KAPITEL DREI
Während Riley Bill und Lucy über den Flur zu Merediths Büro folgte, versuchte sie herauszufinden, weshalb sie so unruhig war. Sie konnte nicht genau sagen, was sie so sehr beschäftigte.
Zum Teil war es das Gefühl, an das sie schon lange gewöhnt war – die vertraute Anspannung, die sie vor jedem neuen Fall spürte.
Aber da war noch etwas anderes mit dabei. Es war weder Angst, noch Vorahnung. Sie hatte in ihrer Karriere schon zu viele Fälle bearbeitet, um außerordentlich besorgt zu sein.
Es war etwas, das sie kaum erkannte.
Ist das Erleichterung? fragte Riley sich.
Ja, vielleicht war es das.
Die Zeremonie und der Empfang hatten sich so bizarr und unwirklich angefühlt und eine Reihe von widersprüchlichen Emotionen und Gedanken ausgelöst.
Zu Merediths Büro zu gehen, war vertraut … und es fühlte sich an wie eine Art von Flucht.
Aber eine Flucht wohin?
Zweifellos in eine vertraute Welt des Bösen und der Grausamkeit.
Riley spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen.
Was sagte das über sie aus, dass sie sich mit Grausamkeit und Bösem sicherer fühlte als mit Feiern und Lobreden?
Sie wollte der Frage nicht weiter nachgehen und versuchte das Gefühl abzuschütteln. Aber sie schaffte es nicht ganz.
Es schien, als würde sie sich in letzter Zeit immer unwohler in ihrer Haut fühlen.
Als Riley, Bill und Lucy das Büro betraten, stand ihr Chef neben seinem Schreibtisch.
Noch jemand war dort – eine junge afroamerikanische Frau mit kurzen, glatten Haaren und großen, intensiven Augen. Sie stand auf als Riley und ihre Kollegen eintraten.
Meredith sagte, "Agenten Paige, Jeffreys und Vargas, ich möchte Ihnen die Spezialagentin Jennifer Roston vorstellen."
Riley sah zu der Frau, mit der sie kurz nach der Lösung des "Streichholzbrief-Killer" Falls am Telefon gesprochen hatte. Jennifer Roston war nicht groß, aber sie sah sehr athletisch und kompetent aus. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte, dass sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst war.
Roston schüttelte jedem von ihnen die Hand.
"Ich habe viel Gutes von Ihnen gehört", sagte Lucy.
"Sie haben einige Rekorde an der Akademie geknackt", sagte Bill.
Riley hatte auch Gutes von Agentin Roston gehört. Sie hatte bereits einen sehr guten Ruf und ausgezeichnete Belobigungen.
"Es ist mir eine Ehre, Sie alle kennenzulernen", sagte Roston mit einem aufrichtigen Lächeln. Dann, Riley direkt in die Augen sehend, fügte sie hinzu, "Vor allem Sie, Agentin Paige. Es ist schön sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen."
Riley war geschmeichelt. Sie spürte außerdem eine leichte, nagende Besorgnis.
Während sie alle Platz nahmen, fragte Riley sich, weshalb Roston wohl heute hier war. Wollte Meredith, dass sie alle gemeinsam an einem Fall arbeiteten?
Der Gedanke machte Riley ein wenig nervös. Sie, Bill und Lucy hatten eine gute Verbindung aufgebaut, waren ein scheinbar fehlerlos arbeitender Apparat. Würde ein zusätzliches Mitglied ihr kleines Team aus dem Takt bringen, zumindest zeitweise?
Meredith beantwortete ihre Frage. "Ich wollte, dass Sie drei Agentin Roston kennenlernen, da ich sie auf den Shane Hatcher Fall angesetzt habe. Der Bastard ist schon viel zu lange auf freiem Fuß. Die Führungsetage hat entschieden, dass sie ihn zu einer Priorität machen. Es ist an der Zeit ihn festzusetzen und wir brauchen ein Paar frischer Augen."
Riley zuckte innerlich zusammen.
Sie wusste bereits, dass Roston am Hatcher Fall arbeitete. Tatsächlich hatten sie ihn bereits am Telefon diskutiert. Roston hatte um Zugang zu ihren Dateien bezüglich Shane Hatcher gebeten und Riley hatte ihn ihr gewährt.
Aber worum ging es hier jetzt wirklich?
Sicherlich hatte Meredith sie nicht alle zusammengebracht, um gemeinsam an dem Hatcher Fall zu arbeiten. Sie war sich nicht sicher, wie viel Meredith über ihre Beziehung zu Hatcher wusste. Sie wäre bereits verhaftet worden, wenn ihr Chef wüsste, dass sie den entflohenen Mörder hatte gehen lassen, weil er ihr geholfen hatte.
Sie wusste sehr genau, dass Hatcher sich wahrscheinlich gerade jetzt in der Hütte versteckte, die Riley von ihrem Vater geerbt hatte – mit Rileys vollem Wissen und Einverständnis.
Wie sollte sie jemals vorgeben können, versucht zu haben, ihn zur Gerechtigkeit zu bringen.
Bill fragte Roston, "Wie läuft es bisher?"
Roston lächelte.
"Oh, ich fange gerade erst an – bis jetzt bin ich noch mit der Recherche beschäftigt."
Dann, mit einem Blick zu Riley, sagte Roston, "Vielen Dank für den Zugang zu den Dateien."
"Ich freue mich, wenn ich helfen kann", sagte Riley.
Roston verengte leicht ihre Augen und ihr Gesicht nahm einen neugierigen Ausdruck an.
"Oh, sie waren eine große Hilfe", sagte sie. "Sie haben viele Informationen zusammengetragen. Auch wenn ich überrascht war, nicht mehr über Hatchers Finanzen zu finden."
Riley unterdrückte ein Schaudern, als sie sich daran erinnerte, dass sie etwas Unüberlegtes getan hatte.
Vor der Zugangsfreigabe für Roston zu ihren Dateien, hatte sie eine mit dem Titel "GEDANKEN" gelöscht – eine Datei, die nicht nur Rileys persönliche Gedanken und Beobachtungen über Hatcher enthielt, sondern auch finanzielle Informationen, die vermutlich zu Hatchers Verhaftung geführt hätten. Oder zumindest dafür gesorgt hätten, dass seine finanziellen Ressourcen abgeschnitten wurden.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, schoss es Riley durch den Kopf.
Aber es war geschehen und konnte nicht rückgängig gemacht werden, selbst wenn sie es wollte.
Riley fühlte sich jetzt eindeutig unwohl unter Rostons Blick.
"Er ist schwer zu fassen", sagte Riley zu Roston.
"Ja, das habe ich gemerkt", sagte Roston.
Rostons Blick blieb auf Riley fixiert.
Rileys Unbehagen wuchs.
Weiß sie bereits etwas? fragte Riley sich.
Dann sagte Meredith, "Das ist vorerst alles, Agentin Roston. Ich habe noch etwas mit Paige, Jeffreys und Vargas zu diskutieren."
Roston stand auf und verabschiedete sich höflich.
Sobald sie das Büro verlassen hatte, sagte Meredith, "Es sieht aus, als hätten wir einen neuen Serienmörderfall in Südkalifornien. Jemand hat drei Ausbildungsoffiziere in Fort Nash Mowat ermordet. Sie wurden alle von einem erfahrenen Scharfschützen aus langer Distanz erschossen. Das neueste Opfer wurde heute Morgen gefunden."
Riley war interessiert, aber auch ein wenig überrascht.
"Ist das nicht eher ein Fall für die Militärstrafverfolgungsbehörde?", fragte sie. Sie wusste, dass die CID normalerweise Verbrechen aufklärte, die innerhalb der US Armee begangen wurden.
Meredith nickte.
"Die CID arbeitet bereits daran", sagte er. "Sie haben eine Außenstelle in Fort Mowat, also sind sie vor Ort. Aber wie Sie wissen, leitet Provost Marshal General Boyle die CID. Er hat mich vor kurzem angerufen, um das FBI um Mithilfe zu bitten. Es sieht aus, als würde es ein besonders unschöner Fall werden, insbesondere mit all der negativen Presse. Davon wird es eine Menge geben und auch politischen Druck. Je eher der Fall gelöst wird, desto besser für alle Beteiligten."
Riley fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee war. Sie hatte noch nie gehört, dass das FBI und die CID gemeinsam an einem Fall arbeiteten. Sie befürchtete, dass sie sich gegenseitig auf die Zehen treten würden und dadurch mehr Unheil anrichten als Gutes tun.
Aber sie erhob keine Einsprüche. Es war nicht ihre Entscheidung.
"Also, wann geht es los?", fragte Bill.
"So schnell wie möglich", sagte Meredith. "Haben Sie ihre Taschen griffbereit?"
"Nein", sagte Riley. "Ich befürchte, so schnell hatte ich nicht damit gerechnet."
"Dann sobald Sie Ihre Sachen gepackt haben."
Riley spürte einen plötzlichen Stich.
Jillys Stück ist heute Abend! dachte sie.
Wenn Riley jetzt losfuhr, dann würde sie es verpassen.
"Chief Meredith––", begann sie.
"Ja, Agentin Paige?"
Riley hielt inne. Schließlich hatte das FBI ihr gerade eine Auszeichnung und eine Gehaltserhöhung gegeben. Wie konnte sie da jetzt einen Rückzieher machen?
Befehl ist Befehl, sagte sie sich streng.
Sie konnte nichts daran ändern.
"Nichts", sagte sie.
"Na dann", sagte Meredith und erhob sich. "Machen Sie sich auf den Weg. Und lösen sie den Fall so schnell wie möglich. Die nächsten warten schon."