Bald verabschiedete ich mich von der Marquise, ging mit Françoise fort und verließ sie dann, um zu Gilberte zurückzukehren. Gleich entdeckte ich sie: sie saß auf einem Stuhl hinter dem Lorbeergebüsch. Sie wollte nämlich nicht von ihren Freundinnen gesehen sein: man spielte Verstecken. Ich setzte mich neben sie. Sie trug eine flache Toque, die ziemlich tief über die Augen ging und ihnen jenen träumerisch listigen Blick von unten gab, der mir zum erstenmal in Combray an ihr aufgefallen war. Ich fragte sie, ob sie die Möglichkeit zu einer Aussprache mit ihrem Vater sehe. Gilberte sagte, sie habe ihm das vorgeschlagen, aber er halte es für unnütz. »Da, nehmen Sie mir den Brief wieder ab,« fügte sie hinzu, »ich muß zu den andern, sie haben mich nicht gefunden.«
Wäre Swann hinzugekommen, bevor ich ihn nahm – diesen Brief, von dessen Aufrichtigkeit sich nicht überzeugen lassen zu wollen ich so sinnlos von ihm fand – er hätte vielleicht gesehen, daß er doch recht hatte. Denn als ich mich jetzt Gilberte näherte und sie, im Stuhl zurückgelehnt, mich den Brief nehmen hieß, ohne ihn mir hinzuhalten, fühlte ich mich so von ihrem Körper angezogen, daß ich sagte:
»Versuchen Sie doch, daß ich ihn nicht kriege; wir wollen sehen, wer von uns der Stärkere ist.«
Sie tat ihn hinter sich, ich kam mit den Händen um ihren Hals und schob dabei die Zöpfe hoch, die ihr über die Schultern hingen (vielleicht paßte das noch zu ihrem Alter, oder aber ihre Mutter wollte sie noch länger Kind haben, um sich selbst zu verjüngen), und so rangen wir, eins übers andere gebeugt. Ich suchte, sie an mich zu ziehen, sie widerstand; ihre Backen waren vor Anstrengung heiß, rot und wie Kirschen gerundet; sie lachte, als hätte ich sie gekitzelt; ich hielt sie zwischen meinen Beinen wie ein Bäumchen, das man erklettern will; und mitten in meiner Gymnastik, fast ohne daß dadurch die Atemlosigkeit zunahm, in die Muskelanspannung und Eifer des Spiels mich brachten, goß ich wie Schweiß in der Anstrengung meine Lust aus und konnte nicht einmal lange genug darin verweilen, um ihren Reiz kennen zu lernen. Ich faßte den Brief. Da sagte Gilberte ganz sanft:
»Wissen Sie, wenn Sie wollen, können wir noch einmal ringen.«
Vielleicht hatte sie dunkel gefühlt, mein Spiel ziele auf anderes, als wozu ich mich bekannte, nicht aber bemerkt, daß mein Ziel schon erreicht war. Und in der Furcht, sie habe es dennoch gemerkt (ein Zurückzucken, eine verhaltene Bewegung verletzter Scham, die sie gleich danach hatte, brachte mich auf den Gedanken, daß diese Furcht nicht fehlging), ließ ich mich darauf ein, weiterzuringen; sie sollte nicht merken, was ich im Sinn gehabt und erreicht hatte, und daß danach mein einziges Verlangen war, ruhig bei ihr zu bleiben.
Auf dem Heimweg nahm ich als plötzlich aufsteigende Erinnerung ein bislang verborgen gebliebenes Bild wahr, dem mich schon der frische Geruch des vergitterten Pavillons – fast wie Ruß roch es – nahe gebracht hatte, doch noch ohne daß ich es sah oder wiedererkannte. Es war das Bild des kleinen Zimmers meines Onkels Adolphe in Combray; das strömte denselben feuchten Duft aus, aber ich konnte nicht begreifen und verschob auf später, zu forschen, warum die Wiederkehr eines so unwesentlichen Bildes solch eine Glückseligkeit mir gegeben hatte. Einstweilen meinte ich wirklich, die Verachtung des Herrn von Norpois zu verdienen; bisher hatte ich von allen Schriftstellern den am liebsten gehabt, von dem er sagte: »Das ist nur ein Flötenspieler«, und innerstes Entzücken war mir nicht durch eine große Idee, sondern durch einen Modergeruch mitgeteilt worden.
Seit einiger Zeit wurde in manchen Familien das Wort »Champs-Élysées«, wenn ein Besucher es aussprach, von den Müttern mit der mißgünstigen Miene beantwortet, die man für einen Arzt von Ruf in Bereitschaft hält, der angeblich in seinen Diagnosen zu oft geirrt hat, um noch Vertrauen zu verdienen; man versicherte, dieser Park bekäme den Kindern nicht gut, mehr als ein Fall von Halsweh oder Masern und zahlreiche Fieberanfälle ließen sich aufzählen, an denen er schuld sei. Ohne an der zärtlichen Fürsorge meiner Mutter, die mich immer noch hinschickte, offen zu zweifeln, beklagten Freundinnen von ihr, wie unbelehrbar sie sei.
Nervenleidende sind vielleicht der landläufigen Meinung zum Trotze diejenigen, die am wenigsten »auf sich achtgeben«; sie nehmen vieles an sich wahr, was sie unnötig aufregt, wie sie nachträglich feststellen, und beachten dann schließlich kein Symptom mehr. Allzu oft hat ihr Nervensystem Alarm geschlagen, wie bei einer schweren Krankheit, wenn einfach nur ein Schneefall drohte oder ein Umzug bevorstand, und so gewöhnen sie sich schließlich daran, nicht mehr auf solche Warnungen zu achten als ein Soldat, der sie im Eifer des Kampfes kaum wahrnimmt und sterbenskrank doch noch auf einige Tage das Leben eines kerngesunden Menschen weiterführen will. Eines Morgens regten sich in mir die gewohnten Beschwerden alle auf einmal, von deren beständiger Zirkulation in meinem Innern mein Bewußtsein sich immer wegwandte wie etwa von der Zirkulation des Blutes. In diesem Zustand lief ich munter ins Eßzimmer, wo meine Eltern schon bei Tische saßen; ich sagte mir wie gewöhnlich, Frieren bedeute nicht, daß man sich wärmen müsse, sondern zum Beispiel, daß man gescholten worden sei, und keinen Hunger haben, daß es regnen werde, und nicht, man dürfe nicht essen; ich setzte mich zu Tisch: da hielt mich, als ich gerade den ersten Bissen eines verlockenden Koteletts hinunterschlucken wollte, Übelkeit und ein Schwindel zurück, der fieberige Protest einer beginnenden Krankheit, deren Symptome meine Gleichgültigkeit bisher maskiert hatte. Jetzt verweigerte der Körper eigensinnig die Nahrung, ich konnte nichts hinunterbringen. In derselben Sekunde gab mir, wie der Selbsterhaltungstrieb dem Verwundeten, der Gedanke, man werde mich nicht ausgehen lassen, wenn man merke, daß ich krank sei, die Kraft, mich bis in mein Zimmer zu schleppen und dann, nachdem ich vierzig Grad Fieber dort festgestellt, mich fertig zu machen zum Ausgang in die Champs-Élysées. Und mitten durch die Hülle des entkräfteten, nachgebenden Körpers strebte ein selig lächelnder Gedanke begehrlich der süßen Lust zu, mit Gilberte zusammen Barlauf zu spielen, und dazu hatte ich, der eine Stunde später sich kaum aufrecht hielt, aber glücklich an ihrer Seite war, noch die Kraft.
Zu Hause erklärte Françoise, ich habe mich »unwohl befunden«, müsse mir »einen hitzigen Frost geholt« haben, und der Arzt, den man sofort rief, erklärte, der »scharfe, heftige« Fieberschauer, der meine Atemstockung begleitete, sei ihm »sympathischer« als »verlarvte«, verfänglichere Krankheitsformen, neben denen meine Beschwerden nur ein »Strohfeuer« seien. Seit langem zeigten sich bei mir Erstickungsanfälle; trotz der Mißbilligung meiner Großmutter, die mich schon als Alkoholiker sterben sah, hatte unser Arzt mir geraten, außer dem Kaffein, das mir zur Erleichterung der Atmung verschrieben war, Bier, Champagner oder Kognak zu nehmen, wenn ich eine Krise herannahen fühle. Solche Krisen würden dann in der vom Alkohol hervorgerufenen »Euphorie« aussetzen. Damit die Großmutter erlaubte, daß man mir Alkohol gab, war ich häufig gezwungen, meinen Beklemmungszustand nicht zu verheimlichen, ja, fast ihn zur Schau zu tragen. Übrigens war ich, wenn ich ihn kommen fühlte, in meiner Unsicherheit, welche Proportionen er annehmen werde, immer in Unruhe, die Großmutter könne traurig werden; das fürchtete ich mehr als meine Schmerzen. Zugleich aber zwang mich mein Körper, – zu schwach, das Geheimnis meiner Schmerzen für sich zu behalten, oder aus Furcht, man werde übersehen, was mir drohte, und mich zu einer Anstrengung zwingen, die ihm unmöglich oder gefährlich würde – die Großmutter auf mein Unwohlsein aufmerksam zu machen, und zwar mit einer Genauigkeit, in die ich schließlich eine Art physiologischer Gewissenhaftigkeit setzte. Bemerkte ich in mir ein lästiges Symptom, das ich bisher noch nicht herausgehoben hatte, war mein Körper so lange in Angstbeklemmung, bis ich es der Großmutter mitteilen konnte. Stellte sie sich ganz unaufmerksam, so verlangte er von mir, daß ich nicht nachließ. Bisweilen ging ich zu weit; und auf dem geliebten Gesicht, das seine Erregungen nicht mehr immer so bemeistern konnte wie früher, erschien ein Ausdruck von Mitleid, den Schmerz verzerrte. Dann folterte der Anblick ihrer Qual mein Herz; und als müßten meine Küsse diese Qual austilgen, als könnte meine Zärtlichkeit der Großmutter soviel Freude geben wie mein Glück, warf ich mich in ihre Arme. Und da nun auch meine Skrupel besänftigt waren durch das sichere Gefühl, die Großmutter wisse um meine Beschwerden, hatte auch mein Körper nichts dawider, daß ich sie beruhigte. Ich beteuerte, daß die Beschwerden nicht schlimm, daß ich durchaus nicht zu beklagen und ganz glücklich sei, dessen könne sie sicher sein, mein Körper habe genau so viel Mitleid erhalten wollen als er verdiene, und wenn man nur wisse, daß er auf seiner rechten Seite einen Schmerz empfinde, sei er damit einverstanden, daß ich erkläre, dieser Schmerz sei keine eigentliche Krankheit, kein Glückshindernis; mein Körper bestehe nicht darauf, Philosoph zu sein; das sei nicht sein Ressort. Fast täglich hatte ich während meiner Rekonvaleszenz Erstickungsanfälle. Eines Abends war ich, als die Großmutter mich verließ, ganz wohlauf. Zu später Stunde kam sie noch einmal auf mein Zimmer und bemerkte meine Atemnot. »Ach mein Gott!« rief sie, »wie du leidest!« Sie sah ganz bestürzt aus. Gleich verließ sie mich, ich hörte das Haustor zufallen, und etwas später kam sie mit Kognak wieder, den sie gekauft hatte, weil im Hause keiner war. Bald fing ich an, mich wohlzufühlen. Die Großmutter sah etwas erhitzt und verlegen aus, in ihren Augen lag Ermattung und Entmutigung.
»Ich will dich jetzt lieber allein lassen, du sollst dir die Besserung zunutze machen«, sagte sie und wollte rasch fort. Doch küßte ich sie noch und fühlte dabei auf den frischen Wangen etwas Nasses; ob das die Feuchtigkeit der Nachtluft war, durch die sie gegangen, wußte ich nicht. Am nächsten Tag kam sie erst abends in mein Zimmer, weil sie hatte ausgehen müssen, wie man mir sagte. Ich sah darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit und mußte mich zusammennehmen, ihr keinen Vorwurf zu machen.
Da meine Atembeschwerden anhielten, als die Kongestion schon lange vorbei war und sie nicht mehr erklärlich machte, konsultierten meine Eltern Professor Cottard. Ein Arzt, der in derartigen Fällen zugezogen wird, muß nicht nur kenntnisreich sein: angesichts von Symptomen, die auf drei oder vier verschiedene Krankheiten hindeuten, entscheidet schließlich und endlich seine Witterung, sein Scharfblick, mit welcher er es bei annähernd gleichen Anzeichen vermutlich zu tun hat. Diese geheimnisvolle Gabe setzt keine Überlegenheit auf andern geistigen Gebieten voraus, es kann sie ein äußerst gewöhnliches Wesen, das die schlechteste Malerei, die schlechteste Musik liebt und keinerlei Wißbegier hat, in höchstem Maße besitzen. Was in meinem Fall sinnfällig zu beobachten war, konnte ebensogut durch nervöse Spasmen verursacht sein wie durch eine beginnende Tuberkulose, durch Asthma wie durch Engbrüstigkeit infolge von Intoxikation in Verbindung mit Nierenschwäche, durch eine chronische Bronchitis oder einen Komplex, der mehrere dieser Faktoren enthielt. Nun wollten die nervösen Spasmen mit Schroffheit, die Tuberkulose mit großer Sorgfalt und einer Mastkur behandelt sein, die für eine gichtige Veranlagung oder das Asthma schlecht gewesen wäre und geradezu gefährlich werden konnte im Fall einer Engbrüstigkeit Intoxikation, die ein Regime erforderte, das wiederum für einen Tuberkulösen unheilvoll werden konnte. Cottard aber hielt sich nicht lange bei Bedenken auf und gab gebieterische Vorschriften. »Heftige, schnellwirkende Abführmittel, mehrere Tage hindurch Milch, nichts als Milch, kein Fleisch, keinen Alkohol.« – Meine Mutter murrte, ich habe doch eine Kräftigung sehr nötig, sei schon nervös genug, diese Pferdekur und diese Diät würden mich ganz herunterbringen. Cottards Augen, die unruhig wurden, als fürchte er etwa, den Zug zu versäumen, konnte ich ansehen, daß er sich fragte, ob er seiner natürlichen Gutmütigkeit nicht zu sehr nachgegeben habe. Er suchte sich offenbar zu vergewissern, ob er auch daran gedacht habe, seine abweisende Miene aufzusetzen, wie man nach einem Spiegel sucht, um festzustellen, daß man nicht vergessen habe, die Krawatte zu binden. In diesem Zweifel und, um auf alle Fälle Versäumtes auszugleichen, antwortete er grob: »Ich bin nicht gewohnt, meine ärztlichen Vorschriften zu wiederholen. Geben Sie mir eine Feder. Milchkur vor allem! Später, wenn wir die Krisen und die Agrypnie kleingekriegt haben, können Sie von mir aus mal eine Suppe essen und dann durchgeschlagenes Gemüse, aber immer Milch dazu, »au lait«. Das wird Ihnen Spaß machen, denn Spanien ist Mode, ollé, ollé!« (Seine Schüler kannten dieses Wortspiel von ihm, im Krankenhaus machte er es jedesmal, wenn er einen Herz- oder Leberkranken auf Milchkur setzte). »Dann werden Sie Schritt für Schritt zum Familientisch zurückkehren. Aber so oft der Husten und die Atembeschwerden wieder erscheinen, Abführmittel, Ausspülung der Eingeweide, Bett, Milch!« Mit eisiger Miene, ohne zu antworten, hörte er die letzten Einwände meiner Mutter an. Er verließ uns, ohne sich zur Erklärung der Gründe für das vorgeschriebene Regime herabzulassen; meine Eltern fanden es in meinem Fall gar nicht angebracht, unnütz schwächend, und ließen mich keinen Versuch damit machen. Natürlich suchten sie dem Professor ihren Ungehorsam zu verbergen und vermieden zu größerer Sicherheit alle Häuser, in denen sie ihn treffen konnten. Als aber dann mein Zustand sich verschlimmerte, entschloß man sich, mich Cottards Vorschriften buchstäblich befolgen zu lassen. Nach drei Tagen war ich Erstickungsanfälle und Husten los und atmete gut. Da verstanden wir: Cottard hatte, so sehr er mich, wie er später sagte, asthmatisch und vor allem »verdreht« fand, wohl erkannt, daß zur Zeit Intoxikation mein vorherrschendes Leiden sei und daß er durch Filtern meiner Leber und Durchspülen der Nieren meine Bronchien von der Kongestion befreien und Atem, Schlaf und Kräfte mir wiedergeben werde. Und wir begriffen, daß dieser Einfaltspinsel ein großer Kliniker war. Endlich konnte ich aufstehen. Aber man sprach davon, mich nicht mehr in die Champs-Élysées zu schicken. Wegen der schlechten Luft, sagte man; ich konnte mir wohl denken, daß man den Vorwand benutzte, damit ich nicht mehr Fräulein Swann sähe, und ich zwang mich, mir die ganze Zeit den Namen Gilberte vorzusagen, wie gefangene Besiegte sich bemühen, die Muttersprache beizubehalten, um die Heimat, die sie nicht wiedersehen werden, nicht zu vergessen. Bisweilen fuhr mir die Mutter mit der Hand über die Stirn und sagte: