Kapitel 9: Wölfe

1210 Words
Laurel bemerkte nicht, als ihr Körper plötzlich versagte. Es kam nicht selten vor, dass er sie in den unpassendsten Momenten im Stich ließ. Dennoch hatte sie keinen Grund, sich zu beschweren, denn dieser Körper hatte sie trotz aller Widrigkeiten am Leben gehalten. Der Tag war längst vergangen und die Nacht hatte mit ihrem dunklen Mantel die Stadt umhüllt. Der Park lag still und verlassen da, keine Lichter, keine Menschen in Sicht. Die Stille war beinahe bedrückend. Laurel hatte keine Uhr, um die genaue Zeit festzustellen, doch die Kälte und die unheimliche Stille verrieten ihr, dass es bereits sehr spät sein musste. Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. War es klüger, im Park zu bleiben, oder sich eine andere Unterkunft zu suchen, vorzugsweise einen Ort mit einem Dach über dem Kopf? Doch das würde Geld erfordern. Geld, das sie nicht besaß. Seufzend über ihre hilflose Lage lehnte sich Laurel auf der schmutzigen Bank zurück. Sie hatte die ungewöhnliche Atmosphäre des Parks nicht bemerkt, als sie hineingegangen war. Es schien, als sei dieser Ort seit Jahren nicht mehr betreten worden. Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte und keinen anderen Zufluchtsort wusste, begann Laurel, die kleinen Details um sich herum wahrzunehmen. Das Unkraut wuchs fast bis zu ihren Waden, die Bäume wirkten ungepflegt, ganz anders als in den meisten Parks. Die Schaukeln in der Ferne waren verrostet und seit langem unbenutzt, einige davon sogar kaputt. Sogar die Bank, auf der sie saß, war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Als sie mit dem Finger über die Oberfläche strich, blieb eine dicke Staubschicht auf ihrer Haut zurück. „Ist das wirklich eine gute Idee?“, murmelte Laurel zu sich selbst. Was würde passieren, wenn es in der Nacht zu regnen begann? Sie blickte zu dem Baum über ihrem Kopf auf und fragte sich, ob er stark genug wäre, um sie vor einem starken Regenguss zu schützen. Schließlich kannte sie die klimatischen Bedingungen in dieser Gegend nicht. Ein wenig fror sie bereits... Als eine weitere kalte Brise an ihr vorbeizog, öffnete Laurel ihre Reisetasche und zog einen Hoodie hervor. Es war Max' Hoodie, weich und d**k, genau richtig, um sie warmzuhalten. Kälte war ein ständiges Problem für Laurel, da sie dünn war und selten die nötige Nahrung bekam, die ihr Körper in ihrem Alter benötigte. Zumindest war das Wetter im Silberner Mond Rudel nicht so extrem. Solange sie sich im Haus aufhielt, musste sie sich keine großen Sorgen um die Kälte machen. Doch draußen, in der offenen Nacht, war das eine ganz andere Geschichte. Laurel zog die Kapuze über den Kopf, zog die Knie an und verschränkte die Arme, um sich zu einer engen Kugel zusammenzurollen. Es war so bequem, wie es unter den Umständen nur sein konnte. Gerade als Laurel dachte, dass es vielleicht gar nicht so schlimm wäre, die Nacht hier zu verbringen, hörte sie ein verdächtiges Rascheln. Es war kaum zu hören und schwer zu lokalisieren. Dennoch, so leise das Geräusch auch war, es war definitiv da, und es ließ Laurels Herz schneller schlagen. Ihr Körper versteifte sich vor Angst, und ihre Augen weiteten sich, während sie sich hektisch umsah, um die Quelle des Geräusches zu finden. Es war ein offener Ort, und überall könnten Gefahren lauern. Es war nicht abwegig zu denken, dass sie jederzeit angegriffen werden könnte. Nachdem sie eine Weile angestrengt in die Dunkelheit gestarrt hatte, schien das Geräusch verschwunden zu sein. Gerade als sie sich entspannen wollte, kehrte das Rascheln zurück, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. „Wer ist da?“ Laurels Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und sie zitterte leicht. Der Gedanke, hier zu sterben, ohne dass jemand es bemerkte oder sich darum kümmerte, ließ ihre Augen heiß werden. Sie könnte hier enden, und niemand würde es jemals erfahren. „Rrrrrrr...“ Laurel schrie auf und sprang reflexartig auf die Bank. Das tiefe Knurren kam direkt hinter ihr! Als sie sich umdrehte, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte von der Bank auf den harten Boden. Die kleinen Steine und was sonst noch darauf lag, bohrten sich schmerzhaft in ihren Körper. Doch sie hatte keine Zeit, den Schmerz zu registrieren, der durch ihren Körper schoss, denn ein übergroßer schwarzer Wolf, geschmückt mit den ungewöhnlichsten kleinen weißen Streifen, sprang direkt über die Bank. Laurel schrie vor Angst, im Bewusstsein, dass dies ihr letzter Tag auf dieser Welt sein würde. Panisch zog sie ihren Körper zusammen, vergrub ihr Gesicht in den Armen und drückte sich fest auf den Boden. Ihr Rücken war angespannt, bereit, den schmerzhaften Aufprall der Wolfskrallen auf ihrer Haut zu spüren. Es war vorbei. Es war das Ende. Nicht einmal einen ganzen Tag im Karmesinroter Mond Rudel, und sie würde bereits sterben. Es war eine Fehlentscheidung gewesen, im verlassenen Park zu bleiben. Aber ihre Umstände hatten ihr keinen Luxus wie ein Hotelzimmer erlaubt, und der Alpha, den sie treffen sollte, war nirgends zu finden. Am Ende war es ihr Schicksal, das sie an diesen Punkt geführt hatte. Vielleicht sollte es so sein, dass sie in einem fremden Land endete, an einem Ort, an dem niemand sich darum scheren würde, ihre Leiche zu finden und sie dem hungrigen Wolf als Nahrung zu überlassen. Laurels fest geschlossene Augen zitterten, als sie das Geräusch schwerer Pfoten auf dem Boden hörte. Der Boden erzitterte unter dem Aufprall, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Ein quiekendes Geräusch folgte, gefolgt von tiefem Knurren. Verwirrt öffnete Laurel leicht ihre Arme und schaute vorsichtig nach oben. Die Szene, die sich ihr bot, war furchteinflößend: Der übergroße Wolf mit den kleinen weißen Streifen stand nicht weit von ihr entfernt und starrte in die Ferne. Vor ihm befand sich ein weiterer Wolf, kleiner, aber wild, mit Narben, die seinen Körper übersäten. Beide Wölfe strahlten eine starke Präsenz aus, aber es war offensichtlich, dass der übergroße schwarze Wolf majestätisch und überlegen war, während der kleinere Wolf Mühe hatte, dem Blick des größeren standzuhalten. Die beiden standen sich in ihren verwandelten Zuständen gegenüber. Laurel erkannte ihre Chance und beschloss zu fliehen. Schließlich war Überleben der stärkste Instinkt. Trotz des Zitterns, das ihren Körper durchlief, musste sie es wagen. Egal wie schlecht das Leben gerade ist, es gibt nur eine Chance, dass es besser wird, wenn sie am Leben bleibt. Es gibt immer einen Weg zu überleben. Laurel griff nach ihrer Reisetasche und erhob sich zitternd. Doch im Moment, als sie einen Schritt machte, setzte sie den Fuß falsch auf, und ein Ast unter ihr knackte laut. Das Geräusch war wie das Spannen eines Gewehrabzugs. Die beiden Wölfe bewegten sich gleichzeitig. Laurel drehte sich reflexartig um und sah, wie der vernarbte Wolf auf sie zusprang. Der Schrei konnte nicht in ihrer Kehle gehalten werden. Das durchdringende Geräusch zerriss die nächtliche Stille. Laurel hatte solche Angst, dass ihr Körper beschloss, aufzugeben. Es gab keinen Ausweg mehr, keine Möglichkeit zu entkommen. Sie würde die Beute dieser beiden Wölfe werden, und nichts konnte sie mehr retten. Vielleicht hätte sie eine bessere Chance gehabt, wenn sie sich hätte verwandeln können, aber diese Option war für sie nicht mehr verfügbar, nachdem ihr Körper so zerbrechlich geworden war. Ihr Körper sackte zusammen wie ein Haufen Knochen und Haut. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie das Bewusstsein verlor, war ein ohrenbetäubendes Brüllen und das Stampfen schwerer Pfoten.
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