I-8

2379 Words
»Bergottes Zusammentreffen mit mir«, wandte sich der Botschafter wieder an meinen Vater, »war eine ziemlich heikle Angelegenheit (und vielleicht gerade deshalb nicht ohne Pikanterie). Vor geraumer Zeit machte Bergotte eine Reise nach Wien, während ich dort Botschafter war, wurde mir durch die Fürstin Metternich vorgestellt, schrieb sich ein und wünschte eingeladen zu werden. Als Auslandsvertreter Frankreichs, dem er alles in allem mit seinen Schriften Ehre gemacht hat, wenn auch nur in gewissem Grade, sagen wir, um genau zu sein, in recht mäßigem Grade, wäre ich über die ungünstige Meinung, die ich persönlich von seinem Privatleben habe, hinweggegangen. Aber er reiste nicht allein und beanspruchte obendrein, mit seiner Begleiterin eingeladen zu werden. Nun glaube ich nicht prüder zu sein als andere, und als Junggeselle konnte ich wohl auch die Türen der Gesandtschaft etwas weiter aufmachen, als wenn ich verheiratet und Familienvater gewesen wäre. Aber dennoch muß ich bekennen, es gibt einen Grad von sittlicher Haltlosigkeit, dem ich mich nicht anpassen kann und der noch peinlicher wird durch den mehr als moralischen, sagen wir gerade heraus, den moralisierenden Ton, den Bergotte in seinen Büchern anschlägt: da bekommt man ja immer wieder, noch dazu, unter uns, recht ermüdende Analysen von schmerzlichen Skrupeln, krankhaften Gewissensbissen über lauter Lappalien zu hören, ein recht billiges Tugendgeschwätz, und dabei zeigt sich der Verfasser in seinem Privatleben von geradezu zynischer Gewissenlosigkeit. Kurz, ich umging die Antwort, die Fürstin machte einen neuen Vorstoß, aber wieder ohne Erfolg. Wonach ich vermute, daß ich nicht grade im Geruch eines Engels bei dem Manne stehen mag, und ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er Swanns Aufmerksamkeit, ihn mit mir zusammen einzuladen, geschätzt hat. Es sei denn, daß er selbst darum gebeten hatte. Man kann es bei ihm nicht wissen, er ist im Grunde ein kranker Mensch. Das ist sogar das Einzige, was ihn entschuldigt.« »War die Tochter von Frau Swann bei dem Diner?« fragte ich Herrn von Norpois und benutzte zu dieser Frage den Augenblick, in dem man in den Salon ging und meine Erregung sich leichter verbergen konnte als bei Tisch, wo ich in vollem Licht stillsitzen mußte. Herr von Norpois schien einen Augenblick in seinem Gedächtnis zu suchen: »Ein junges Mädchen von vierzehn bis fünfzehn Jahren? Ja, jetzt erinnere ich mich, daß sie mir vor dem Essen als Tochter unseres Gastgebers vorgestellt wurde. Allerdings habe ich sie nur wenig gesehen, sie ist früh schlafen gegangen. Oder zu ihren Freundinnen, ich besinne mich nicht mehr genau. Aber ich sehe, Sie wissen gut Bescheid im Hause Swann.« »Ich spiele mit Fräulein Swann in den Champs-Élysées, sie ist entzückend.« »Schau, schau! Ich hatte in der Tat den Eindruck, daß sie reizend ist. Allerdings muß ich Ihnen bekennen, ich glaube nicht, daß sie je ihrer Mutter gleichkommen wird, wenn ich das sagen darf, ohne in Ihnen ein allzu lebhaftes Gefühl zu verletzen.« »Der Gesichtsbildung nach finde ich Fräulein Swann schöner, aber ich bewundere auch ihre Mutter außerordentlich, ich gehe im Bois spazieren einzig in der Hoffnung, sie vorbeifahren zu sehen.« »Das muß ich den Damen sagen, sie werden sehr geschmeichelt sein.« Während Herr von Norpois diese Worte sprach, wußte er noch einige Sekunden lang nicht mehr von mir als alle, die mich etwa von Swann als einem intelligenten Manne reden hörten, von seinen Eltern als ehrenwerten Wechselmaklern, von seinem Haus als einem schönen Hause, und glaubten, ich würde ebenso gern von einem anderen ebenso intelligenten Manne, anderen ebenso ehrenwerten Wechselmaklern und einem anderen ebenso schönen Hause sprechen; es ist der Augenblick, in dem ein geistig gesunder Mensch, der mit einem Verrückten sich unterhält, noch nicht gemerkt hat, daß es ein Verrückter ist. Herr von Norpois wußte, daß die Freude am Anblick hübscher Frauen natürlich, daß es, wenn jemand mit Wärme von einer dieser Frauen spricht, guter Ton ist, zu tun, als halte man ihn für verliebt, ihn damit zu necken, ihm zu versprechen, seine Absichten zu unterstützen. Als er aber sagte, er werde Gilberte und ihrer Mutter von mir sprechen (und das erweckte in mir die Hoffnung, wie eine olympische Gottheit, die das Fließende eines Hauchs, wie Minerva, die die Erscheinung des Greises annimmt, selbst unsichtbar in den Salon von Frau Swann einzudringen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ihre Gedanken zu beschäftigen, Dankbarkeit für meine Bewunderung zu wecken und ihr als Freund eines bedeutenden Mannes künftighin würdig zu erscheinen, bei ihr eingeladen zu werden und mit ihrer Familie in vertrauten Verkehr zu treten), – da flößte mir dieser bedeutende Mann, der sein Ansehen in den Augen von Frau Swann zu meinen Gunsten benutzen wollte, plötzlich eine solche Zärtlichkeit ein, daß ich mich nur mit knapper Not enthalten konnte, ihm seine weichen weißen, etwas zerknitterten Hände, die aussahen, als hätten sie zu lange in Wasser gelegen, zu küssen. Fast deutete ich skizzenhaft diese Gebärde an, meinte aber, dies nur allein zu bemerken. Es ist ja für jeden von uns schwer, genau zu berechnen, in welchem Grade sich seine Worte und Bewegungen anderen einprägen. Wir fürchten die eigene Wichtigkeit zu übertreiben, wir vergrößern bei uns bis ins Ungemessene das Feld, auf das sich die Erinnerungen der anderen im Lauf ihres Lebens erstrecken mögen, und bilden uns dann ein, das Zubehör unserer Reden und Haltungen könne kaum in das Bewußtsein derer, welche mit uns sprechen, dringen, geschweige denn in ihrem Gedächtnis haften bleiben. Eine derartige Vermutung veranlaßt die Verbrecher, nachträglich ein Wort zu retuschieren, das sie ausgesprochen haben und von dem sie nun annehmen, man könne die neue Variante mit keiner anderen Version konfrontieren. Und doch ist es wohl möglich, daß selbst für das tausendjährige Leben des Menschengeschlechtes die Weltanschauung des Feuilletonisten, nach der alles dem Vergessen ausgesetzt ist, weniger zutrifft als eine entgegengesetzte, welche die Erhaltung aller Dinge vorhersagt. In einer Zeitung, in welcher der Leitartikel-Philosoph von einem Ereignis, einem Meisterwerk oder, mit mehr Grund, von einer Sängerin, die »die Stunde ihres Ruhmes hat«, sagt: »Wer wird sich in zehn Jahren noch all dessen entsinnen?« – steht vielleicht auf der dritten Seite ein Bericht der Academie des Inscriptions über ein an sich wenig wichtiges Faktum, ein Gedicht von geringem Wert, das aus der Zeit der Pharaonen stammt und noch vollständig erhalten ist. Vielleicht ist es nicht ganz dasselbe im kurzen Menschenleben. Und doch überraschte mich ein Erlebnis, das ich ein paar Jahre später in einem Hause hatte, in dem Herr von Norpois zu Besuch war: ich meinte dort an ihm die beste Stütze zu haben, weil er meines Vaters Freund, nachsichtig, uns allen gegenüber zum Wohlwollen geneigt und überdies durch Herkunft und Beruf an Diskretion gewöhnt war. Als er aber fortgegangen war, erzählte man mir, er habe eine Anspielung gemacht auf eine frühere Gesellschaft, bei der er mich »drauf und dran gesehen habe, ihm die Hände zu küssen«; und ich wurde nicht nur rot bis über die Ohren, ich war auch ganz verblüfft, wie sehr die Art und Weise, in der er von mir gesprochen, und der ganze Aufbau seiner Erinnerungen von meinen Erwartungen abstach; dieser »Klatsch« klärte mich auf über die unerwarteten Proportionen, die im menschlichen Geiste Zerstreutheit und Geistesgegenwart, Erinnerung und Vergessen gewinnen: und ich war ebenso gewaltig überrascht wie an dem Tage, als ich zum ersten Male in einem Buch von Maspero las, daß man die genaue Liste der Jäger besitzt, die Assurbanipal zehn Jahrhunderte vor Christi Geburt zur Treibjagd eingeladen hat. »Ach, Herr von Norpois,« sagte ich, als er mir zu verstehen gab, er werde Gilberte und ihrer Mutter die Bewunderung mitteilen, die ich für beide hegte, »wenn Sie das täten, wenn Sie zu Frau Swann von mir sprächen, mein ganzes Leben würde nicht hinreichen, meine Dankbarkeit Ihnen zu beweisen, es würde Ihnen gehören, dieses Leben! Aber ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß ich Frau Swann nicht persönlich kenne und ihr nie vorgestellt worden bin.« Die letzten Worte hatte ich aus Gewissenhaftigkeit hinzugefügt, es sollte nicht so aussehen, als rühme ich mich einer Beziehung, die ich nicht besaß. Aber schon beim Aussprechen fühlte ich das Nutzlose meiner Worte, denn mit dem Beginn meiner Dankesergüsse, deren Glut offenbar abkühlend wirkte, sah ich ein verdrossenes Zögern über das Gesicht des Botschafters gehen und bemerkte in seinen Augen jenen vertikalen, schrägen, kargen Blick (Fluchtlinie einer stereometrischen Zeichnung), jenen Blick, der sich an den unsichtbaren Unterredner im eigenen Innern wendet im Moment, da man ihm etwas zu sagen hat, das der andere Unterredner, der Herr, mit dem man bisher sprach – im gegebenen Fall also ich – nicht vernehmen soll. Augenblicklich wurde mir klar: meine eben ausgesprochenen Worte, – so schwach im Vergleich mit dem Strom von Dankbarkeit, der mich überflutete, – die Herrn von Norpois rühren und endgültig zu einer Vermittlung bestimmen sollten, die ihm so wenig Mühe, mir so viel Freude gemacht hätte, waren vielleicht (unter allen, die Übelwollende teuflischerweise ausfindig machen konnten) die einzigen, die zu bewirken vermochten, daß er von dieser Vermittlung absah. Herr von Norpois hörte die Worte, und es erging ihm, wie es uns ergeht, wenn wir mit einem Unbekannten über Vorübergehende, die wir übereinstimmend banal finden, mit Behagen vermeintlich ähnliche Eindrücke austauschen und dieser Mensch uns mit einmal den pathologischen Abgrund zeigt, der ihn von uns trennt, indem er nach seiner Tasche tastend nachlässig äußert: »Zu schade, daß ich meinen Revolver nicht bei mir habe, es bliebe keiner von den Kerlen am Leben.« Obwohl Herr von Norpois wußte, daß nichts belangloser und leichter war als Frau Swann empfohlen und bei ihr eingeführt zu werden, sah er nun, daß dies für mich etwas sehr Wertvolles und somit ohne Zweifel Schwieriges bedeute. Da dachte er, daß hinter meinem anscheinend normalen Begehren ein Hintergedanke, eine verdächtige Absicht, ein früherer Verstoß sich verbergen müsse, derentwegen es bisher niemand hatte auf sich nehmen wollen, Frau Swann einen Auftrag von mir zu übermitteln – im sicheren Gefühl, damit nur Mißfallen bei ihr hervorzurufen. Und ich begriff, nie werde er diesen Auftrag ausrichten, jahrelang könne er Frau Swann täglich sehen, ohne ihr nur ein einziges Mal von mir zu sprechen. Indessen bat er sie einige Tage später um eine Auskunft, die ich gewünscht hatte, und beauftragte meinen Vater, mir diese zu übermitteln. Aber er hatte es nicht für nötig erachtet, Frau Swann zu sagen, für wen er die Auskunft erbat. Sie sollte also nicht erfahren, erstens, daß ich Herrn von Norpois kannte, und zweitens, daß ich so sehr wünschte, sie zu besuchen: und dies Unglück war vielleicht nicht so groß, als ich glaubte. Denn die zweite Mitteilung hätte vermutlich die so schon ungewisse Wirksamkeit der ersten nicht verstärkt. Für Odette hatte die Vorstellung ihres eigenen Lebens und ihrer Wohnung nichts geheimnisvoll Verwirrendes, und jemand, der sie kannte und besuchte, schien ihr kein Fabelwesen, wie er für mich es war, für mich, der ich einen Stein in die Fenster der Swann geworfen hätte, wenn ich darauf »ich kenne Herrn von Norpois« hätte schreiben können: war ich doch überzeugt, eine solche Botschaft, selbst auf derart brutale Weise übermittelt, würde mir in den Augen der Herrin des Hauses eher großes Ansehen geben als sie gegen mich verstimmen. Aber selbst wenn mir klar gewesen wäre, daß die Mission, deren sich Herr von Norpois nicht entledigte, auf alle Fälle nutzlos bliebe, ja, sogar bei den Swann mir schaden konnte, ich hätte nicht den Mut gehabt, falls der Botschafter sich entgegenkommend gezeigt hätte, ihn von dem Auftrag zu entbinden und auf die Wollust – so verhängnisvoll sie auch werden konnte – zu verzichten, daß mein Name und meine Person sich so einen Augenblick bei Gilberte in ihrem unbekannten Haus und unbekannten Leben einfänden. Als Herr von Norpois fort war, warf mein Vater einen Blick in die Abendzeitung; ich dachte wieder an die Berma. Die Freude, die ich gehabt hatte, sie zu hören, forderte eine Ergänzung, um so mehr, als sie bei weitem nicht der gleichkam, die ich mir versprochen hatte; so machte sie sich gleich alles zu eigen, was irgend imstande war, ihr Nahrung zu geben, zum Beispiel die Vorzüge, die Herr von Norpois der Künstlerin zuerkannte und die mein Geist gierig aufgesogen hatte wie eine ausgedörrte Wiese, auf die man Wasser gießt. Mein Vater reichte mir die Zeitung und zeigte mir eine Notiz, in der es hieß: ›Die Aufführung der Phèdre vor einem begeisterten Publikum, in dem man die hervorragendsten Vertreter der Kunstwelt und Kritik bemerkte, gab Frau Berma Gelegenheit zu einem Triumph, wie sie in ihrer ganzen glorreichen Laufbahn wohl kaum einen größeren davongetragen hat. Wir werden ausführlicher auf diese Vorstellung, die ein Ereignis im Theaterleben bedeutet, zurückkommen; hier sei nur gesagt, daß die kompetentesten Beurteiler übereinstimmend erklären, eine derartige Auffassung mache etwas ganz Neues aus Phèdre, einer der schönsten und bedeutendsten Rollen Racines, und sei die reinste, höchste künstlerische Manifestation, der man in unserer Zeit beiwohnen könne.‹ Kaum hatte mein Geist die neue Wendung ›reinste, höchste künstlerische Manifestation‹ erfaßt, so durchdrang sie die unvollkommene Freude, die ich im Theater gehabt, gab ihr ab von dem, was ihr fehlte, und aus ihrer Vereinigung kam etwas so Schwärmerisches zustande, daß ich ausrief: »Welch große Künstlerin!« Man wird sagen, ich sei nicht ganz aufrichtig gewesen. Aber man denke doch an all die Schriftsteller, die unzufrieden sind mit dem, was sie gerade geschrieben haben, nun lesen sie ein Lob auf den Genius Châteaubriands oder vergegenwärtigen sich irgend einen großen Künstler, dem sie zu gleichen wünschen, sie summen zum Beispiel eine Melodie von Beethoven vor sich hin, deren Schwermut sie vergleichen mit der, die sie in ihre Prosa legen wellten, sie erfüllen sich ganz mit der Idee des Genialen, fügen sie in Gedanken der eigenen Produktion ein, sehen diese nun anders als sie ihnen erst vorkam, und riskieren mit einem inneren ›Immerhin!‹ ein Bekenntnis zum Werte des eigenen Werkes, ohne zu merken, daß sie in das Gesamtgefühl, das ihre schließliche Zufriedenheit bestimmt, die Erinnerung an wunderbare Seiten Châteaubriands aufnehmen, die sie ihren eigenen assimilieren, aber doch nun einmal nicht geschrieben haben; man erinnere sich an all die Männer, die an die Gegenliebe einer Geliebten glauben, von der sie nichts als Verrat erleben; an alle, welche auf ein unfaßbares Weiterleben hoffen, ob sie nun als untröstliche Gatten an die verlorene, geliebte Frau, als Künstler an den möglichen künftigen Ruhm denken, oder aber auf ein sicheres Nichts, wenn ihr Bewußtsein sich Verfehlungen vergegenwärtigt, die sie nach ihrem Tode sonst abbüßen müßten; man denke auch an die Touristen, die begeistert vom Ganzen einer Reise sind, auf der sie Tag für Tag nur Verdruß gehabt haben; dann sage man, ob es bei dem Zusammenleben, wie es in unserm Innern die Vorstellungen führen, anders möglich ist, als daß auch die, die uns am meisten Glück schenkt, zuerst als rechter Schmarotzer von einer fremden Nachbarvorstellung den besten Teil der Kraft, die ihr selbst mangelte, entliehen hat.
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