Der Arzt, der mich behandelte – der, welcher mir das Reisen ganz verboten hatte – riet meinen Eltern davon ab, mich ins Theater gehen zu lassen; ich würde krank davon werden, vielleicht für lange Zeit, und schließlich und endlich mehr Leiden als Vergnügen davon haben. Solch eine Besorgnis hätte mich gehemmt, wenn das, was ich von der Aufführung erwartete, nur ein Vergnügen gewesen wäre, das durch spätere Leiden einfach im Ausgleich aufgehoben werden kann. Aber – gerade wie von der Reise nach Balbec oder der nach Venedig, die ich so sehr ersehnte – wollte ich von der Matinee etwas ganz anderes als ein Vergnügen: Wahrheiten wollte ich, die einer Welt angehörten, wirklicher als die, in der ich lebte, und die, einmal erworben, mir nicht mehr von unbedeutenden, ob auch für meinen Körper schmerzhaften Zufällen meines müßigen Daseins entrissen werden konnten. Mindestens erschien mir das bevorstehende Vergnügen bei der Aufführung als im Erfassen dieser Wahrheit vielleicht unumgängliche Form, und so konnte ich meine Wünsche darauf beschränken, die vorhergesagten Unpäßlichkeiten sollten erst nach Schluß der Vorstellung einsetzen, damit mein Eindruck durch sie nicht beeinträchtigt oder verfälscht würde. Flehentlich bat ich meine Eltern, die es seit dem Besuche des Arztes nicht mehr wollten, mich zu Phèdre gehen zu lassen. Beständig sagte ich mir die Rede auf: ›Man sagt, Euch wird von uns ein rascher Abschied trennen‹ und suchte dabei nach allen Betonungen, die man hineinlegen konnte, um besser das Unerwartete der einen zu ermessen, welche die Berma finden werde. Verborgen wie das Allerheiligste vom verhüllenden Vorhang, hinter dem ich ihr jeden Augenblick einen neuen Aspekt verlieh – im Anschluß an Bergottes Worte, in der von Gilberte entdeckten Broschüre, die mir in den Sinn kamen: ›Plastischer Adel, christliches Bußhemd, jansenistische Blässe, Prinzessin von Trözen und von Cleve, mykenisches Drama, delphisches Symbol, Sonnenmythos‹ –, so thronte die göttliche Schönheit, welche das Spiel der Berma mir offenbaren sollte, Tag und Nacht über beständig flammendem Altar in der Tiefe meines Geistes, – meines Geistes, der je nach der Entscheidung meiner strengen und leichtfertigen Eltern für immer die Vollkommenheiten der Göttin, die sich auf derselben Stätte enthüllt, wo ihre unsichtbare Gestalt sich erhob, umschließen sollte oder nicht. Und so kämpfte ich, die Augen auf das unfaßbare Bild geheftet, von morgens bis abends gegen die Widerstände, die meine Familie mir entgegensetzte. Allein als diese fielen, als meine Mutter – obwohl die Matinee gerade an dem Tage stattfand, an dem mein Vater Herrn von Norpois nach der Kommissionssitzung zum Essen mitbringen wollte – mir sagte: »Höre, wir wollen dich nicht betrüben; wenn du glaubst, es wird dir solches Vergnügen machen, dann mußt du hingehen«, als dieser bisher verbotene Theatertag nur noch von mir abhing, jetzt zum erstenmal, da ich mich nicht mehr mit der Aufhebung seiner Unmöglichkeit zu befassen brauchte, fragte ich mich, ob es denn wünschenswert sei, ob nicht andere Gründe als das Verbot der Eltern dafür sprächen, daß ich verzichte. Hatte ich zuvor die Grausamkeit der Eltern verabscheut, so machte ihre Zustimmung sie mir nun so teuer, daß der Gedanke, sie zu bekümmern, mir selber Kummer bereitete, durch den hindurch mir als Sinn des Lebens nicht mehr die Wahrheit, sondern die Liebe erschien und das Leben nur noch gut oder schlecht, je nachdem meine Eltern glücklich oder unglücklich sein würden. »Lieber möchte ich nicht hingehen, wenn es euch betrübt«, sagte ich meiner Mutter; sie hingegen bemühte sich, mich von dem Hintergedanken, sie könne sich darum betrüben, zu befreien, der, meinte sie, nur mein Vergnügen an Phèdre stören würde, und um dieses Vergnügens willen seien doch sie und der Vater von ihrem Verbot zurückgekommen. Da aber kam mir diese Art Verpflichtung, Vergnügen zu empfinden, recht schwer vor. Und dann: würde ich, wenn ich krank nach Hause käme, schnell genug genesen, um nach den Ferien in die Champs-Élysées zu gehen, sobald Gilberte wieder hinkäme? Allen diesen Gründen stellte ich zum Entscheidungskampf die hinter ihrem Schleier unsichtbare Idee der Vollkommenheit der Berma entgegen. In die eine Wagschale legte ich: »Fühlen, daß Mama traurig ist, riskieren, nicht in die Champs-Élysées gehen zu können, in die andere »jansenistische Blässe, Sonnenmythos«, aber diese Worte verdunkelten sich schließlich selbst vor meinem Geist, sagten mir nichts mehr, verloren alles Gewicht; nach und nach wurde das Zögern zu schmerzlich: hätte ich jetzt für das Theater entschieden, so wäre es nur geschehen, um diesem Zögern ein Ende zu machen und es ein für allemal los zu sein. Nur noch, um meine Leiden abzukürzen, nicht in der Hoffnung mehr auf geistigen Gewinn, noch in der Hingabe an den Reiz des Vollkommenen hätte ich mich zu der Göttin geleiten lassen, die nun nicht mehr die weise Göttin war, sondern die unerbittliche Gottheit ohne Antlitz und Namen, die ihr heimlich hinter dem Schleier untergeschoben worden. Da wurde plötzlich alles anders. Mein Verlangen, die Berma zu hören, erhielt von neuem einen Schlag mit der Peitsche, der mir erlaubte, in freudiger Ungeduld die Matinee zu erwarten: als ich nämlich vor der Anschlagsäule meine tägliche, seit kurzem so qualvolle Stylitenstation machte, sah ich, noch ganz feucht, die detaillierte Anzeige der Phèdre, die man gerade zum erstenmal aufgeklebt hatte (und auf der, die Wahrheit zu sagen, die übrigen Einzelheiten keinen neuen entscheidenden Reiz auf mich ausübten). Aber sie gab dem einen der Ziele, zwischen denen meine Unentschiedenheit schwankte, eine konkretere Form, die – da die Anzeige nicht das Datum des Tages trug, an dem ich sie las, sondern dessen, an dem die Aufführung stattfinden sollte und noch dazu die Stunde des Beginns – etwas Näherrückendes, auf dem Wege der Verwirklichung Begriffenes hatte, so daß ich freudig vor der Säule hüpfte bei dem Gedanken, ich werde an diesem Tage, genau zu dieser Stunde auf meinem Platze sitzen und bereit sein, die Berma zu hören; und aus Furcht, meine Eltern könnten nicht mehr Zeit haben, für die Großmutter und mich zwei gute Plätze zu beschaffen, war ich mit einem Satz wieder zu Hause, gehetzt von den neuen Zauberworten, die in meinem Geist ›jansenistische Blässe‹ und ›Sonnenmythos‹ ersetzt hatten, den Worten: ›die Damen müssen im Parkett die Hüte abnehmen, die Saaltüren werden um zwei Uhr geschlossen‹.
Ach, diese erste Matinee war eine große Enttäuschung. Mein Vater schlug vor, die Großmutter und mich auf seinem Wege zur Kommission vor dem Theater abzusetzen. Vorm Weggehen sagte er zu meiner Mutter: »Sieh zu, daß wir etwas Gutes zum Essen haben; du weißt doch, ich soll Norpois mitbringen.« Die Mutter hatte es nicht vergessen. Und schon seit gestern war Françoise glücklich, sich der Kochkunst hingeben zu können, für die sie sicherlich Begabung besaß, und noch besonders feuerte sie die Ankündigung eines neuen Tischgastes an; sie wußte, sie sollte nach Methoden, die nur ihr eigen waren, den Boeuf à la gelée komponieren, und lebte ganz in der Glut des Schaffens; da sie besondern Wert auf die Qualität des Materials legte, das notwendig zur Herstellung ihres Werkes gehörte, ging sie selbst in die Hallen und ließ sich die schönsten Stücke Rumsteak, Rindsbug und Kalbsfuß geben, dem Michelangelo ähnlich, der acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Denkmal Julius' II. auszuwählen. Bei ihrem Hin und Her legte Françoise sich derart ins Zeug, daß Mama, als sie das erhitzte Gesicht unserer alten Dienerin sah, fürchtete, sie könne krank werden von Überanstrengung wie der Schöpfer der Mediceergräber in den Steinbrüchen von Pietrasanta. Schon am Vorabend hatte sie den rosa Marmor dessen, was sie Nev-Yorkschinken nannte, zum Bäcker geschickt, um ihn in schützender Brotteighülle in den Ofen schieben zu lassen. Da sie den Reichtum der Sprache unterschätzte und sich nicht auf ihre Ohren verließ, hatte sie gewiß, als sie zum erstenmal von Yorkschinken reden hörte – in der Meinung, es sei eine unwahrscheinliche Verschwendung, daß im Vokabular York und New-York zugleich existieren sollten – geglaubt, sie habe schlecht verstanden und man habe ihr den Namen sagen wollen, den sie schon kannte. So blieb denn für ihre Ohren und, wenn sie eine Anzeige las, für ihre Augen vor dem Worte York das New, welches sie ›Nev‹ aussprach. Und in aller Treuherzigkeit sagte sie zum Küchenmädchen: »Holen Sie mir Schinken von Olida. Die gnädige Frau hat mir eingeschärft, daß es Nev-Yorker sein soll.« Hatte an diesem Tage Françoise die glühende Sicherheit des großen Schöpfers, so war mein Teil die quälende Unruhe des Suchenden. Wohl empfand ich Freude, solange ich die Berma noch nicht gehört hatte, Freude auf dem kleinen Square vor dem Theater, wo zwei Stunden später die kahlen Kastanienbäume mit metallischen Reflexen aufstrahlen sollten, sobald die Laternen angesteckt und die einzelnen Blätter des Astwerks beleuchtet sein würden; Freude vor den Kontrollbeamten, deren Wahl, Beförderung und Schicksal von der großen Künstlerin abhingen – sie behielt sich in der Verwaltung alle Entscheidungen vor, deren jeweilige rein nominelle Direktoren unbeachtet wechselten. Die Beamten nahmen unsere Billette, ohne uns anzusehen, sie waren zu aufgeregt und besorgt, ob auch alle Vorschriften der Berma dem neuen Personal richtig übermittelt seien, ob man verstanden habe, daß die Claque nie für sie klatschen dürfe, daß die Fenster offen sein sollten, solange sie nicht auf der Bühne war, dann aber auch jede Tür geschlossen und in ihrer Nähe ein Topf mit heißem Wasser versteckt, um den Staub am Aufsteigen zu verhindern; nun mußte ja gleich ihr Wagen mit den beiden langmähnigen Pferden vor dem Theater halten und sie selbst, in Pelze gehüllt, aussteigen, mit etwas mürrischer Geste die Grüße erwidern und eine aus ihrer Gefolgschaft entsenden, um sich über die Proszeniumslogen, die für ihre Freunde reserviert waren, über die Temperatur des Saales, die Besetzung der Logen, die Kleidung der Logenschließerinnen zu informieren; Theater und Publikum waren für sie nur ein zweites weiteres Gewand, in welches sie glitt, ein besserer oder schlechterer Wärmeleiter ihres Talentes. Auch im Saale selbst war ich glücklich; seit ich – im Gegensatz zu der Vorstellung, die lange Zeit in meiner kindlichen Phantasie bestanden hatte – wußte, daß es für alle Welt nur eine Bühne gab, dachte ich mir, die andern Zuschauer müßten einen wie eine umgebende Straßenmenge am guten Sehen hindern, nun aber stellte ich fest, daß vielmehr jedermann dank einer Anordnung, die gleichsam das Symbol aller Wahrnehmung ist, sich als Mittelpunkt des Theaters empfindet; und so erklärte ich mir, daß Françoise, die einmal zu einem Singspiel auf den dritten Rang geschickt wurde, nachher zu Hause versichern konnte, ihr Platz sei der allerbeste gewesen, und statt sich zu weit ab zu fühlen, sei sie eingeschüchtert worden durch die geheimnisvolle lebendige Nähe des Vorhangs. Meine Freude wuchs noch, als ich begann, wirre Geräusche, wie man sie unter der Eierschale hört, wenn das Kücken heraus will, hinter dem Vorhang zu unterscheiden; diese Geräusche wurden stärker, und plötzlich richteten sie sich aus jener unseren Augen undurchdringlichen Welt, die uns doch mit den ihren sah, unzweifelhaft an uns selbst in der gebieterischen Form dreier Schläge, erregend wie Signale vom Planeten Mars. Und als dann der Vorhang aufging und auf der Bühne ein ganz gewöhnlicher Schreibtisch und ebensolcher Kamin andeuteten, die gleich auftretenden Personen werden keine Schauspieler sein, die Verse aufsagen kämen, wie ich das von einer Abendvorstellung her kannte, sondern Leute, die bei sich zu Hause einen Tag ihres Lebens leben würden, in den ich eindrang, einbrach, ohne daß sie mich sahen –, da hielt meine Freude immer noch vor; sie wurde unterbrochen durch eine kurze Unruhe: gerade als ich die Ohren spitzte, weil nun das Stück beginnen sollte, traten zwei Männer auf die Bühne, die recht zornig waren, sie sprachen so laut, daß man im ganzen Saal, der mehr als tausend Menschen faßte, jedes Wort verstand, während man doch in einem kleinen Café den Kellner fragen muß, was denn die beiden Individuen da drüben, die sich an den Kragen geraten, eigentlich sagen; aber da gleichzeitig zu meiner Verwunderung das Publikum, ohne zu protestieren, zuhörte und ganz in einmütiges Schweigen versunken war, auf welchem hier und da ein Lachen plätscherte, begriff ich, die beiden Unverschämten waren Schauspieler, und mit ihrem Gespräch hatte das kleine Stück begonnen, das man lever de rideau nennt. Ihm folgte eine ziemlich lange Pause: die Zuschauer, die wieder ihre Plätze einnahmen, wurden ungeduldig und stampften mit den Füßen. Das erschreckte mich; es erging mir wie bei Lektüre eines Prozeßberichtes, in dem ich einen Mann von edler Gesinnung unter Nichtachtung der eigenen Interessen zugunsten eines Unschuldigen zeugen sah und fürchten mußte, man werde nicht freundlich genug zu ihm sein, ihm nicht dankbare Anerkennung genug erweisen, nicht nach Verdienst ihn reich belohnen, so daß er sich schließlich angeekelt auf die Seite der Ungerechtigkeit schlagen werde; so hatte ich auch jetzt, Genie und Tugend gleichsetzend, Angst, die Berma könne sich ärgern der schlechten Manieren eines unerzogenen Publikums halber – unter dem ich sie doch so gern einige Berühmtheiten hätte erkennen sehen, auf deren Urteil sie Wert legen würde – und es ihre Unzufriedenheit, ihre Verachtung fühlen lassen, indem sie schlecht spiele. Flehentlich blickte ich auf die brutalen Stampfer: sie sollten nicht mit ihrer Wut den gefährdeten kostbaren Eindruck zerstören, den ich hier suchte. Die letzten Augenblicke meiner Freude begleiteten die ersten Szenen von Phèdre. Im Anfang des zweiten Aktes erscheint noch nicht Phèdre selbst; und doch trat, sobald der Vorhang aufgegangen war und ein zweiter aus rotem Samt sich geteilt hatte, der in allen Stücken, in denen der Star spielte, die Tiefe der Bühne abtrennte, durch die Mitte eine Schauspielerin auf mit einem Gesicht und einer Stimme, wie man mir die Berma beschrieben hatte. Man hatte wohl die Szenenfolge geändert: alle Sorgfalt, die ich auf das Studium der Rolle von Theseus' Gattin verwendet hatte, wurde nutzlos. Dann aber gab eine zweite Schauspielerin der ersten das Stichwort. Ich mußte mich getäuscht haben, als ich die erste für die Berma hielt, die zweite glich ihr noch mehr, hatte mehr als die andere ihre Diktion. Beide begleiteten übrigens die Worte ihrer Rolle mit edlen Gebärden, die ich deutlich wahrnahm und in ihrer Beziehung zum Texte genau erfaßte; sie ließen ihre schönen Pepla wallen; auch an sinnreichem Tonfall, bald leidenschaftlich, bald ironisch, ließen sie es nicht fehlen, und ich begriff die Bedeutung manches Verses, über den ich zu Hause weggelesen hatte, ohne genügend zu beachten, was er besagen wollte. Aber plötzlich erschien in der Öffnung des roten Vorhangs des Heiligtums wie in einem Rahmen eine Frau, und an der Angst, die mich befiel – viel banger als die der Berma sein mochte, Öffnen eines Fensters könne sie stören, das Rascheln eines Programms den Klang eines ihrer Worte beeinträchtigen, man könne sie verstimmen, indem man ihren Kameraden Beifall spende und ihr nicht genug – und an der Art, wie ich, noch unbedingter als die Berma selbst, von diesem Augenblick an Saal, Publikum, Schauspieler, Stück und meinen eigenen Körper als akustischen Empfangsapparat ansah, der nur in dem Maße Bedeutung hatte, als er sich den Modulationen dieser Stimme anpaßte, begriff ich, daß die beiden seit einigen Minuten von mir bewunderten Schauspielerinnen gar keine Ähnlichkeit mit der hatten, die zu hören ich gekommen war. Aber zugleich war es mit all meiner Freude vorbei; umsonst heftete ich Augen, Ohren und Sinn auf die Berma, damit mir von den Gründen, die sie mir geben würde, sie zu bewundern, auch nicht das kleinste Teilchen verloren ginge: es gelang mir nicht, einen einzigen zu gewinnen. Ich konnte nicht einmal wie bei ihren Kolleginnen in der Diktion und im Spiel sinnreichen Tonfall und schöne Gebärden wahrnehmen. Ich hörte sie, wie ich Phèdre gelesen oder wie Phèdre selbst im gegebenen Augenblick die Dinge gesagt hätte, die ich vernahm, ohne daß das Talent der Berma ihnen für mich etwas hinzutat. Ich hätte jeden Tonfall der Künstlerin, jeden Ausdruck ihres Gesichtes, um ihn tiefer zu ergründen, um seine besondere Schönheit zu entdecken, festhalten, lange Zeit bannen mögen; zum mindesten gedachte ich, meine geistige Beweglichkeit darein zu setzen, auf jeden Vers eine ganz gesammelte, gereifte Aufmerksamkeit zu richten, von der Dauer jedes Wortes, jeder Geste kein Bruchteil über vorbereitenden Anstalten zu verlieren und dank meiner Anspannung so tief in Worte und Gesten einzudringen, als hätte ich dafür noch lange Stunden zur Verfügung. Aber wie kurz war diese Dauer! Kaum hatte mein Ohr einen Ton aufgenommen, so ersetzte ihn schon ein anderer. Bei einer Szene, in der die Berma einen Augenblick vor der Dekoration, die das Meer darstellt, unbewegt steht, den Arm zu Gesichtshöhe erhoben und durch einen Beleuchtungseffekt in grünliches Licht getaucht, brach der Saal in lauten Beifall aus, aber schon hatte die Schauspielerin die Stellung wieder gewechselt, und das Bild, das ich studieren wollte, existierte nicht mehr. Ich sagte meiner Großmutter, ich sähe nicht gut. Sie gab mir ihr Opernglas. Allein, wenn man an die Wirklichkeit der Dinge glaubt, gibt der Gebrauch eines künstlichen Mittels, sie sich zeigen zu lassen, nicht das äquivalente Gefühl ihrer Nähe. Ich dachte, das sei nicht mehr die Berma, was ich sah, sondern nur ihr Bild im vergrößernden Glase. Ich legte das Glas weg; aber war nun das Bild, das mein Auge durch die Entfernung verkleinert empfing, exakter? Welche der beiden Berma war die richtige? Auf die Liebeserklärung an Hippolyt hatte ich sehr gerechnet; aus der sinnreichen Bedeutung, die ihre Kolleginnen mir in weniger schönen Partien immer wieder aufzeigten, schloß ich, daß die Berma sicher einen Tonfall finden werde viel überraschender als alles, was ich mir zu Hause bei der Lektüre vorzustellen versucht hatte; aber sie erreichte nicht einmal, was Önone und Aricie gefunden hätten. Sie leierte die ganze Tirade gleichmäßig herunter, in der doch so scharfe Gegenüberstellungen sich verschmelzen, daß eine nur einigermaßen intelligente Tragödin, und wäre es auch nur eine Lyzeumsschülerin, die Wirkung nicht vernachlässigt hätte; übrigens sagte sie das Ganze so schnell auf, daß mir erst, als sie beim letzten Verse angelangt war, die gewollte Monotonie bewußt wurde, die sie in die ersten gelegt hatte. Endlich brach mein erstes Gefühl der Bewunderung aus: es wurde hervorgerufen durch den frenetischen Beifall der Zuschauer. Ich klatschte mit und suchte durch heftiges Weiterapplaudieren den Beifallssturm zu verlängern, damit die Berma aus Dankbarkeit sich heute selbst überträfe und ich sicher sei, sie an einem ihrer besten Tage gehört zu haben. Merkwürdig ist übrigens, daß gerade an der Stelle, die den Beifall des Publikums entfesselte, die Berma, wie ich später erfahren habe, einen ihrer schönsten Einfälle hat. Es senden offenbar bestimmte transzendente Wirklichkeiten Strahlen um sich aus, für welche die Menge empfänglich ist. So erregen ja auch, bei gewissen Ereignissen, wenn zum Beispiel ein Heer an der Grenze in Gefahr, geschlagen oder siegreich ist, die ziemlich dunklen Nachrichten, die eintreffen und aus denen der Gebildete nicht viel zu schließen weiß, in der Menge eine Bewegung, die ihn überrascht und in der er, wenn ihn inzwischen die Sachverständigen über die wahre militärische Lage unterrichtet haben, die Fähigkeit des Volkes erkennt, jene »Aura« rings um die großen Ereignisse wahrzunehmen, sie auf Hunderte von Kilometern zu sehen. Man erfährt einen Sieg entweder nachträglich, wenn der Krieg zu Ende ist, oder umgehend durch die Freude des Portiers. Einen genialen Zug im Spiel der Berma entdeckt man acht Tage, nachdem man sie gehört, durch die Kritik oder umgehend durch den Beifall des Parterres. Da aber diese unmittelbare Erkenntnis der Menge mit hundert anderen irrigen vermengt ist, geht der Applaus meistens fehl, ganz abgesehen davon, daß er mechanisch von der Kraft früherer Beifallsstürme erregt wird, wie das Meer, das ein Sturm genügend aufgewühlt hat, fortfährt anzuschwellen, auch wenn der Wind nicht mehr wächst. Wie dem auch sei, in dem Maße als ich Beifall klatschte, schien mir, die Berma habe besser gespielt. Neben mir sagte eine ziemlich gewöhnlich aussehende Frau: »Die gibt sich wenigstens aus, macht sich's sauer, rackert sich ab, das nenne ich mir noch Theater spielen.« Ich war ganz glücklich, diese Erklärungen für die Überlegenheit der Berma zu bekommen, obwohl ich ahnte, daß sie sie nicht mehr erklärten als den Perseus von Benvenuto Cellini oder die Gioconda der Ausruf eines Bauern: »Gut gemacht ist das schon! Gediegen und sauber! Und welche Arbeit!«, und trunken teilte ich den derben Trank dieser volkstümlichen Begeisterung. Als aber der Vorhang fiel, fühlte ich doch eine Enttäuschung, daß die so sehr ersehnte Lust nicht größer gewesen, zugleich das Bedürfnis, sie zu verlängern und nicht mit dem Verlassen des Saales für immer dies Theaterleben aufzugeben, das für ein paar Stunden mein eigenes geworden war. Wie bei einer Abreise ins Exil hätte ich mich losreißen müssen, und wie sollte ich jetzt direkt nach Hause gehen können, wenn ich nicht hätte hoffen dürfen, dort viel über die Berma zu erfahren von ihrem Bewunderer, dem ich die Erlaubnis zu Phèdre zu gehen, verdankte, Herrn von Norpois. Ich wurde ihm vor dem Essen von meinem Vater vorgestellt, der mich dazu in sein Arbeitszimmer rief. Bei meinem Eintritt erhob sich der Botschafter, reichte mir die Hand, neigte seine hohe Gestalt und heftete aufmerksam die blauen Augen auf mich. Da die durchreisenden Fremden, die ihm zur Zeit, als er Frankreich repräsentierte, vorgestellt wurden, mehr oder weniger – und waren es auch nur bekannte Tenöre – Personen von Bedeutung waren, von denen er später, wenn in Paris oder Petersburg ihr Name fiel, sagen konnte, er erinnere sich sehr wohl des Abends, den er in München oder Sofia mit ihnen verbracht habe, so hatte er die Gewohnheit angenommen, neu Vorgestellten durch liebenswürdiges Entgegenkommen Zufriedenheit über die Bekanntschaft auszudrücken; mehr noch: er war überzeugt, daß man im Leben der Hauptstädte durch die Berührung sowohl mit den interessanten Individualitäten, die sie durchqueren, als mit den Gebräuchen des Volkes, das sie bewohnt, eine vertiefte Kenntnis, die Bücher nicht geben können, von Geschichte, Geographie, den Sitten der verschiedenen Nationen und der geistigen Bewegung Europas gewinnt, und so übte er an jedem Ankömmling seine scharfen Beobachtungsgaben, um sogleich zu merken, mit was für einer Art Mensch er zu tun habe. Seit langem hatte ihm die Regierung keinen Posten im Auslande mehr anvertraut; sobald man ihm aber jemand vorstellte, begannen seine Augen, als seien sie von seinem Austritt aus dem aktiven Dienst nicht amtlich benachrichtigt worden, mit Nutzen zu beobachten, während er durch seine ganze Haltung auszudrücken suchte, daß ihm der Name des Fremden nicht unbekannt sei. So sprach er denn auch zu mir gütig und mit der imposanten Miene eines Mannes, der sich des weiten Feldes seiner Lebenserfahrung bewußt ist; dabei erforschte er mich unaufhörlich mit scharfsinniger, ihm nutzbringender Neugier, als wäre ich eine exotische Sitte, ein lehrreiches Denkmal oder ein auf der Tournee begriffener Star. Er bewies an meiner Person gleichzeitig die erhabene Freundlichkeit des weisen Mentor und die eifrige Wißbegier des jungen Anacharsis.