Unter den Leuten, die diese Art Heirat lächerlich fanden, Leuten, welche im eignen Falle fragten: »Was wird Herr von Guermantes denken, was wird Bréauté sagen, wenn ich Fräulein von Montmorency heirate?«, unter den Leuten, die solchem sozialen Ideal anhingen, hätte sich zwanzig Jahre früher Swann selbst befunden, der es zu jener Zeit sich Mühe kosten ließ, in den Jockey-Klub aufgenommen zu werden, und damit rechnete, eine glänzende Partie zu machen, die durch eine Festigung seiner Stellung schließlich eine der bekanntesten Pariser Persönlichkeiten aus ihm gemacht hätte. Allein den Vorstellungen, die von einer solchen Heirat dem Betreffenden vorschweben, muß wie allen Wunschbildern, damit sie sich nicht auflösen und verschwimmen, von außen nachgeholfen werden. Mag es dein glühendster Traum sein, den Menschen, der dich beleidigt hat, zu demütigen; wenn du nie von ihm sprechen hörst, weil du längst in einem anderen Lande lebst, wird dein Feind dir schließlich ganz unwichtig werden. Wenn man im Verlauf von zwanzig Jahren alle Menschen aus dem Auge verloren hat, derentwegen man gern in den Jockey-Klub oder ins Institut de France gekommen wäre, hat die Aussicht, Mitglied des einen oder des anderen zu werden, nichts Verlockendes mehr. Nicht weniger als Zurückgezogenheit, Krankheit oder religiöse Bekehrung löst eine dauernde Liebschaft die alten Wunschbilder durch neue ab. Von Seiten Swanns war die Ehe mit Odette kein Verzicht auf gesellschaftliche Ambitionen, denn von denen hatte Odette schon längst im geistigen Sinne des Wortes ihn losgemacht. Und wäre das nicht geschehen, so wäre sein Verdienst nur um so größer gewesen. Im allgemeinen sind die entehrenden Heiraten, da mit ihnen eine mehr oder weniger schmeichelhafte Weltstellung rein privaten Annehmlichkeiten geopfert wird, die achtbarsten von allen. (Geldheiraten darf man dabei nicht zu den entehrenden rechnen; es gibt kein Beispiel eines Ehebündnisses, bei dem die Frau oder auch der Mann, die sich verkauft haben, nicht schließlich doch in der Gesellschaft empfangen wurden, sei es auch nur aus Tradition auf die Autorität früherer Fälle hin und um nicht zweierlei Maß und Gewicht anzuwenden.) Vielleicht wäre es Swann andererseits als Künstler oder gar aus einer Art Verderbtheit immerhin eine gewisse Wollust gewesen in einer der Kreuzungen, wie sie die Mendelisten ausführen und die Mythologie sie darstellt, mit einem Wesen anderer Rasse sich zu paaren, mit einer Erzherzogin oder einer Kokotte, und eine königliche Allianz oder eine Mesallianz zu schließen. Nur an ein Wesen auf der Welt dachte er mit Unruhe, so oft er die Möglichkeit einer Ehe mit Odette erwog: das war– ohne jeden Snobismus von seiner Seite – die Herzogin von Guermantes. Odette kümmerte sich wenig um diese, sie dachte nur an Leute, die gesellschaftlich unmittelbar über ihr standen, und nicht an die in unbestimmten höheren Regionen. Wenn aber Swann in träumerischen Stunden Odette seine Frau geworden sah, stellte er sich regelmäßig den Augenblick vor, in dem er sie und vor allem seine Tochter der Fürstin des Laumes, die bald durch den Tod ihres Schwiegervaters Herzogin von Guermantes werden sollte, zuführen würde. Sie anderswo vorzustellen, hatte er kein Verlangen, aber er wurde ganz gerührt, wenn er sich ausdachte und in Worten aussprach, was die Herzogin über ihn zu Odette und was Odette zu Frau von Guermantes sagen und wie diese Gilberte verwöhnen und ihn stolz auf seine Tochter machen würde. Er spielte sich selbst die Begrüßungsszene mit einer Genauigkeit in den fiktiven Einzelheiten vor, wie sie Leute haben, die nachgrübeln, auf welche Art sie ein erst noch zu gewinnendes Los, dessen Zahl sie willkürlich festsetzen, ausnützen würden. Soweit ein Wunschbild, das einen unserer Entschlüsse begleitet, als dessen Motiv anzusehen ist, kann man sagen, daß Swann Odette heiratete, um sie und Gilberte, ohne daß sonst jemand zugegen war, ja nötigenfalls, ohne daß es jemals bekannt würde, der Herzogin von Guermantes vorzustellen. Und diesem einzigen gesellschaftlichen Ehrgeiz, den Swann für Frau und Tochter hegte, sollte, wie man sehen wird, die Erfüllung versagt bleiben, und zwar durch ein so absolutes Veto, daß Swann starb, ohne vermuten zu können, die Herzogin werde die Seinen noch einmal kennen lernen. Nach seinem Tode jedoch befreundete sich, wie man ebenfalls sehen wird, die Herzogin mit Odette und Gilberte. Vielleicht wäre es weise von ihm gewesen – wenn anders er schon eine Kleinigkeit so wichtig nehmen konnte – sich in dieser Hinsicht keine düstern Vorstellungen von der Zukunft zu machen, sondern es ihr zu überlassen, die ersehnte Zusammenkunft herbeizuführen, wenn er, sich ihrer zu erfreuen, nicht mehr dasein werde. Die Kausalität, die schließlich fast alle möglichen Folgen heraufführt, auch die, von denen man es am wenigsten glaubte, arbeitet bisweilen langsam und wird durch unser Verlangen, das sie beschleunigen will und dadurch hemmt, ja schon durch unser bloßes Dasein noch mehr verlangsamt; sie kommt zum Ziel, wenn wir aufgehört haben, zu verlangen oder gar zu leben. Wußte Swann das nicht aus eigener Erfahrung? War seine Ehe nicht schon bei Lebzeiten eine Vorform dessen, was erst nach seinem Tode stattfinden sollte, ein posthumes Glück? Die Ehe mit dieser Odette, die er leidenschaftlich, wenn auch nicht auf den ersten Blick, geliebt hatte und dann heiratete, als er sie nicht mehr liebte, als das Wesen in ihm, das so verzweifelt und so sehnsüchtig das ganze Leben mit Odette zu leben begehrte, als dieses Wesen tot war?
Ich brachte die Rede auf den Grafen von Paris und fragte, ob er nicht ein Freund von Swann sei; ich wollte nicht, daß die Unterhaltung von Swann abkomme. »Ja, in der Tat«, antwortete Herr von Norpois und heftete auf meine bescheidene Person den blauen Blick, in dem wie in ihrem Lebenselement große Arbeitskraft, und geschickte Assimilationsfähigkeit sich regten. »Mein Gott,« wandte er sich dann wieder an meinen Vater, »ich glaube nicht, die Schranken des Respektes, den ich dem Prinzen schulde, zu durchbrechen (ohne deshalb persönliche Beziehungen zu ihm zu unterhalten, die meine Situation, so wenig offiziell sie ist, erschweren würden), wenn ich Ihnen einen pikanten Vorfall zitiere: Vor nicht mehr als vier Jahren hatte der Prinz auf einem kleinen Bahnhof eines der mitteleuropäischen Länder Gelegenheit, auf Frau Swann aufmerksam zu werden. Sicherlich hat sich aus seiner Umgebung niemand erlaubt, Seine Hoheit zu fragen, wie er die Dame gefunden habe. Das wäre nicht schicklich gewesen. Als aber im Laufe der Unterhaltung ihr Name fiel, gab der Prinz durch gewisse, wenn man will, kaum merkliche, ab er doch untrügliche Zeichen ziemlich deutlich zu verstehen, sein Eindruck sei im ganzen durchaus nicht ungünstig gewesen.«
»Aber es hätte wohl keine Möglichkeit bestanden, sie dem Grafen von Paris vorzustellen?« fragte mein Vater. »Nun, wissen kann man es nicht; man weiß nie bei Fürsten...« antwortete Herr von Norpois, »gerade die glänzendsten, die am selbstverständlichsten gebührende Distanzen betonen, kümmern sich bisweilen am wenigsten um die Satzungen der öffentlichen Meinung, mögen diese auch noch so berechtigt sein, sobald es sich darum handelt, bestimmte Beweise der Anhänglichkeit zu belohnen. Sicherlich hat der Graf von Paris die Ergebenheit Swanns (Geist hat dieser Swann ja) immer sehr wohl wollend aufgenommen.«
»Und Ihr eigner Eindruck, wie war der, Herr Botschafter?« fragte meine Mutter aus Höflichkeit und Neugier. Da antwortete Herr von Norpois im energischen Ton des alten Kenners, der die übliche Mäßigung seiner Ausdrucksweise beiseite läßt:
»Ganz ausgezeichnet!«
Und weil er wußte, das munter vorgebrachte Geständnis, von einer Frau einen starken Eindruck empfangen zu haben, gehöre zu den Wendungen, die als Belebung des Gesprächs besonders geschätzt werden, brach er in ein kleines Gelächter aus, das noch eine Weile dauerte, die blauen Augen des alten Diplomaten feuchtete und die mit roten Fäserchen geäderten Nasenflügel vibrieren ließ
»Sie ist ganz entzückend!«
»War ein Schriftsteller namens Bergotte bei dem Diner anwesend, Herr von Norpois?« fragte ich schüchtern in der Absicht, das Gespräch in Swanns Bereich festzuhalten.
»Ja, Bergotte war da.« Herr von Norpois neigte mit distinguierter Anteilnahme den Kopf nach meiner Seite, als messe er in dem Wunsche, gegen meinen Vater liebenswürdig zu sein, allem, was mit ihm zusammenhing, Wichtigkeit bei, selbst den Fragen eines Burschen in meinem Alter, der von Personen in seinem soviel Höflichkeit nicht gewohnt war.
»Kennen Sie ihn?« Er heftete auf mich den klaren Blick, dessen Schärfe Bismarck bewundert hatte.
»Mein Sohn kennt ihn nicht, bewundert ihn aber sehr,« sagte meine Mutter.
»Mein Gott, ich kann diese Bewunderung nicht teilen,« sagte Herr von Norpois (das flößte mir schwerere Zweifel an meiner Intelligenz ein als die, welche mich so schon quälten; ich sah: was ich himmelhoch über mich stellte, was ich für das Erhabenste auf der Welt hielt, stand für ihn auf der untersten Stufe seiner Bewunderung), »Bergotte ist, was ich einen Flötenbläser nenne; man muß immerhin anerkennen, daß er angenehm bläst, wenn auch recht manieriert und affektiert. Aber das ist auch alles; und das ist nicht viel. Nie findet sich in seinem muskellosen Werk das, was man Knochengerüst nennen könnte. Keine Handlung – oder so gut wie keine – vor allem aber keine Tragweite. Der Fehler seiner Bücher liegt in ihrer Basis, vielmehr sie haben überhaupt keine. In einer Zeit wie der unsern, da die anwachsende Gedrängtheit des Lebens kaum Zeit zum Lesen läßt, da die Karte Europas tiefgreifende Umgestaltungen erfahren hat und im Begriff ist, vielleicht noch viel größere zu erfahren, da soviel drohende neue Probleme überall auftauchen, hat man, das werden Sie mir zugeben, das Recht, von einem Schriftsteller etwas anderes zu verlangen als Schöngeisterei, die uns in müßigen, byzantinischen Diskussionen über rein formale Meriten vergessen läßt, daß wir von einem Augenblick zum anderen durch einen zwiefachen Barbarenansturm überrannt werden können, Barbaren von außen und Barbaren von innen. Ich weiß, es ist eine Blasphemie gegen die sakrosankte Schule, das l'art pour l'art, wie diese Herren es nennen, aber unsere Zeit stellt dringendere Aufgaben als die, harmonisch Worte aneinander zu fügen. Bergotte gibt sich bisweilen ziemlich verführerisch, das stelle ich nicht in Abrede, aber im ganzen ist das alles recht schwächlich, recht geringfügig, recht wenig männlich. Jetzt, da ich mich in Ihre durchaus übertriebene Bewunderung für Bergotte versetzen kann, begreife ich auch besser die Niederschrift, die Sie mir vorhin zeigten, und es wäre übelwollend von mir, nicht sanft darüber hinwegzugehen; Sie haben ja selber offen und ehrlich gesagt, es sei nur kindliches Gekritzel (das hatte ich in der Tat gesagt, aber ich glaubte kein Wort davon). Für jede Sünde gibt es Nachsicht, besonders für Jugendsünden. Schließlich hat mancher so etwas auf dem Gewissen, und Sie sind nicht der einzige, der sich einmal für einen Dichter gehalten hat. Aber in dem, was Sie mir gezeigt haben, spürt man den schlechten Einfluß von Bergotte. Es wird Sie nicht weiter wundernehmen, wenn ich Ihnen sage, daß keine seiner Qualitäten darin zu finden ist, da er es ja zum Meister in der nebenbei bemerkt ganz oberflächlichen Kunst eines gewissen Stils gebracht hat, zu welchem Sie in Ihrem Alter nicht einmal die Ansätze besitzen können. Aber es zeigt sich darin schon derselbe Fehler, der Widersinn, tönende Worte aneinander zu reihen und sich erst hinterdrein um den Inhalt zu kümmern. Das heißt, den Pflug vor die Ochsen spannen, was schließlich auch für Bergottes Bücher gilt. All diese formalen Chinoiserien, all die feinen Nuancen eines genießerischen Mandarin erscheinen mir recht eitel. Bei einem kleinen Feuerwerk, das ein Schriftsteller erfreulich abzubrennen versteht, ist man gleich mit »Meisterschaft« bei der Hand. So häufig sind die Meisterwerke nicht! Bergotte hat unter seinen Aktiven, in seinem literarischen Gepäck, wenn ich mich so ausdrücken darf, auch nicht einen Roman von höherem Schwung, keines der Bücher, denen man den besten Platz in seiner Bibliothek geben würde. Ich kann kein einziges in seinem ganzen Werk entdecken. Was nicht hindert, daß in seinem Falle das Werk den Autor turmhoch überragt. Bei ihm bekommt wieder einmal der geistvolle Mann recht, der behauptet hat, Schriftsteller dürfe man nur aus ihren Büchern kennen. Unmöglich, ein Individuum ausfindig zu machen, das weniger seinen Büchern entspricht als Bergotte, das prätentiöser, feierlicher und dabei schlechtere Gesellschaft wäre als er. Bald sehr gewöhnlich, und dann wieder redet er wie ein Buch, nicht einmal wie ein Buch von ihm, sondern wie ein langweiliges, was doch die seinen immerhin nicht sind, so wirkt dieser Bergotte. Der verworrensten Geister einer, der, was er zu sagen hat, nur unangenehmer macht durch die Art, in der er es vorbringt. Ich weiß nicht, ist es Lomenie oder Sainte-Beuve, der erzählt, daß Vigny durch die gleiche Verschrobenheit abstieß. Dafür hat Bergotte aber auch nicht Cinq-Mars geschrieben noch den Cachet rouge, worin sich Seiten finden, die wahre Perlen jeder Anthologie sind.«
Ich war ganz zerschmettert von dem, was mir Herr von Norpois über mein ihm unterbreitetes Fragment gesagt hatte, zugleich lag mir im Sinn, wie schwer es für mich war, einen Essay zu schreiben oder auch nur, mich zu ernstem Nachdenken zusammenzunehmen, und so fühlte ich meine Nichtigkeit wieder einmal und daß ich für die Literatur nicht geschaffen sei. Wohl hatten mich einstmals in Combray gewisse ganz bescheidene Eindrücke oder das Lesen in Bergotte in einen Traumzustand versetzt, der mir von großem Wert schien. Gerade diesen Zustand spiegelte mein Gedicht in Prosa wider; zweifellos hatte Herr von Norpois gleich erfaßt und aufgedeckt, was mir daran allein durch trügerische Spiegelung schön erschien, denn der Botschafter fiel nicht darauf herein. Hatte er mir doch eben erst klar gemacht, wie tief ich stand (wenn ich von außen, objektiv durch den wohlwollendsten und intelligentesten Kenner beurteilt wurde). Ich fühlte mich verwirrt, kam mir verkümmert vor; wie ein Fluidum, dessen Dimensionen nach dem Gefäß sich richten, das man ihm leiht, ging nun mein Geist, der sich ehedem ausdehnen durfte, um die unendlichen Weiten des Genius zu füllen, ganz in der engen Mittelmäßigkeit auf, in die ihn Herr von Norpois eingeschlossen, eingezwängt hatte.