KAPITEL EINS
Der Gang vor ihr war lang und dunkel. Selbst mit Taschenlampe konnte Keri nur ein paar Meter weit sehen. Ein Gefühl der Angst machte sich in ihr breit, aber sie ging unbeirrt weiter, Schritt für Schritt. Eine Hand umklammerte die Taschenlampe, in der anderen hielt sie ihre Waffe. Schließlich erreichte sie die Kellertür. Sie war sich sicher, dass sie endlich den richtigen Ort gefunden hatte. Hier hatte man ihre kleine Evie festgehalten.
Keri stieß die Tür auf und betrat die erste knarrende Stufe. Hier war die Dunkelheit noch überwältigender als im Gang. Während sie langsam die Treppe herunter ging, fiel ihr wieder auf, wie selten ein Haus mit Keller mitten in Südkalifornien ist. Dieses ist das erste, das sie je betreten hat. Plötzlich hörte sie etwas.
Es klang wie ein weinendes Kind - ein Mädchen, vielleicht acht Jahre alt. Keri rief nach ihr und die Stimme rief zurück.
„Mama!“
„Ganz ruhig, Evie, Mama ist hier!“, schrie sie und eilte die Stufen hinunter. Doch sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht.
Gerade als ihr Fuß an einer der Stufen hängen blieb und sie ins düstere Nichts stürzte, fiel ihr auf, was es war. Evie war seit fünf Jahren verschwunden. Wie konnte sie immer noch genauso klingen wie damals?
Es war zu spät. Sie wedelte mit den Armen in der Luft und suchte verzweifelt nach Halt. Gleich würde sie auf den Boden aufschlagen. Doch das geschah nicht. Voller Schrecken stellte sie fest, dass sie in eine scheinbar bodenlose Grube fiel. Die Luft wurde kälter. Das Heulen wurde lauter. Sie hatte ihre Tochter auch diesmal nicht retten können.
Keri schreckte aus dem Schlaf auf. Sie saß in ihrem Auto und blickte sich orientierungslos um. Sie fiel nicht in diese endlose Grube. Und sie war auch nicht in dem düsteren Kellerloch. Sie saß in ihrem heruntergekommenen Toyota Prius auf den Parkplatz vor der Polizeiwache, wo sie während des Mittagessens eingeschlafen war.
Die kühle Luft kam durch das offene Fenster, das Heulen ertönte aus den Sirenen eines Polizeiautos, das gerade zu einem Einsatz losbrauste. Sie war schweißnass und ihr Herz klopfte wild. Es war nur ein Alptraum. Ein weiterer schrecklicher, hoffnungsloser Alptraum. Von ihrer Tochter Evelyn gab es nach wie vor keine Spur.
Keri schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Dann stieg sie aus dem Wagen und ging geradewegs in das Polizeigebäude. Sie war nicht mehr nur eine besorgte Mutter. Sie war ein Detective der LAPD, zuständig für Vermisste Personen.
Ihre Verletzungen zwangen sie, langsam zu gehen. Ihre letzte Begegnung mit einem gewalttätigen Kindesentführer war gerade zwei Wochen her. Pachanga, der Verbrecher, hatte wenigstens bekommen, was er verdient hat, nachdem Keri die Tochter eines US Senators aus seinen Fängen befreit hatte. Dieser Gedanke machte die stechenden Schmerzen, die sie immer noch quälten, ein wenig erträglicher.
Die Ärzte hatten ihr vor ein paar Tagen erlaubt, den Gesichtsschutz abzunehmen, nachdem sie sichergestellt hatten, dass ihr gebrochener Wangenknochen wie erwartet zu heilen begann. Ihr Arm lag immer noch in einer Schlinge, weil Pachanga auch ihr Schlüsselbein gebrochen hatte. Sie sollte sie noch mindestens eine Woche tragen, aber Keri spielte mit dem Gedanken, die beengende Schlinge einfach zum Teufel zu jagen. Ihre gebrochenen Rippen konnten nicht behandelt werden, daher trug Keri eine gewöhnliche Schutzweste unter dem Hemd. Auch die Weste störte Keri, weil sie sie um einiges plumper erscheinen ließ, als sie war. Keri war nicht eitel, aber mit ihren fünfunddreißig Jahren verdrehte sie den Männern immer noch die Köpfe. Dank der gepolsterten Weste hatte sie allerdings weder Taille noch Rundungen, so dass sie sich damit wenig attraktiv fühlte.
Nach ein paar Tagen Erholung sahen ihre braunen Augen immerhin nicht so erschöpft und blutunterlaufen aus, wie sonst. Ihr dunkelblondes Haar trug sie in einem lockeren Pferdeschwanz, der heute frisch gewaschen federte. Der gebrochene Wangenknochen zeigte noch immer die gelblichen Überreste des Hämatoms. Wahrscheinlich war es nicht der perfekte Zeitpunkt um auf ein romantisches Date zu gehen.
Sie dachte an Ray. Seit einem Jahr arbeitete sie mit ihm zusammen, aber sie waren bereits seit sechs Jahren miteinander befreundet. Jetzt lag er noch im Krankenhaus und erholte sich von seiner Schutzverletzung, da Pachanga ihm in den Bauch geschossen hatte. Glücklicherweise gab es keine Komplikationen, so dass er vor kurzem aus der Intensivstation entlassen wurde und jetzt im Cedars-Sinai Medical Center in Beverly Hills lag. Von der Polizeistation war es nur zwanzig Minuten entfernt, daher konnte Keri ihn oft besuchen.
Doch bei keinem dieser Besuche hatten sie über die zunehmend romantischen Gefühle geredet, die sie füreinander empfanden.
Keri atmete tief ein, bevor sie den bekannten, aber nervenaufreibenden Weg durch das Polizeirevier begann. Es kam ihr vor, als wäre es wieder ihr erster Tag. Alle sahen sie an. Immer wenn sie an den Tischen ihrer Kollegen vorbei ging, spürte sie ihre verstohlenen Blicke. Sie fragte sich, was in ihren Köpfen vorging.
Halten sie sie für eine Wahnsinnige, die sich nicht an die Regeln halten kann? Oder hatte man Respekt vor ihr, weil sie einen Kindesentführer und Mörder dingfest gemacht hatte? Wie lange würde sie sich noch als Außenseiter fühlen, weil sie die einzige Frau in ihrer Einheit war?
Als sie nun im regen Treiben des Polizeialltags an ihnen vorbei ging und sich an ihrem Schreibtisch niederließ, versuchte sie ihre Abneigung zu unterdrücken und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wenigstens war wie immer viel los, in dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert, stellte sie zufrieden fest. Überall redeten Leute, die kleine Delikte zur Anzeige brachten oder sich lautstark über ihre Verhaftung beschwerten, sowie Kollegen, die am Telefon neuen Hinweisen nachgingen.
Seit sie sich halbwegs erholt hatte und wieder zur Arbeit ging, hatte Keri leichtere Aufgaben am Schreibtisch erledigt. Auf ihrem Tisch stapelte sich der Papierkram. Dutzende von Berichten, Zeugenaussagen und Beweismittelprotokollen mussten überprüft werden.
Sie hatte den Verdacht, dass ihre Kollegen alle lästigen Aufgaben auf sie abschoben, weil sie noch nicht fit genug war um wieder auf Streife zu gehen. Glücklicherweise sollte es am nächsten Tag endlich soweit sein, dass sie ihren üblichen Dienst wieder übernehmen konnte. Insgeheim hatte es ihr nichts ausgemacht, Schreibarbeit zu erledigen. Der Grund war einfach: Pachangas Akte.
Als sein Haus durchsucht worden war, wurde ein Laptop sichergestellt. Keri und Detective Kevin Edgerton, der IT-Spezialist, hatten Pachangas Passwort geknackt und so einen Einblick in seine Dateien bekommen. Sie hoffte, dass diese Dateien Hinweise auf andere Fälle von vermissten Kindern liefern würden, vielleicht konnte sie auf diese Art ihre Tochter finden.
Zuerst sah es aus, als wäre der Fund eine wahre Goldgrube an Informationen, doch leider erwies es sich als äußerst schwierig, auf die Informationen zuzugreifen. Edgerton hatte ihr erklärt, dass die verschlüsselten Dateien nur mit einem bestimmten Code entschlüsselt werden konnten, den sie natürlich nicht hatten. Daher hatte Keri die vergangene Woche damit verbracht, möglichst viel über Pachanga herauszufinden und den Code zu entschlüsseln. Bisher war sie aber keinen Schritt weiter gekommen.
Als sie sich jetzt über die Akten beugte, wanderten ihre Gedanken wieder zu einem Thema, das sie schon die ganze Woche beschäftigt hatte. Als Pachanga Ashley, die Tochter des US Senators Stafford, entführt hatte, hatte er im Auftrag von Payton Penn gehandelt, dem Bruder des Senators. Die beiden Männer hatten die Tat monatelang im Darknet geplant.
Es ging Keri einfach nicht aus dem Kopf, wie der Bruder eines Senators mit einem professionellen Kidnapper in Kontakt treten konnte. Sie bewegten sich schließlich nicht gerade in denselben Kreisen. Eine Sache aber hatten sie gemeinsam. Beide Männer wurden von einem Anwalt namens Jackson Cave vertreten.
Caves Kanzlei befand sich in den oberen Stockwerken eines schicken Wolkenkratzers in der Innenstadt, wobei viele seiner Klienten solch luftige Höhen nicht gewöhnt waren und sich eher in der Unterwelt bewegten. Neben seiner Arbeit für die Kanzlei betreute Cave schon seit längerer Zeit Vergewaltiger, Kidnapper und Pädophile. Keri hätte es seiner Gier zuschreiben können, schließlich musste man für einen guten Anwalt eine Menge Geld hinblättern, aber sie hatte einen anderen Verdacht. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er gewisse Kontakte in diesem Teil der Gesellschaft pflegte. Welche der beiden Theorien auch zutreffen mochte, sie konnte ihn nicht ausstehen.
Falls Jackson Cave wirklich zwischen Payton Penn und Alan Pachanga vermittelt hatte, dann war es möglich, dass er wusste, wie man auf die verschlüsselten Dateien zugreifen konnte. Kerie war sich sicher, dass irgendwo in diesem himmelhohen Supergebäude der Schlüssel zu ihrem Problem lag. Diesen Schlüssel benötigte sie, um an die Informationen über all die vermissten Kinder zu gelangen. Sie hatte beschlossen, dass sie sich irgendwie, legal oder nicht, Zutritt zu diesem Büro verschaffen musste.
Während sie darüber nachgrübelte, wie sie das erreichen könnte, bemerkte Keri eine junge Polizistin, die gerade auf sie zukam. Keri begrüßte sie.
„Hallo, entschuldigen Sie, wie war Ihr Name?“, fragte Keri, unsicher, ob sie sich schon vorgestellt worden waren.
„Officer Jamie Castillo“, antwortete die dunkelhaarige Frau. „Ich komme frisch aus der Akademie. Ich habe hier in der Woche angefangen, als Sie krankgeschrieben waren. Eigentlich sollte ich bei der West-LA Einheit anfangen.“
„Dann sind wir uns noch nicht vorgestellt worden?“
„Nein, Detective Locke“, sagte Castillo.
Keri war beeindruckt von ihrer neuen Kollegin. Sie war selbstbewusst und ihre dunklen Augen leuchteten wachsam und intelligent. Außerdem wirkte sie wie jemand, der gut auf sich selbst aufpassen kann. Sie war 1,70 Meter groß und hatte eine sehnige, athletische Figur, die einen autoritären Eindruck machte.
„Gut. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Keri und hoffte, nicht abschreckend zu klingen. In der gesamten Pacific Einheit gab es nicht viele Frauen und Keri wollte keiner von ihnen auf die Füße treten.
„Ich habe in den vergangenen Wochen die Hotline für Hinweise beantwortet. Wie Sie sich vorstellen können, gingen einige Anrufe nach dem Vorfall mit Alan Pachanga ein, auch bezüglich Ihres Aufrufs, dass Sie Ihre Tochter suchen.“
Keri nickte. Nachdem sie Ashley gerettet hatte, gab es eine große Pressekonferenz, um den glücklichen Ausgang der tragischen Geschichte zu feiern.
Damals hatte auch Keri sich öffentlich zu den Ereignissen geäußert und ihre Chance genutzt, die Öffentlichkeit um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter zu bitten. Sie hatte ein Foto von Evie in die Kamera gehalten und um Hinweise gebeten, die bei der Suche helfen könnten. Ihr Vorgesetzter, Lieutenant Cole Hillman, war sehr wütend gewesen, dass sie den Triumph der Einheit für ihren persönlichen Kreuzzug missbraucht hatte. Am liebsten hätte er sie direkt entlassen, aber da sie eine schwerverletzte Heldin war, die gerade eine Senatorentochter vor dem sicheren Tod gerettet hatte, konnte er es nicht.
Bereits als sie noch im Krankenhaus lag, hörte sie von den Kollegen, wie verärgert er war, dass jeden Tag so viele Anrufe eingingen.
„Es tut mir leid, dass Sie sich damit herumschlagen mussten“, sagte Keri. „Ich wollte die Gelegenheit nutzen und habe nicht darüber nachgedacht, dass es zusätzliche Arbeit für jemanden bedeutet. Ich nehme an, dass die Spuren nutzlos sind?“
Jamie Castillo zögerte, als würde sie abwägen, was sie darauf antworten sollte. Keri konnte sehen, wie ihr Verstand arbeitete. Sie beobachtete die junge Frau. Sie war ihr sympathisch. Sie kam ihr vor wie eine jüngere Version von sich selbst.
„Naja“, begann Castillo, „die meisten Anrufe konnten wir tatsächlich direkt streichen. Einige Quellen waren mehr als fragwürdig, es gab sogar ein paar Telefonstreiche. Aber heute morgen ist ein Anruf eingegangen, der anders war. Die Angaben waren so konkret, dass man sie ernstnehmen muss.“
Keris Mund wurde trocken und ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen.
Ruhig bleiben, jetzt nur nicht überreagieren. Wahrscheinlich steckt nichts dahinter.
„Kann ich mir den Anruf anhören?“, fragte sie ruhiger, als sie sich fühlte.
„Ich habe die Aufzeichnung bereits an Sie weitergeleitet“, sagte Castillo.
Ein Blick auf ihr Telefon verriet eine neue Nachricht hatte. Sie bemühte sich, nicht allzu verzweifelt auszusehen und nahm den Hörer ab.
Als sie die Nachricht abspielte, hörte sie eine raue Stimme, die beinahe metallisch klang. Laute Schläge im Hintergrund machten es noch schwerer, sie zu verstehen.
„Ich habe im Fernsehen gesehen, dass Sie Ihre Tochter suchen. Ich möchte helfen. In Palms gibt es ein leerstehendes Lagerhaus, gegenüber dem Piedmont Stadion. Sie sollten es sich ansehen.“
Das war alles. Eine verzerrte Männerstimme, die einen vagen Hinweis gab. Warum ließ das Adrenalin ihre Hände zittern? Warum konnte sie nicht mehr schlucken? Warum hatte sie plötzlich Bilder im Kopf, wie ihre kleine Evie jetzt aussehen könnte?
Vielleicht lag es daran, dass nichts an diesem Anruf darauf hinwies, dass man ihn nicht ernst nehmen konnte. Die Stimme versuchte nicht, besondere Aufmerksamkeit zu erregen, und genau das machte aufmerksam. Der Anrufer war knapp und geradeheraus. Keri spürte, wie ihr einpaar Schweißtropfen über den Rücken liefen.
Castillo sah sie erwartungsvoll an.
„Was halten Sie davon?“, fragte sie.
„Schwer zu sagen“, antwortete Keri langsam, obwohl ihr Herz raste, während sie die angegebene Lagerhalle auf Google Maps heraussuchte. „Wir lassen die Techniker überprüfen, woher der Anruf kam, und ob sie noch etwas über die Stimme oder die Hintergrundgeräusche herausfinden können. Allerdings bezweifle ich, dass dabei viel herauskommt. Der Anrufer war vorsichtig.“
„Das habe ich auch vermutet“, stimmte Castillo ihr zu. „Kein Name, leicht verfremdete Stimme, laute Hintergrundgeräusche. Der Anruf war einfach…. anders als die anderen.“
Keri hörte nur mit einem Ohr zu und studierte die Karte auf ihrem Bildschirm. Das Stadion befand sich auf dem National Boulevard, südlich des Freeway 10. Laut der Satellitenaufnahme gab es dort wirklich eine Lagerhalle. Ob sie leer stand, konnte Keri nicht sagen.
Das werde ich bald herausfinden.
Sie sah Castillo an und fühlte Dankbarkeit und noch etwas anders, das sie lange nicht mehr für einen Kollegen empfunden hatte: Bewunderung. Sie hatte ein gutes Gefühl und war froh, dass sie da war.
„Gute Arbeit, Castillo“, sagte sie zu der jungen Frau, die ebenfalls den Bildschirm anstarrte. „So gut, dass ich glaube, ich sollte einen kleinen Ausflug machen.“
„Brauchen Sie vielleicht Verstärkung?“, fragte Castillo hoffnungsvoll, als Keri aufstand und ihre Tasche in die Hand nahm, um sich auf den Weg zu machen.
Bevor sie antworten konnte, steckte Hillman den Kopf aus seinem Büro.
„Locke, in mein Büro! Sofort!“, Er sah sie herausfordernd an. „Wir haben einen neuen Fall!“