KAPITEL EINS

1844 Words
KAPITEL EINS Riley Page sah aus dem offenen Fenster ihres Stadthauses. Es war ein angenehmer Frühlingstag, einer dieser Tage mit singenden Vögeln und blühenden Blumen. Die Luft roch klar und frisch. Und doch zog eine lauernde Dunkelheit an ihr. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass all diese Schönheit schrecklich zerbrechlich war. Deshalb hielt sie ihre Hände locker an ihrer Seite, als wäre sie in einem Porzellanladen und eine einzige falsche Bewegung könnte etwas Schönes und Teures zerbrechen. Oder vielleicht war dieser perfekte Nachmittag nur eine hauchdünne Illusion, die bei der kleinsten Berührung zerfallen würde, um zu enthüllen … Was? fragte Riley sich. Dass die Dunkelheit eine Welt voll Schmerz und Angst und Bösem war? Oder dass die Dunkelheit in ihrem eigenen Verstand existierte – eine Dunkelheit von zu vielen hässlichen Gedanken und Geheimnissen? Eine Mädchenstimme unterbrach ihre Gedanken. "Woran denkst du, Mom?" Riley drehte sich um. Ihr wurde klar, dass sie für einen Moment die anderen Menschen in ihrem Wohnzimmer vergessen hatte. Jilly hatte sie angesprochen, das schlaksige dreizehn Jahre alte Mädchen, das Riley gerade versuchte zu adoptieren. "Nichts Besonderes", erwiderte Riley. Ihr gut aussehender ehemaliger Nachbar Blaine Hildreth lächelte sie an. "Du schienst auf jeden Fall weit weg zu sein", sagte er. Blaine war gerade mit seiner Tochter Crystal angekommen. Riley sagte, "Ich nehme an, ich habe mich gefragt, wo April ist." Es bereitete ihr Sorgen. Rileys fünfzehnjährige Tochter war noch nicht von der Schule nach Hause gekommen. Wusste April nicht, dass sie bald zum Abendessen in Blaines Restaurant gehen wollten? Crystal und Jilly grinsten sich schelmisch an. "Oh, sie wird bald hier sein", sagte Jilly. "Ich wette, sie kommt jede Minute", fügte Crystal hinzu. Riley fragte sich, ob die Mädchen etwas wussten, das ihr entgangen war. Sie hoffte, dass April nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte. April hatte eine rebellische Phase durchgemacht und vor einigen Monaten fürchterliche Traumata durchlebt. Aber es schien ihr jetzt viel besser zu gehen. Dann sah Riley die anderen an und fühlte einen schuldigen Stich. "Blaine, Crystal – ich habe euch noch gar nichts zu Trinken angeboten! Ich habe Ginger Ale da. Und einen Bourbon, wenn du magst, Blaine." "Ginger Ale wäre nett, danke", sagte Blaine. "Für mich auch bitte", sagte Crystal. Jilly schickte sich an, von ihrem Stuhl aufzustehen. "Ich hole welches", sagte Jilly. "Oh, nein, lieb von dir", sagte Riley. "Aber ich mache das schon." Riley ging direkt in die Küche, froh etwas zu tun zu haben. Erfrischungen zu servieren wäre normalerweise Gabrielas Aufgabe, Rileys Haushälterin aus Guatemala. Aber Gabriela hatte frei und besuchte Freunde. Gabriela gab Riley manchmal das Gefühl, verwöhnt zu sein und es war eine nette Abwechslung, einmal selber für Getränke zu sorgen. Es hielt Rileys Gedanken außerdem in der Gegenwart. Sie goss Ginger Ale ein, nicht nur für Crystal und Blaine, auch für sich und Jilly. Als sie das Tablett mit den Gläsern zurück ins Wohnzimmer trug, hörte Riley, wie sich die Haustür öffnete. Dann hörte sie Aprils Stimme, die mit jemandem sprach, den sie mitgebracht hatte. Riley reichte gerade ihren Gästen die Getränke, als April, gefolgt von einem Jungen in ihrem Alter, hereinkam. Sie sah überrascht zu Blaine und Crystal. "Oh!" keuchte April. "Ich habe nicht erwartet––" Dann wurde sie puterrot. "Oh mein Gott, das habe ich vollkommen vergessen! Wir gehen heute aus! Es tut mir so leid!" Jilly und Crystal kicherten. Jetzt verstand Riley ihre Belustigung. Sie wussten bereits, dass April einen neuen Freund hatte und zu beschäftigt mit ihm war, als dass sich sie an das Abendessen erinnert hätte. Ich weiß noch, wie das war, dachte Riley, als sie sich ein wenig wehmütig an ihre eigenen Schwärme als Teenager erinnerte. Erfreut, dass April ihn mitgebracht hatte um ihn vorzustellen, unterzog Riley den Jungen einer schnellen Beurteilung. Sie mochte sofort, was sie sah. Wie April, war er groß, schlaksig, und sah recht ungelenk aus. Er hatte leuchtend rote Haare, Sommersprossen, funkelnde blaue Augen und ein nettes Lächeln. April sagte, "Mom, das ist Liam Schweppe. Liam, das ist meine Mom." Liam bot Riley seine Hand an. "Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Paige", sagte er. Seine Stimme hatte das amüsante Quietschen eines Teenagers, das Riley ein Lächeln entlockte. "Du kannst mich Riley nennen", sagte sie. April sagte, "Mom, Liam ist––" April hielt inne, offensichtlich noch nicht bereit zu sagen "mein neuer Freund." Stattdessen sagte sie, "Er ist der Kapitän des Highschool Schachteams." Rileys Belustigung wuchs mit jeder Minute. "Ich nehme also an, du bringst April das Schachspielen bei", sagte sie. "Ich versuche es", sagte Liam. Riley konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Sie war eine recht passable Schachspielerin und sie hatte jahrelang versucht, Aprils Interesse an dem Spiel zu wecken. Aber April hatte immer nur mit den Augen gerollt und Schach für zu uncool gehalten – eine "Mom-Sache" die sie auf keinen Fall interessieren würde. Ihre Einstellung schien sich geändert zu haben, jetzt, wo ein niedlicher Junge mit von der Partie war. Riley lud Liam ein, sich zu den anderen zu setzen. Sie sagte zu ihm, "Ich würde dir etwas zu trinken anbieten, aber wir wollten gerade aufbrechen, um zum Abendessen zu gehen." "Das Abendessen, das April total vergessen hat", sagte Liam, während sein Grinsen ein wenig breiter wurde. "Das stimmt", sagte Riley. "Warum kommst du nicht mit?" Aprils Wangen wurden noch röter. "Oh, Mom …" fing sie an. "'Oh, Mom' was?", fragte Riley. "Ich bin sicher, dass Liam schon was anderes vorhat", sagte April. Riley lachte. Sie bewegte sich offenbar wieder in dem 'uncoole Mom' Bereich. April war bereit gewesen Liam vorzustellen, aber ein Familienessen ging dann doch zu weit. "Was meinst du, Liam?", fragte Riley. "Klingt super, danke", sagte Liam. "Wo gehen wir hin?" "Blaine's Grill", sagte Riley. Liams Augen leuchteten auf. "Oh, wow! Ich habe tolle Sachen von dem Laden gehört!" Jetzt war es an Blaine Hildreth zu grinsen. "Danke", sagte er zu Liam. "Ich bin Blaine. Mir gehört das Restaurant." Liam lachte. "Cooler und cooler!", sagte er. "Dann kommt, lasst uns gehen", sagte Riley. * Kurze Zeit später genoss Riley ein köstliches Abendessen mit April, Jilly, Blaine, Crystal und Liam. Sie saßen auf der Terrasse von Blaine's Grill und erfreuten sich an herrlichem Wetter und tollem Essen. Riley sprach mit Liam über Schach und diskutierte einige Spieltaktiken. Sie war von seinem Wissen über das Spiel beeindruckt. Sie fragte sich, wie sie sich wohl in einer Partie mit ihm schlagen würde. Vermutlich würde sie verlieren. Sie war zwar eine gute Spielerin, aber er war bereits Kapitän des Schachteams, obwohl er erst in seinem zweiten Jahr an der Highschool war. Außerdem hatte sie in letzter Zeit nur wenig Gelegenheit zum Spielen gehabt. Er muss wirklich gut sein, dachte sie. Der Gedanke freute sie sehr. Riley wusste, dass April schlauer war, als sie selber dachte und es war gut, dass sie einen Freund hatte, der sie intellektuell fordern konnte. Während sie und Liam sich unterhielten, fragte Riley sich, was wohl aus April und ihm werden würde. Es waren nur noch zwei Monate bis zum Ende des Schuljahres. Würden sie über den Sommer das Interesse aneinander verlieren? Riley hoffte, dass das nicht der Fall sein würde. "Was hast du für den Sommer geplant, Liam?", fragte Riley. "Ich gehe zum Schach-Camp", sagte Liam. "Tatsächlich bin ich dort Junior Coach. Ich habe versucht, April zu überreden mitzukommen." Riley sah zu April. "Warum gehst du nicht mit, April?", fragte sie. April wurde wieder rot. "Ich weiß nicht", sagte sie. "Ich dachte eigentlich an ein Fußball-Camp. Das wäre vielleicht eher was für mich. Das Schach-Camp ist wahrscheinlich zu hoch für mich." "Nein, absolut nicht!", sagte Liam. "Da sind Spieler auf jedem Niveau – auch einige, die gerade erst anfangen das Spiel zu lernen, so wie du. Und es ist direkt hier in Fredericksburg, also müsstest du nicht mal von zu Hause weg." "Ich denke darüber nach", sagte April. "Erst mal muss ich mich auf meine Noten konzentrieren." Riley war froh, dass Liam April nicht von der Schule abzulenken schien. Trotzdem wünschte Riley sich, April würde mit zu diesem Schach-Camp gehen. Aber sie wusste, dass sie nicht drängen durfte. Das würde es vermutlich wieder in eine 'uncoole Mom'-Sache verwandeln. Es war besser, es Liam zu überlassen, sie zu überreden. In jedem Fall war Riley froh, April so glücklich zu sehen. Mit ihren dunklen Haaren und braunen Augen sah April manchmal erstaunlich erwachsen aus. Riley erinnerte sich, dass sie Aprils Namen ausgewählt hatte, weil es ihr Lieblingsmonat war. Und Tage wie dieser machten ihn dazu. Blaine sah von seinem Essen auf. Er sagte, "Also, erzähl uns von dieser Auszeichnung, die du morgen bekommst, Riley." Jetzt war es an Riley, ein wenig rot zu werden. "Das ist keine große Sache", sagte sie. Jilly protestierte lautstark. "Und ob das eine große Sache ist!", rief sie. "Es ist die Beharrlichkeitsauszeichnung und sie bekommt sie, weil sie diesen alten Fall gelöst hat. Der Boss vom ganzen FBI wird ihn ihr geben." Blaines Augen wurden groß. "Du meinst Direktor Milner selbst?", fragte er. Riley war jetzt wirklich peinlich berührt und lachte unsicher auf. "Das ist nicht so beeindruckend, wie es klingt", sagte sie. "Es ist schließlich keine große Reise für ihn, nach Quantico zu kommen. Er arbeitet gleich hier von DC aus, wisst ihr." Blaines Mund blieb vor Bewunderung offen stehen. Jilly sagte, "Blaine, April und ich haben freibekommen, damit wir sehen können, wie sie die Auszeichnung bekommt. Du und Crystal solltet auch kommen." Blaine und Crystal sagten beide, dass sie gerne dabei wären. "Okay", sagte Riley, die immer noch ein wenig beschämt war. "Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht. Wie auch immer, das ist nicht das größte Ereignis morgen. Jilly ist der Star des Schultheaterstücks morgen Abend. Das ist viel wichtiger." Jetzt wurde Jilly rot. "Ich bin nicht der Star, Mom", sagte sie. Riley lachte bei Jillys plötzlicher Bescheidenheit. "Du spielst eine der Titelrollen! Du bist Persephone – in einem Stück, das Demeter und Persephone heißt. Warum erzählst du uns nicht die Geschichte?" Jilly fing an die Geschichte des griechischen Mythos zu erzählen – erst noch schüchtern, aber bald mit mehr Enthusiasmus. Riley schaute ihr erfreut zu. Eines ihrer Mädchen lernte Schach zu spielen, die andere war von griechischer Mythologie begeistert. Es scheint doch besser zu werden, dachte sie. Ihre Anstrengungen was Ehe und Familie anging, waren bisher recht holprige Ergebnisse geliefert. Sie hatte kürzlich einen schweren Fehler gemacht, indem sie ihrem Exmann, Ryan, erlaubt hatte, wieder in ihr Leben und das der Mädchen zu kommen. Ryan hatte sich als so unfähig wie zuvor erwiesen, Verantwortung zu übernehmen. Aber jetzt? Riley sah zu Blaine und stellte fest, dass er sie bereits ansah. Er lächelte und sie erwiderte das Lächeln. Da war definitiv ein Funke zwischen ihnen. Sie hatten bei ihrem Date im letzten Monat getanzt und sich geküsst – ihr einziges Date bisher. Aber Riley wand sich innerlich, als sie sich daran erinnerte, wie peinlich es geendet hatte – mit ihrer Flucht in einen neuen Fall. Blaine schien ihr vergeben zu haben. Aber wo würde es mit ihnen hinführen? Wieder stieg die lauernde Dunkelheit in Riley auf. Früher oder später könnte diese Illusion von Familie und Freundschaft der Realität des Bösen weichen – Mord und Grausamkeit und menschliche Monster. Und sie hatte ein Gefühl, tief in sich, dass das eher früher als später geschehen würde.
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