I-10

2013 Words
Ich kam ins Haus zurück. Ich hatte den erstem Januar der alten Menschen erlebt, für die dieser Tag anders ist als für die jungen, nicht weil sie keine Neujahrsgeschenke mehr bekommen, sondern weil sie nicht mehr ans neue Jahr glauben. Neujahrsgeschenke hatte ich wohl bekommen, aber gerade das einzige nicht, das mir Freude bereitet hätte: ein Wort von Gilberte. Und doch war ich noch jung; ich hatte ihr in der Hoffnung geschrieben, wenn ich ihr meine einsamen Träume sage, gleiche in ihr zu erwecken. Die Traurigkeit der altgewordenen Menschen aber besteht gerade darin, daß sie nicht einmal daran denken, solche Briefe zu schreiben, da sie ja ihre Wirkungslosigkeit erfahren haben. Als ich zu Bett lag, hielten mich die Geräusche der Straße, die an diesem Festabend länger dauerten als gewöhnlich, wach. Ich dachte an alle die Leute, die ihre Nacht mit Genüssen beendeten, an den Liebhaber oder gar den Trupp von Lüstlingen, welche die Berma nach der Vorstellung, die ich für den Abend angekündigt gesehen hatte, abholen mochten. Ich konnte mir, um die Erregung zu beschwichtigen, die dieses Bild in schlafloser Nacht in mir wachrief, nicht einmal sagen, daß die Berma vielleicht gar nicht an Liebe denke, da doch die Verse, die sie deklamierte und lange studiert hatte, jeden Augenblick sie daran erinnerten, daß Liebe etwas Köstliches ist; und das wußte sie nur zu gut, denn sie offenbarte die wohlbekannten Verwirrungen dieser Leidenschaft, begabte sie mit neuer Heftigkeit und ungeahnter Süße vor Zuschauern, die von Erstaunen hingerissen waren über das, was doch jeder von ihnen selbst schon empfunden hatte. Ich zündete meine gelöschte Kerze wieder an, um noch einmal das Gesicht der Berma zu betrachten. Bei dem Gedanken, daß es gewiß gerade jetzt berührt wurde von Männern, die ich nicht hindern konnte, übermenschliche, undurchschaubare Freuden ihr zu geben und von ihr zu empfangen, empfand ich einen Schauer, der mehr qualvoll als wollüstig war, ein Heimweh, das noch bedrückender wurde durch den Klang eines Waldhorns, wie man ihn in der Nacht von Mittfasten und auch an anderen Festen hören kann, wenn er ohne Schönheit aus einer Schenke kommt und darum noch trauriger ist als ›Abends aus des Waldes Grunde‹. In diesem Augenblick wäre ein Wort von Gilberte vielleicht nicht das gewesen, was ich brauchte. Die Wege unserer Begierden durchkreuzen einander, und in der Verworrenheit des Daseins läßt sich selten ein Glück genau auf die Begierde nieder, die nach ihm gerufen hat. Ich fuhr fort, an schönen Tagen in die Champs-Élysées zu gehen durch Straßen, deren elegante rosa Häuser (damals waren gerade die Ausstellungen von Aquarellmalern Mode) in bewegter leichter Luft badeten. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir in dieser Zeit die von Gabriel erbauten Palais schöner zu sein oder auch nur einer andern Epoche anzugehören schienen als die benachbarten Gebäude. Stilvoller fand ich, wenn nicht das Palais de l'Industrie, so doch den Trocadéro, und ich hätte ihn auch für altertümlicher gehalten. Aber noch hüllte, versunken in unruhigen Schlaf, meine Jünglingszeit das ganze Quartier, durch das sie träumend ging, in ein und denselben Traum, und nie wäre mir in den Sinn gekommen, daß in der Rue royale es ein Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert geben könne, wie mich auch sehr verwundert hätte zu erfahren, daß die Porte Saint-Martin und die Porte Saint-Denis, diese Meisterwerke aus der Zeit Ludwigs XIV., nicht Zeitgenossen der neuesten Baulichkeiten ihrer schmutzigen Bezirke seien. Ein einziges Mal hielt mich der Anblick des einen der Palais von Gabriel lange fest: die Nacht war hereingebrochen, und der Mondschein hatte die Säulen entkörpert, sie sahen wie aus Pappe geschnitten aus, erinnerten mich an Kulissen der Operette Orpheus in der Unterwelt und machten mir zum erstenmal den Eindruck des Schönen. Noch immer kam Gilberte nicht wieder in die Champs-Élysées. Und es tat mir doch so not, sie zu sehen, denn ich konnte mir nicht einmal ihr Gesicht ins Gedächtnis zurückrufen. Die suchende, die ängstliche und anspruchsvolle Spannung, mit der wir die Person, die wir lieben, betrachten, unser Warten auf ein Wort, das uns die Hoffnung auf ein Stelldichein für morgen gibt oder nimmt, Freude und Verzweiflung, die uns abwechselnd oder gleichzeitig erfüllen, bis dies Wort gesprochen ist, all das macht unsere Aufmerksamkeit angesichts des geliebten Wesens zu sehr zittern, als daß unsere Phantasie ein deutliches Bild von ihm aufnehmen könnte. Vielleicht macht uns auch, wenn wir mit Blicken allein zu erfassen versuchen, was Blicke nicht fassen können, das Mitschwingen aller Sinne zu empfänglich für tausenderlei Formen, Reize und Bewegungen der lebenden Erscheinung, die wir gewöhnlich, wenn wir nicht verliebt sind, als etwas Unbewegtes gewahren. Das geliebte Modell hingegen bewegt sich; man bekommt von ihm nur mißglückte Photographien. Ich wußte wahrhaftig nicht mehr, wie die Züge Gilbertes beschaffen waren, außer in den himmlischen Augenblicken, in denen sie sie für mich entfaltete; nur an ihr Lächeln konnte ich mich erinnern. Während ich nun das geliebte Gesicht nicht wiederfand, soviel Mühe ich mir auch gab, es mir zu vergegenwärtigen, verdroß es mich, andre überflüssige Gesichter auffallend ähnlich und mit deutlichster Genauigkeit in mein Gedächtnis eingezeichnet zu finden, das des Mannes am Karussell und das der Bonbonverkäuferin; so bringt es Menschen, die ein geliebtes Wesen verloren haben und nie im Traume wiedersehen, zur Verzweiflung, daß sie in ihren Träumen beständig lauter unerträglichen Leuten begegnen, deren Bekanntschaft sie schon in wachem Zustande satt haben. In ihrer Unfähigkeit, sich den Gegenstand ihres Schmerzes vorzustellen, klagen sie sich fast an, keinen Schmerz zu empfinden. So war ich nahe daran, da ich mich an Gilbertes Züge nicht erinnern konnte, zu glauben, daß ich sie vergessen hätte und nicht mehr liebe. Endlich kam sie wieder, beinah täglich, zum Spielen und gab meinem Begehren und meinen Bitten für den nächsten Tag neuen Inhalt. Täglich machte sie so aus meinem Lieben eine neue Liebe. Da geschah etwas, das wieder einmal jäh die Art veränderte, in der alle Nachmittage gegen zwei Uhr das Problem meiner Liebe gestellt wurde. Hatte Herr Swann den Brief, den ich seiner Tochter geschrieben, abgefangen oder gestand Gilberte mir nur nachträglich, damit ich künftig vorsichtiger sei, einen alten Tatbestand? Als ich ihr sagte, wie sehr ich ihre Eltern bewundere, setzte sie die unbestimmte Miene voll heimlichen Trotzes auf, die sie anzunehmen pflegte, wenn man ihr von ihren Obliegenheiten sprach, ihren Besorgungen und Besuchen, und schließlich fuhr es ihr heraus: »Wissen Sie, die haben Sie gefressen!« und dann brach die entgleitende, glatte Undine in ein munteres Lachen aus. Oft stand ihr Lachen gar nicht in Einklang mit ihren Worten und schien, wie es die Musik tut, in einer andern Ebene eine unsichtbare Linie zu ziehen. Ihre Eltern verlangten nicht, daß sie aufhören solle, mit mir zu spielen, aber es wäre ihnen ebenso lieb gewesen, dachte sie, wenn es nie dazu gekommen wäre. Sie sahen meine Beziehungen zu ihr nicht mit wohlwollenden Blicken, trauten mir keine große Sittenreinheit zu und bildeten sich ein, ich könnte auf ihre Tochter nur schlechten Einfluß haben. Die ziemlich skrupellosen jungen Leute, denen Swann mich offenbar ähnlich fand, stellte ich mir als Menschen vor, welche die Eltern des von ihnen geliebten jungen Mädchens verabscheuen, ihnen schmeicheln, wenn sie zugegen sind, sich aber zusammen mit der Tochter über sie lustig machen, das Kind antreiben, ihnen ungehorsam zu sein, und, sobald sie es erobert haben, den Eltern entführen. Dieser Auffassung, – die auch der elendeste Schurke sich selbst nicht zutraut –, stellte mein Herz seine lebhaften Gefühle für Swann entgegen, und es stand für mich außer Zweifel, Swann werde sein ungerechtes Urteil wie einen Justizirrtum bereuen, wenn er die leidenschaftliche Aufrichtigkeit dieser Gefühle kenne. Ich hatte den Mut, ihm alles, was ich für ihn empfand, in einem langen Brief auszusprechen, den ich Gilberte anvertraute mit der Bitte, ihn ihrem Vater zu übermitteln. Dazu war sie bereit. Ach! Er sah gewiß in mir einen noch viel schlimmeren Betrüger, als ich gedacht hatte: die Gefühle, die ich auf sechzehn Seiten wahrheitsgetreu ihm auszumalen meinte, die also bezweifelte er! Mein Brief, ebenso leidenschaftlich und aufrichtig wie meine Worte zu Herrn von Norpois hatte nicht mehr Erfolg als diese. Am nächsten Tage – sie nahm mich hinter ein Lorbeergebüsch, und wir setzten uns in einer kleinen Allee jedes auf seinen Stuhl – erzählte mir Gilberte, bei der Lektüre des Briefes, den sie mir wiederbringe, habe ihr Vater die Schultern gezuckt und gesagt: »Das will alles gar nichts besagen, das beweist nur, wie recht ich habe.« Ich, der ich mir der Reinheit meiner Absichten, meiner inneren Güte bewußt war, ich war entrüstet, daß meine Worte an Swanns absurdem Irrtum machtlos abprallten. Denn ein Irrtum war es, das stand damals für mich fest. Ich hatte mit solcher Genauigkeit gewisse unbestreitbare Merkmale meiner edelmütigen Gefühle beschrieben: wenn Swann sich diese danach nicht unmittelbar rekonstruieren konnte, wenn er nicht kam, mich um Verzeihung zu bitten und zu bekennen, daß er sich getäuscht habe, so hatte er eben selber solche edlen Gefühle nie gekannt und war daher unfähig, bei andern sie zu verstehen. Nun wußte Swann vielleicht ganz einfach, daß Edelmut oft nur der innere Aspekt ist, den unsere selbstsüchtigen Gefühle annehmen, wenn wir sie noch nicht benannt und eingeordnet haben. Vielleicht hatte er in der ihm dargebrachten Sympathie eine einfache Folgeerscheinung – und pathetische Bestätigung – meiner Liebe zu Gilberte erkannt und durchschaute, daß diese Liebe – und nicht die sekundäre Verehrung für ihn – mein weiteres Tun und Treiben verhängnisvoll bestimmen würde. Zu solcher Voraussicht war ich nicht fähig, es war mir noch nicht gelungen, in meiner Liebe von mir selbst zu abstrahieren, in die Gesamtheit der andern sie einzuordnen und, durch Erfahrung belehrt, ihre Konsequenzen auf mich zu nehmen; ich war verzweifelt. Auf einen Augenblick mußte ich Gilberte verlassen, Françoise hatte nach mir gerufen. Ich sollte sie in einen kleinen, grün vergitterten Pavillon begleiten, der den nicht mehr benutzten städtischen Akzisehäuschen des alten Paris ähnelte und in dem seit kurzem eingerichtet war, was man in England ein Lavabo, in Frankreich in schlecht beratener Anglomanie Waterclosets nennt. Aus den feuchten alten Mauern des Eingangs, in dem ich stehen blieb, um Françoise zu erwarten, stieg frisch Geruch von eingeschlossener Luft, der bald die Sorgen linderte, die Swanns mir von Gilberte hinterbrachten Worte erweckt hatten, und mit einer Lust mich durchdrang, nicht von der Art der andern Lustgefühle, die uns unstet und außerstande lassen, sie festzuhalten, zu besitzen, nein, einer Lust, die Bestand hatte, auf die ich mich stützen konnte, die köstlich und friedlich, gesättigt mit nie alternder Wahrheit, unerklärt war und zuverlässig. Gern hätte ich, wie einst auf meinen Spaziergängen in der Gegend von Guermantes, versucht, den Zauber des Eindrucks, der mich ergriffen, zu durchdringen, mich still zu halten, um den ältlichen Dunst zu befragen; der bot mir ja nicht einen Genuß an, den er mir nur als Zuwage gab, er lockte mich, hinabzusteigen in die Wirklichkeit, die er mir nicht enthüllt hatte. Da redete mich die Pächterin des Etablissements an, eine alte Dame mit gipsig geschminkten Backen und roter Perücke. Françoise meinte, sie sei »schon sehr von woher«. Ihre Tochter hatte geheiratet, was Françoise einen jungen Mann von Familie nannte, womit sie ihn triftiger von einem Arbeiter unterschied als Saint-Simon einen Herzog von einem Menschen, der »aus der Hefe des Volkes hervorging«. Ohne Zweifel hatte die Pächterin, ehe sie das geworden war, Schicksalsschläge erfahren. Françoise versicherte, daß sie Marquise sei und der Familie von Saint-Ferréol angehöre. Die Marquise riet mir, nicht im Freien zu bleiben, sie öffnete mir sogar ein Kabinett und sagte: »Wollen Sie nicht eintreten? Hier ist ein ganz sauberes, für Sie kostet es nichts.« Das war vielleicht nur so gemeint wie von den Verkäuferinnen bei Gouache, die, wenn wir eine Bestellung machten, einen von den Bonbons mir anboten, die sie unter Glasglocken vor sich auf dem Ladentisch hatten (ach, Mama verbot mir, ihn anzunehmen), vielleicht auch weniger unschuldig als es die alte Blumenhändlerin meinte, von der Mama sich ihre »Jardinieren« füllen ließ, und die mir eine Rose gab und dabei süße Augen machte. Wie dem auch sei, wenn die »Marquise« Geschmack an jungen Burschen hatte, denen sie die Unterweltspforte zu den steinernen Würfeln öffnete, auf denen die Menschen hocken wie Sphinxe, so mochte sie in ihrer Freigebigkeit weniger auf die Möglichkeit aus sein, sie zu verderben, als auf die Freude, sich gegen ein geliebtes Wesen unbelohnt verschwenderisch zu zeigen; denn nie habe ich bei ihr einen andern Besuch gesehen als einen alten Gartenaufseher.
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