E I N S-2

2015 Words
Plötzlich besorgt mich das eher. Ich bevorzuge es, wenn die Straßen mit Schnee und Eis überzogen sind, wenn sie für Fahrzeuge unpassierbar sind, denn die einzigen Menschen, die heutzutage Autos und Benzin haben, sind die Sklaventreiber – gnadenlose Kopfgeldjäger, die arbeiten, um die Arena Eins zu versorgen. Sie patrouillieren überall, suchen nach Überlebenden, kidnappen sie und bringen sie als Sklaven in die Arena. Dort, so habe ich es gehört, müssen sie dann zur Unterhaltung der Leute tödliche Kämpfe ausfechten. Bree und ich hatten Glück. In den Jahren hier oben haben wir keine Sklaventreiber gesehen – aber ich glaube, das liegt nur daran, dass wir so weit oben leben, so abgeschieden. Einmal habe ich den Motor eines Sklaventreibers aufheulen hören, in weiter Ferne, auf der anderen Seite des Flusses. Ich weiß, dass sie da unten sind, irgendwo, und patrouillieren. Und ich gehe kein Risiko ein – ich sorge dafür, dass wir nicht auffallen, wir verbrennen nur Holz, wenn es nötig ist, und ich passe immer genau auf Bree auf. Meistens nehme ich sie auch zur Jagd mit – ich hätte sie auch heute mitgenommen, aber sie ist zu krank. Ich wende mich wieder dem Plateau und dem kleineren See zu. Fest gefroren glänzt er in der Nachmittagssonne, scheint wie ein verlorener Juwel, versteckt hinter den Bäumen. Ich nähere mich dem See, gehe vorsichtig ein paar Schritte auf das Eis, um sicherzugehen, dass das Eis nicht bricht. Sobald ich sicher bin, gehe ich die nächsten Schritte. Ich finde eine Stelle, nehme die kleine Axt von meinem Gürtel und schlage zu, mehrmals. Ein Riss entsteht. Ich nehme mein Messer, knie mich hin und steche direkt ins Zentrum des Risses. Mit der Messerspitze arbeite ich so lange, bis ich ein kleines Loch gebohrt habe, gerade groß genug, dass ein Fisch hindurchpassen würde. Ich eile zurück ans Ufer, rutsche und schlittere wieder, dann klemme ich die Angelrute zwischen zwei Äste, wickle die Schnur an und renne zurück und lasse sie in das Loch sinken. Ich zupfe ein paar Mal daran, in der Hoffnung, dass das Glitzern des Metalls ein paar lebende Wesen unter dem Eis anziehen wird. Aber ich kann nichts gegen das Gefühl tun, dass es ein nutzloses Unterfangen ist, dass, was auch immer in diesen Bergseen gelebt hat, schon lange tot ist. Hier oben ist es sogar noch kälter. Ich kann nicht einfach hier stehen und die Angel anstarren. Ich muss mich bewegen. Ich gehe vom See weg, meine abergläubische Seite sagt mir, ich werde wahrscheinlich genau dann einen Fisch fangen, wenn ich nicht hinsehe. Ich laufe kleine Kreise um die Bäume herum, reibe mir die Hände, versuche, warm zu bleiben. Das hilft etwas. Da fällt mir das trockene Holz wieder ein. Ich sehe hinab und suche nach etwas, das sich anzünden ließe, aber es ist sinnlos. Der Boden ist mit Schnee bedeckt. Ich sehe in die Bäume hoch, aber auch die Stämme und Äste sind fast komplett mit Schnee bedeckt. Nur in der Ferne kann ich ein paar Bäume sehen, von denen der Wind den Schnee heruntergeweht hat. Ich mache mich auf den Weg und inspiziere die Borke, mit den Händen. Ich bin erleichtert, dass einige Zweige trocken sind. Ich nehme meine Axt heraus und hacke einen der größeren Zweige ab. Alles, was ich brauche, ist eine Armvoll Holz, und dieser Ast ist perfekt. Ich fange ihn auf, als er herunterfällt, damit er nicht im Schnee landet, lehne ihn gegen den Baumstamm und zerhacke ihn in zwei Hälften. Das mache ich wieder und wieder, bis ich einen kleinen Haufen Anzündmaterial zusammen habe, gerade so, dass ich ihn noch mit meinen Armen tragen kann. Ich setze mich in eine Nische zwischen den Ästen, trocken und geschützt vor dem Schnee unten. Ich sehe mich um und inspiziere die anderen Baumstämme. Als ich genauer hinsehe, fällt mir etwas auf. Ich nähere mich einem der Bäume, schaue noch genauer hin und stelle fest, dass die Borke anders ist als bei den anderen Bäumen. Ich sehe hoch und stelle fest, dass es keine Pinie ist, sondern ein Ahorn. Ich bin überrascht, so weit hier oben einen Ahorn zu finden, und noch überraschter, dass ich ihn tatsächlich erkenne. Tatsächlich ist ein Ahorn wahrscheinlich das Einzige in der freien Natur, das ich erkennen würde. Eine Erinnerung kommt zurück: Einmal, als ich klein war, hatte mein Vater sich in den Kopf gesetzt, mich nach draußen in die Natur zu bringen. Gott weiß warum, aber er nahm mich mit, um Ahorne anzuzapfen. Wir fuhren stundenlang in einen gottverlassenen Teil des Landes, ich trug einen Metalleimer, er ein Rohr, und dann verbrachten wir Stunden damit, die mit einem Führer Wälder zu durchwandern, auf der Suche nach dem perfekten Ahorn. Und ich erinnere mich an den Ausdruck von Enttäuschung in seinem Gesicht, als er den ersten Baum angezapft hatte, aber nur eine klare Flüssigkeit in unseren Eimer lief. Er hatte Sirup erwartet. Unser Führer lachte ihn aus und erklärte ihm, dass Ahorne keinen Sirup produzierten, sondern Saft. Der Saft musste erst zum Sirup eingekocht werden. Der Prozess dauerte Stunden, sagte er. Man brauchte über fünfzig Liter Saft, um einen Liter Sirup herzustellen. Mein Vater sah sich den überfließenden Eimer Saft in seiner Hand an und wurde rot, als ob jemand ihm schlechte Ware angedreht hätte. Er war der stolzeste Mann, den ich je getroffen hatte, und wenn er irgendetwas noch mehr hasste, als dumm dazustehen, war es, wenn man sich über ihn lustig machte. Als der Mann lachte, warf er seinen Eimer nach ihm, verpasste ihn knapp, er nahm meine Hand und wir stürmten davon. Danach nahm er mich nie wieder in die freie Natur mit. Mir machte das nichts aus – mir hatte der Ausflug tatsächlich gefallen, auch wenn er noch den ganzen Rückweg über stinksauer im Auto saß. Ich hatte es geschafft, eine kleine Tasse von dem Saft einzupacken, bevor er mich mitgenommen hatte, und ich erinnere mich noch daran, dass ich auf der Autofahrt zurück heimlich daran getrunken habe, als er nicht hinsah. Ich mochte den Saft, er schmeckte wie Zuckerwasser. Nun, wo ich hier vor diesem Baum stehe, erkenne ich ihn deshalb. Diese Sorte, so hoch oben, ist dünn und mager, und ich wäre überrascht, wenn der Baum überhaupt Saft hätte. Aber ich habe nichts zu verlieren. Ich nehme mein Messer heraus und steche in den Baum hinein, wieder und wieder an derselben Stelle. Dann bohre ich mit dem Messer tiefer und tiefer, hin und her, um das Loch zu erweitern. Ich denke nicht, dass wirklich etwas passieren wird. Demensprechend überrascht bin ich, als ein Tropfen Saft austritt. Ich nehme ihn mit dem Finger auf, berühre ihn und hebe ihn hoch. Ich fühle den Zuckerschock sofort und erkenne den Geschmack. Genau, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich kann es kaum glauben. Der Saft tritt jetzt schneller aus, und ich verliere viel davon, weil er den Stamm hinunterläuft. Verzweifelt sehe ich mich nach etwas um, um ihn einzufangen – ein Eimer oder etwas Ähnliches – aber da ist natürlich keiner. Dann fällt mir meine Thermoskanne wieder ein. Ich ziehe meine Plastikkanne aus meinem Taillenbund und leere ihn aus. Frisches Wasser kann ich immer bekommen, so lange so viel Schnee liegt – aber dieser Saft ist wertvoll. Ich halte die leere Thermoskanne gegen den Baum, wünschte, ich hätte ein vernünftiges Rohr. Ich schiebe das Plastik so dicht an den Stamm, wie ich kann, und schaffe es, viel aufzufangen. Die Kanne füllt sich langsamer, als ich es gerne hätte, aber innerhalb von ein paar Minuten habe ich immerhin die halbe Kanne voll. Der Saftstrom hört auf. Ich warte ein paar Sekunden, ob er noch einmal anfängt, aber das macht er nicht. Ich sehe mich um und sehe einen weiteren Ahorn in etwa drei Metern Entfernung. Ich eile hinüber, setze aufgeregt erneut mein Messer an und steche dies Mal hart zu, stelle mir schon vor, wie ich die Kanne ganz füllen kann, stelle mir die Überraschung auf Brees Gesicht vor, wenn sie ihn kostet. Vielleicht ist der Saft nicht nahrhaft, aber er wird sie sicher glücklich machen. Dieses Mal aber, als mein Messer auf den Stamm trifft, ertönt ein scharfes, splitterndes Geräusch, das ich nicht erwartet hatte, danach knirscht das Holz. Ich sehe, wie der ganze Baum sich beugt, und mir wird klar, zu spät, dass dieser Baum, bedeckt von einer Eisschicht, schon tot ist. Mein Messer war das letzte Bisschen, was er noch brauchte, um umzufallen. Einen Moment später stürzt der ganze Baum, mindestens sechs Meter hoch, um und kracht auf den Boden. Er wirbelt eine ungeheure Wolke aus Schnee und Kiefernnadeln auf. Ich krümme mich zusammen, weil ich Angst habe, dass ich jemanden auf mich aufmerksam gemacht haben könnte. Ich bin wütend auf mich selbst. Das war unvorsichtig und dumm. Ich hätte den Baum zuerst gründlicher untersuchen müssen. Einige Momente später jedoch normalisiert sich mein Herzschlag und mir wird klar, dass hier oben sonst niemand ist. Ich kann wieder klar denken und ich erkenne, dass Bäume im Wald ständig von alleine umfallen, daraus könnte man nicht schließen, dass da ein Mensch ist. Als ich auf den Platz schaue, wo bis eben noch der Baum gestanden hat, muss ich deshalb zwei Mal hinschauen, als ich etwas entdecke, so ungläubig bin ich. Da hinten in der Ferne, hinter ein paar weiteren Bäumen, direkt in den Berghang hineingebaut, steht ein kleines Steinhäuschen. Es ist winzig, perfekt quadratisch, etwa viereinhalb Meter breit und tief, etwa dreieinhalb Meter hoch, die Wände bestehen aus alten Steinblöcken. Ein kleiner Kamin erhebt sich über dem Dach, und in die Wände sind kleine Fenster eingebaut. Die Holztür, in Bogenform, ist angelehnt. Dieses kleine Häuschen ist so gut verdeckt, passt sich so perfekt in seine Umgebung ein, dass ich es sogar, während ich es schon anschaue, kaum ausmachen kann. Das Dach und die Wände sind mit Schnee bedeckt, und der freiliegende Stein passt sich perfekt an die Landschaft an. Das Häuschen sieht uralt aus, als wäre es vor Hunderten von Jahren gebaut worden. Ich habe keine Ahnung, warum es hier steht, wer es gebaut haben könnte oder warum. Vielleicht ein Mitarbeiter eines State Parks. Vielleicht ein Einsiedler oder ein Verrückter. Es sieht aus, als wäre jahrelang niemand dort gewesen. Ich sehe mir den Waldboden genau an, aber das sind weder menschliche Fußspuren noch Spuren von Tieren. Ich erinnere mich, dass der Schnee schon seit Tagen fällt, und rechne nach: Hier kann seit mindestens drei Tagen niemand hinein- oder hinausgegangen sein. Mein Herz pocht beim Gedanken daran, was in dem Häuschen sein könnte. Essen, Kleidung, Medizin, Waffen, Material – alles wäre ein Geschenk des Himmels. Vorsichtig bewege ich mich über die freie Fläche, sehe über meine Schulter nach, um sicherzugehen, dass mir niemand folgt. Ich bewege mich schneller, hinterlasse große und auffällige Spuren im Schnee. Als ich an der Tür ankomme, drehe ich mich noch einmal um, dann lausche ich einige Sekunden lang. Ich greife nach meiner Axt und schlage mit ihrem Stiel fest gegen die Tür, ein lautes und nachhallendes Geräusch, als letzte Warnung an alle Tiere, die vielleicht drinnen sein könnte. Keine Reaktion. Schnell schiebe ich die Tür auf, drücke den Schnee zurück und trete ein. Es ist dunkel hier drinnen, das einzige Licht ist der letzte Sonnenschein des Tages, der durch die kleinen Fenster eindringt, meine Augen brauchen einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Ich warte mit dem Rücken zur Tür, auf der Hut für den Fall, dass doch Tiere diesen Ort als Rückzugsraum nutzen. Aber nach einigen weiteren Sekunden haben meine Augen sich an das Schummerlicht gewöhnt und es ist klar, dass ich alleine bin. Als erstes fällt mir auf, dass es warm ist. Vielleicht, weil es so klein ist und die Decke niedrig, und weil es direkt in den Bergstein gebaut ist. Oder vielleicht, weil vor dem Wind geschützt ist. Sogar, obwohl das Wetter durch die Fenster eindringt, sogar, obwohl die Tür nur angelehnt ist, muss es hier drinnen mindestens fünfzehn Grad wärmer sein – viel wärmer, als es im Haus meines Vaters jemals war, sogar mit brennendem Feuer. Das Haus meines Vaters war von Anfang an billig gebaut worden, mit papierdünnen Wänden und einer Plastikfassade, an der Ecke eines Hügels, der immer direkt in der Windrichtung zu liegen schien.
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