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2026 Words
Für meine Mutter hatte der geistige Habitus des Botschafters an sich wohl nichts besonders Anziehendes. Und ich muß sagen, die Ausdrucksweise des Herrn von Norpois gab ein so vollständiges Repertoire der überlebten Redewendungen, wie sie zu einer bestimmten Karriere, Klasse und Epoche – einer Epoche, die für diese Klasse und Karriere vielleicht wirklich noch nicht erledigt ist – passen, daß es mir manchmal leid tut, nicht ganz rein und unverändert die Worte behalten zu haben, die ich von ihm hörte. Damit hätte ich das Altmodische höchst effektvoll und ebenso leicht und treffend herausgebracht wie jener Schauspieler vom Palais-Royal, den man fragte, wo er denn seine überraschenden Hüte fände, und der antwortete: »Ich finde meine Hüte nicht; ich behalte sie.« Mit einem Wort, ich glaube, meine Mutter fand Herrn von Norpois ein bißchen vieux jeu, was ihr in bezug auf seine Manieren beileibe nicht mißfiel, sie aber weniger entzückte im Bereiche nicht gerade der Ideen – denn die des Herrn von Norpois waren sehr modern – sondern der Ausdrucksweise. Allein sie fühlte, daß es ihrem Gatten in zarter Weise schmeichelte, wenn sie ihm mit Bewunderung von dem Diplomaten sprach, der eine so seltene Vorliebe für ihn bezeugte. Wenn sie meinen Vater in seiner guten Meinung von Herrn von Norpois bestärkte und ihn so dazu brachte, auch von sich selbst eine gute Meinung zu bekommen, war sie sich bewußt, eine ihrer Pflichten zu erfüllen, nämlich die, ihrem Gatten das Leben angenehm zu machen, wie sie es tat, wenn sie darüber wachte, daß die Küche gepflegt war und die Bedienung sich schweigsam vollzog. Und da sie außerstande war, meinen Vater zu belügen, trainierte sie sich innerlich, den Botschafter zu bewundern, um ihn aufrichtig loben zu können. Übrigens hatte sie ein natürliches Wohlgefallen an seiner gütigen Miene und seiner altmodischen zeremoniösen Höflichkeit (wenn er hochaufgerichtet des Weges kam und sah meine Mutter im Wagen vorbeifahren, so warf er die kaum angerauchte Zigarre weg, ehe er den Hut zog), ferner an seiner gemessenen Konversation: er sprach so wenig wie möglich von sich selbst und zog immer in Betracht, was seinem Unterredner angenehm sein konnte; endlich an seiner Pünktlichkeit im Beantworten von Briefen; die war erstaunlich: wenn mein Vater ihm geschrieben hatte und einen Brief erhielt, auf dessen Umschlag er Herrn von Norpois' Handschrift erkannte, so war seine erste Regung, anzunehmen, ihre Briefe hätten sich durch einen unglücklichen Zufall gekreuzt; es war, als fänden für Herrn von Norpois auf der Post Extra-Luxus-Leerungen statt. Meine Mutter fand es wunderbar, daß er trotz so gehäuften Beschäftigungen so genau, trotz ausgedehntem Verkehr so liebenswürdig war, und bedachte nicht, daß diese ›Trotz‹ eigentlich lauter ›Weil‹ waren und – wie Greise für ihr Alter erstaunlich, Könige schlicht, Kleinstädter immer auf dem laufenden sind – gerade seine Lebensgewohnheiten Herrn von Norpois gestatteten, soviel Beschäftigungen gerecht zu werden und zugleich so ordentlich in seinen Antworten zu sein, in Gesellschaft zu gefallen und uns liebenswürdig entgegenzukommen. Überdies beruhte der Irrtum meiner Mutter wie der aller zu Bescheidenen darauf, daß sie, was sie selbst betraf, den Angelegenheiten der andern unterordnete und somit von ihnen absonderte. Die schnelle Antwort, die sie dem Freunde meines Vaters hoch anrechnete und die doch nur deshalb umgehend eintraf, weil er tagtäglich viele Briefe schrieb, nahm sie von der großen Anzahl seiner Briefe aus, obwohl es nur einer unter vielen war; sie kam nicht darauf, daß ein Diner bei uns für Herrn von Norpois einer der zahllosen Akte seines sozialen Lebens war, sie erwog nicht, daß der Botschafter von seiner diplomatischen Tätigkeit her gewohnt war, Dinereinladungen als Teil seiner Funktionen anzusehen, und daß es zuviel von ihm verlangt gewesen wäre, die eingewurzelte Grazie, die er bei solcher Gelegenheit entfaltete, eigens abzutun, wenn er zu uns essen kam. Sein erstes Diner bei uns nahm Herr von Norpois zu einer Zeit ein, als ich noch in den Champs-Élysées spielte, und es ist in meinem Gedächtnis geblieben, weil ich am Nachmittage des gleichen Tages endlich die Berma in einer Matinée als Phèdre hören sollte, auch, weil mir im Gespräch mit Herrn von Norpois plötzlich und auf besondere Art bewußt ward, daß alles, was Gilberte Swann und ihre Eltern betraf, bei mir ganz andere Gefühle erweckte als diese Familie bei jedwedem sonst auslöste. Sicherlich hatte meine Mutter die Niedergeschlagenheit bemerkt, in die mich die Nähe der Neujahrsferien versenkte, in denen ich, wie sie mir selbst angezeigt hatte, Gilberte nicht sehen sollte, und, um mich zu zerstreuen, sagte sie eines Tages zu mir: »Wenn du noch immer so große Lust hast, die Berma zu hören – der Vater wird, glaube ich, vielleicht erlauben, daß du hingehst; die Großmutter könnte dich mitnehmen.« Daran war Herr von Norpois schuld, der meinem Vater gesagt hatte, er solle mich doch die Berma hören lassen, das gäbe einem jungen Menschen einen Eindruck fürs ganze Leben; und mein Vater, bisher sehr dagegen, daß ich mit Dingen meine Zeit verlöre, die er zum Ärger meiner Großmutter nutzloses Zeug nannte, das meiner Gesundheit schlecht anschlagen könne, war nun nahe daran, den von dem Botschafter angepriesenen Theaterbesuch von ungefähr in die Gesamtheit der Rezepte einzufügen, die für eine glänzende Laufbahn von Wert sind. Für die Großmutter war es ein großes Opfer gewesen, mich auf den Nutzen verzichten zu lassen, den es nach ihrer Meinung für mich hatte, die Berma spielen zu sehn, ein Opfer, das man der Rücksicht auf meine Gesundheit bringe, und nun mußte sie mitansehen, daß diese Rücksicht auf ein bloßes Wort des Herrn von Norpois vernachlässigt werden sollte. Als unverbesserliche Rationalistin setzte sie ihre Hoffnung in das mir verordnete Regime der freien Luft und des Früh-zu-Bett-Gehens, beklagte die Verletzung dieser Vorschriften, die ich begehen würde, als ein Ungemach und sagte ganz betrübt zu meinem Vater: »Wie leichtsinnig Sie sind!« Wütend erwiderte er: »Wie? Jetzt wollen mit einmal Sie nicht mehr, daß er hingeht! Das ist doch stark! Nachdem Sie uns immer wiederholt haben, es könne ihm von Nutzen sein.« Aber in einem für mich noch viel wichtigeren Punkte hatte Herr von Norpois die Absichten meines Vaters geändert. Dieser hatte immer gewünscht, ich solle Diplomat werden; mir aber war, auch für den Fall, daß ich eine Zeitlang einem Ministerium angegliedert bliebe, der Gedanke unerträglich, man könne eines Tages als Botschafter mich in Hauptstädte schicken, die Gilberte nicht bewohnen würde. Da wäre ich lieber auf die literarischen Pläne von früher zurückgekommen, die ich im Verlauf meiner Spaziergänge in der Gegend um Guermantes aufgegeben hatte. Allein mein Vater hatte beständig dagegen Einspruch erhoben, daß ich der literarischen Laufbahn mich zuwende; er stellte sie tiefer als die Diplomatie und sprach sogar den Namen ›Laufbahn‹ ihr ab,– bis zu dem Tage, da Herr von Norpois, der die diplomatischen Beamten neuen Schlages nicht besonders liebte, ihm versicherte, man könne als Schriftsteller ebenso hohes Ansehen gewinnen, eine nicht geringere Wirksamkeit ausüben und mehr Unabhängigkeit bewahren als in den Botschaften. »Das hätte ich nicht gedacht: der alte Norpois hat gar nichts gegen den Gedanken, daß du Literatur treibst«, hatte mein Vater zu mir gesagt. Und da er selber ziemlich einflußreich war, meinte er, es gäbe nichts, das sich nicht im Gespräche unter Männern von Gewicht arrangieren und zu einer glücklichen Lösung führen ließe. »Ich werde ihn einen dieser Abende aus der Kommission zum Essen mitbringen. Du wirst ein bißchen mit ihm plaudern, damit er dich schätzen lerne. Schreib etwas Hübsches, das du ihm zeigen kannst; er steht sehr gut mit dem Direktor der Revue des Deux-Mondes, da wird er dich hineinbringen, das schafft er, er ist schlau; er scheint wahrhaftig zu finden, daß die Diplomatie heutzutage ...!« Der Gedanke an das Glück, nicht von Gilberte getrennt zu werden, machte mich begierig, nicht aber fähig, etwas Schönes, das man Herrn von Norpois zeigen könne, zu schreiben. Nach einigen vorläufigen Seiten fiel mir vor Überdruß die Feder aus der Hand, ich weinte vor Wut darüber, daß ich nie Talent haben würde, daß ich unbegabt sei und nicht einmal den Glücksfall, den Herrn von Norpois' bevorstehender Besuch bot, nützen könne, um auf die Dauer in Paris zu bleiben. Einzig der Gedanke, man werde mich die Berma hören lassen, lenkte mich von meinem Kummer ab. Aber wie ich mir nicht wünschte, Stürme an anderer Stätte als an den Küsten zu erleben, wo sie am heftigsten sind, so wollte ich die große Schauspielerin auch nur in einer der klassischen Rollen hören, in denen sie, wie mir Swann gesagt hatte, an das Erhabene grenze. Denn da wir in unserm Verlangen nach gewissen Eindrücken der Natur oder Kunst der Hoffnung leben, etwas Kostbares zu entdecken, haben wir Bedenken, unsere Seele statt ihrer geringere Eindrücke aufnehmen zu lassen, die uns über den genauen Wert des Schönen irreführen könnten. Die Berma in Andromaque, in Les Caprices de Marianne, in Phèdre, das gehörte zu den großartigen Dingen, die meine Phantasie so sehr begehrt hatte. Ich würde das gleiche Entzücken erleben wie an dem Tage, da mich die Gondel zu Füßen des Tizian der Frari-Kirche oder der Carpaccio von San Giorgio dei Schiavoni absetzen werde, wenn ich jemals von der Berma würde die Verse sagen: ›Man sagt, Euch nimmt von uns ein rascher Abschied fort, o Herr usw.‹ Ich kannte sie in der einfachen Wiedergabe Schwarz auf Weiß, welche die gedruckten Ausgaben bieten, aber, als sollte eine Reise wirklich werden, schlug mir das Herz bei dem Gedanken, diese Verse tatsächlich endlich baden zu sehen in Luft und Sonne der goldenen Stimme. Ein Carpaccio in Venedig, die Berma in Phèdre, diese Meisterwerke bildender und dramatischer Kunst waren für mich von einem Nimbus umgeben, der ihnen eine besondere Lebendigkeit und Unablösbarkeit gab: hätte ich einen Carpaccio in einem Saal des Louvre oder die Berma in einem Stücke, von dem ich noch nie gehört hatte, sehen sollen, es hätte mich nicht so herrlich bestürzt, endlich die Augen aufzuheben zu dem unfaßbaren einzigen Gegenstand meiner tausend Träume. Ferner erwartete ich von dem Spiel der Berma Offenbarungen über bestimmte Erscheinungsformen des Adels, des Schmerzes, und so mußte für mich das Große und Wahrhafte ihres Spieles noch größer und wahrhafter werden, wenn die Künstlerin es über ein Werk von wirklichem Wert ausbreitete statt Wahres und Schönes in ein mittelmäßiges und gewöhnliches Gewebe zu sticken. Schließlich würde es mir, wenn ich die Berma in einem neuen Stück zu hören bekäme, nicht leicht sein, ihre Kunst, ihre Diktion zu beurteilen, denn ich könnte nicht scheiden zwischen einem mir noch nicht bekannten Text und dem, was Tonfall und Gebärde hinzutäten, sie würden für mich eine Einheit mit ihm bilden; die alten Werke hingegen, die ich auswendig konnte, erschienen mir wie weite Spielräume, die der Künstlerin zur Verfügung waren, ihr offenstanden, und ich konnte bei ihnen gewiß die Gestaltungskraft der Berma uneingeschränkt würdigen, die sie gewissermaßen al fresco mit immer neuen Eingebungen ihrer Inspiration bedecken würde. Nun hatte sie leider seit Jahren die großen Bühnen verlassen, machte das Glück eines Boulevardtheaters, wo sie der Star war, und spielte nichts Klassisches mehr; umsonst sah ich die Anzeigen durch, die immer nur moderne Stücke ankündigten, eigens für sie von beliebten Autoren verfertigt, – bis ich eines Morgens auf der Anschlagsäule die Matineen der Neujahrswoche studierte und zum erstenmal – als zweiten Teil einer Vorstellung nach einem vermutlich unwesentlichen Einakter, dessen Titel mir dunkel blieb, weil er auf eine mir ganz unbekannte Handlung hindeutete, – zwei Akte Phèdre mit Frau Berma entdeckte und an den folgenden Matineen Le Demi-Monde und Les Caprices de Marianne, Titel, die wie Phèdre für mich durchsichtig waren, ganz von Klarheit erfüllt, – so gut kannte ich die Werke –, bis auf den Grund erleuchtet vom Lächeln der Kunst. Es schien mir Frau Berma einen neuen Adel zu geben, als ich in den Zeitungen las, sie selbst habe sich entschlossen, in einigen ihrer früheren Schöpfungen vor das Publikum zu treten. Die Künstlerin wußte, daß gewisse Rollen ein Interesse haben, das ihr erstes Erscheinen oder den Erfolg ihrer Wiederaufnahme überdauert; sie betrachtete deren Darstellung als Vorführung von Museumsstücken, Modellen für die Generation, die sie darin bewundert, und die, welche sie noch nicht darin gesehen hatte. Und wenn sie nur mitten unter Stücken, die nur dazu bestimmt waren, einen Abend lang die Zeit zu vertreiben, Phèdre anzeigte, ein Titel, nicht länger als der der andern und in den gleichen Lettern gedruckt, gab sie damit etwa dasselbe zu verstehen wie eine Hausfrau, die uns, wenn man zu Tische geht, den Gästen vorstellt und mitten unter den Namen von Eingeladenen, die nur Eingeladene sind, im gleichen Tonfall, mit dem sie die anderen nennt, sagt: Herr Anatole France.
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