grüßen konnten, und nachdem der Küster von seinem Schlüsselbund Gebrauch gemacht, um die Kirchentür zu öffnen, der Begleiter der jungen Dame in die Kirche – diesmal aber von Doktor Chennerys Hand – ebenso in die Kirche hineingeführt, wie er früher durch das Pförtchen geführt ward, zu dem unvermeidlichen Schlusse gekommen sein, daß die einen solchen Beistand bedürfende Person mit dem Übel der Blindheit behaftet sei. Durch diese Entdeckung ein wenig stutzig gemacht, würde er noch mehr erstaunt sein, wenn er in die Kirche hineingeschauet und gesehen hätte, daß der Blinde und die junge Dame miteinander vor dem Altar standen mit dem ältlichen Herrn als Vater daneben. Seine nun in ihm erwachende Vermutung, daß der Zweck, welcher die Verschwörer zu dieser frühen Stunde zusammenführte, eine Vermählung beträfe und daß es sich hier um die Feier einer Hochzeit unter der strengsten Verschwiegenheit handle, würde binnen fünf Minuten durch das Erscheinen des Doktor Chennery bestätigt worden sein, welcher in voller Amtstracht aus der Sakristei heraustrat und mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme die Traurede und Trauformel ablas. Nach Beendigung dieser Zeremonie würde der Fremde in immer größere Verwunderung geraten sein, wenn er bemerkt hätte, daß die dabei beteiligten Personen in dem Augenblick, wo das Unterzeichnen, Küssen und bei solchen Gelegenheiten gebräuchliche Gratulieren vorüber war, sich wieder trennten und rasch nach den verschiedenen Richtungen hin entfernten, von welchen her sie sich der Kirche genähert hatten. Wir lassen den Küster auf dem Dorfwege, die Braut, den Bräutigam und den ältlichen Herrn auf dem Fußwege über die Felder zurückkehren und den fingierten fremden Beobachter als Beute getäuschter Neugier nach irgend einer beliebigen Richtung hin verschwinden und folgen dem Doktor Chennery zum Frühstück im Pfarrhause, um zu hören, was er in Bezug auf seine amtlichen Leistungen an diesem Morgen innerhalb der vertrauten Atmosphäre seines Familienkreises zu sagen hat. Die bei diesem Frühstück versammelten Personen waren erstens Mr. Phippen, ein Gast; zweitens Miß Sturch, eine Gouvernante; drittens, viertens und fünftens Miß Louise Chennery, zehn Jahre alt; Miß Amely Chennery, neun Jahre alt, und Master Robert Chennery, acht Jahre alt. Es war kein Mutterantlitz gegenwärtig, um das häusliche Gemälde vollständig zu machen. Der Doktor war seit der Geburt seines jüngsten Kindes verwitwet. Der Gast war ein alter Universitätsfreund des Pfarrers und verweilte jetzt, wie man annahm, um seiner Gesundheit willen in Long Beckley. Die meisten Menschen von irgendwelchem Charakter wissen sich einen Ruf von irgendeiner Art zu erwerben, der sie in dem geselligen Zirkel, in welchem sie sich bewegen, individualisiert. Mr. Phippen war ein Mann von einigem Charakter und lebte in der Wertschätzung seiner Freunde auf den Ruf hin, ein Märtyrer von Verdauungsbeschwerden zu sein, mit großer Auszeichnung. Überall wohin Mr. Phippen ging, dahin gingen auch die Leiden seines Magens mit ihm. Er übte öffentliche Diät und kurierte sich öffentlich. Er war mit sich selbst und seinen Krankheiten so unausgesetzt beschäftigt, daß er einen zufälligen Bekannten binnen fünf Minuten schon in die Geheimnisse der Beschaffenheit seiner Zunge einweihete, und ganz ebenso fortwährend bereit war, den Zustand seiner Verdauung zu besprechen, wie die Leute im Allgemeinen bereit sind, den Zustand des Wetters zu erörtern. Über dieses Lieblingsthema sprach er wie über jedes andere in freundlich sanfter Weise, zuweilen in wehmütigem, zuweilen auch in sentimental schmachtendem Tone. Seine Höflichkeit war von der drückend liebreichen Sorte und er machte, wenn er andere Leute anredete, fortwährend von dem Worte „Lieber“ Gebrauch. Was sein Äußeres betraf, so konnte man ihn nicht einen schönen Mann nennen. Seine Augen waren wässerig, groß und hellgrau und rollten in einem Zustande feuchter Bewunderung irgend eines Gegenstandes oder einer Person fortwährend von einer Seite zur andern. Seine Nase war lang, herabhängend und tief melancholisch, wenn in Bezug auf dieses Glied ein solcher Ausdruck statthaft ist. Übrigens hatten seine Lippen eine weinerliche Krümmung, seine Gestalt war klein, sein Kopf groß, kahl und locker zwischen den Schultern sitzend, seine Art sich zu kleiden ein wenig exzentrisch elegant, sein Alter ungefähr fünfundvierzig Jahre, sein Stand der eines ledigen Mannes. Dies war Mr. Phippen, der Märtyrer der Verdauungsbeschwerden und Gast des Pfarrers von Long Beckley. Miß Sturch, die Gouvernante, kann kurz und genau als eine junge Dame beschrieben werden, welche seit dem Tage ihrer Geburt niemals durch eine Idee oder eine Empfindung belästigt worden. Sie war ein kleines, feistes, ruhiges, weißes, lächelndes, nettgekleidetes Mädchen, genau zur Verrichtung gewisser Pflichten zu gewissen Stunden aufgezogen und im Besitz eines unerschöpflichen Wörterbuchs von Gemeinplätzen, welche, so oft es verlangt ward, stets in derselben Qualität zu jeder Stunde des Tages und zu jeder Jahreszeit freundlich von ihren Lippen rieselten. Miß Sturch lachte nie und weinte nie, sondern wählte den sichern Mittelweg, fortwährend zu lächeln. Sie lächelte, wenn sie des Morgens im Januar aus ihrem Schlafzimmer herunterkam und sagte, es wäre sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an einem Morgen im Juli herunterkam und sagte, es sei sehr heiß. Sie lächelte, wenn der Bischof einmal des Jahres sich einfand, um den Vikar zu besuchen; sie lächelte, wenn der Fleischerjunge jeden Morgen kam, um Bestellungen zu holen. Sie lächelte, wenn Miß Louise an ihrer Brust weinte und wegen ihrer Fehler in der Geographie um Nachsicht flehte; sie lächelte, wenn Master Robert ihr auf den Schoß sprang und ihr befahl, ihm das Haar zu bürsten. Es mochte im Pfarrhause geschehen, was da wollte, so war nichts im Stande, Miß Sturch aus dem einen glatten Gleise herauszuwerfen, in welchem sie sich fortwährend und stets in demselben Schritt hin- und herbewegte. Hätte sie während der Bürgerkriege in England in einer Royalistenfamilie gelebt, so hätte sie am Morgen der Hinrichtung Karls des Ersten dem Koche geklingelt, um das Mittagsmahl zu bestellen. Wäre Shakespeare wieder zum Leben erwacht und hätte er an einem Sonnabend abends sechs Uhr in dem Pfarrhause vorgesprochen, um Miß Sturch genau zu erklären, mit welchen Ideen er sich bei dem Verfassen des Trauerspiels Hamlet getragen, so hätte sie gelächelt und gesagt, es sei dies außerordentlich interessant, bis es sieben Uhr geschlagen, wo sie den Barden von Avon gebeten hätte, sie zu entschuldigen, um dann mitten in einem Redesatze fortzulaufen und die Hausmagd bei Vergleichung des Waschbuches zu beaufsichtigen. Eine sehr achtungswerte junge Person war Miß Sturch, wie die Damen von Long Beckley zu sagen pflegten, so umsichtig mit den Kindern und so treu in Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, von guten Grundsätzen beseelt und eine Pianistin mit markigem Anschlage, gerade hübsch genug, gerade gut genug gekleidet, gerade redselig genug, vielleicht nicht ganz alt genug und vielleicht ein wenig allzusehr zu einer zu Umarmungen verlockenden Korpulenz um die Taille herum geneigt – im ganzen genommen aber eine sehr schätzenswerte junge Person. Bei den charakteristischen Eigentümlichkeiten der Schüler der guten Miß Sturch ist es nicht notwendig, sehr ausführlich zu verweilen. Miß Louises zur Gewohnheit gewordene Schwäche war ein eingefleischter Hang, den Schnupfen zu bekommen. Miß Amelys Hauptfehler war eine Geneigtheit, ihren Gaumen zu befriedigen, indem sie zu unberechtigten Zeiten und Stunden allerhand Ergänzungsmahlzeiten und Frühstücke zu sich nahm. Master Roberts bemerkenswerteste Mängel hatten ihren Grund in der Schnelligkeit, womit er seine Kleider zerriß, und der Stumpfsinnigkeit, welche er beim Lernen des Einmaleins entwickelte. Die Tugenden sämtlicher drei Geschwister waren ziemlich von einer und derselben Art – sie waren gut gewachsen, sie waren echte Kinder, und sie liebten ihre Miß Sturch auf sozusagen tumultuarische Weise. Um die Galerie von Familienporträts vollständig zu machen, müssen wir wenigstens versuchen, einen Umriß von dem Vikar oder Pfarrer selbst hinzuzufügen. Doktor Chennery gereichte in physischer Beziehung der Kirche, welche er angehörte, zur Zierde. Er maß sechs Fuß zwei Zoll, er wog siebzehn Stein, er war der beste Schläger in dem Cricket-Club von Long Beckley; er war in Bezug auf Wein und Hammelfleisch streng orthodox; er brachte auf der Kanzel niemals unangenehme Theorien über die künftige Bestimmung der Menschen zur Sprache; er zankte sich mit niemandem außerhalb der Kanzel; er knöpfte nie seine Taschen zu, wenn die Bedürfnisse seiner armen Brüder – auch mit Einschluß von Andersgläubigen – ihn aufforderten sie zu öffnen. Sein Weg durch die Welt war ein ruhiger Marsch die hohe trockene Mitte einer sichern Chaussee entlang. Die geschlängelten Nebenpfade theologischer Kontroversen konnte sich ihm rechts und links so verlockend öffnen wie sie wollten – er ging ruhig seinen Weg und ließ sich nicht irre machen. Neuerungssüchtige junge Rekruten der Kirchenarmee konnten ihm die Neununddreißig Artikel auf die verfänglichste Weise dicht unter der Nase aufschlagen, so schaute doch das vorsichtige Auge des Veterans nie um ein Haar breit weiter als seine eigene Unterschrift am Fuße derselben. Er verstand von der Theologie so wenig als möglich, er hatte seiner vorgesetzten Behörde während seines ganzen Lebens nie eine Minute lang irgend eine Belästigung verursacht, er war unschuldig an aller Beteiligung beim Lesen oder Schreiben von Flug- und Streitschriften – kurz, er war der ungeistlichste aller Geistlichen, aber trotz alledem machte er in seiner Amtstracht eine Erscheinung, wie man sie selten sieht.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD