KAPITEL VIER

1509 Words
KAPITEL VIER Riley wusste, dass ein Angriff kommen würde und zwar plötzlich und unerwartet. Und er konnte von überall aus diesem labyrinthartigen Raum kommen. Sie arbeitete sich langsam den schmalen Flur des verlassenen Gebäudes entlang vor. Aber die Erinnerungen an den letzten Abend stahlen sich immer wieder in ihren Kopf. "Ich brauche ein wenig Freiraum", hatte Ryan gesagt. "Dieses ganze Familien-Ding – Ich dachte, ich wäre bereit dafür, aber das war ich nicht. Ich will mein Leben genießen." Riley war wütend – nicht nur auf Ryan, sondern auch auf sich selbst, weil sie sich von diesen Gedanken ablenken ließ. Konzentrier dich, sagte sie sich. Du musst einem Verbrecher das Handwerk legen. Und die Situation sah nicht gut aus. Rileys jüngere Kollegin Lucy Vargas war bereits verwundet worden. Rileys langjähriger Partner Bill Jeffreys war bei Lucy geblieben. Sie waren beide um die Ecke hinter Riley und hielten herannahende Schützen ab. Riley hörte Schüsse aus Bills Gewehr. Mit der Gefahr genau vor sich konnte sie sich nicht umdrehen und nachsehen, was geschah. "Wie sieht es aus, Bill?" rief sie. Jetzt hörte sie eine Reihe von halbautomatischen Schüssen. "Einer erledigt, noch zwei übrig", rief Bill zurück. "Ich schalte die Kerle hier aus, kein Problem. Und ich gebe Lucy Deckung, sie kommt wieder in Ordnung. Halte deine Augen vorne. Der Typ vor dir ist gut. Wirklich gut." Bill hatte Recht. Riley konnte den Schützen vor sich nicht sehen, aber er hatte bereits Lucy getroffen, die selbst eine ausgezeichnete Schützin war. Falls Riley ihn nicht erledigte, dann würde er sie alle ausschalten. Sie hielt ihren M4-Karabiner im Anschlag. Sie hatte schon lange kein Sturmgewehr mehr in der Hand gehabt, also gewöhnte sie sich noch immer an das Gewicht und die Ausmaße. Vor ihr lag der Flur, dessen Türen alle offen standen. Der Schütze konnte sich in jedem dieser Räume verstecken. Sie war entschlossen ihn zu finden, ihn zu erledigen, bevor er mehr Schaden anrichten konnte. Riley drückte sich weiter an der Wand entlang und bewegte sich auf die erste Tür zu. In der Hoffnung, dass er sich dort befand, hielt sie sich von der Öffnung fern, streckte ihre Waffe aus und feuerte drei Kugeln in den Raum. Die Waffe zuckte scharf in ihrer Hand. Dann trat sie in den Türrahmen und feuerte drei weitere Schüsse. Diesmal presste sie den Schaft gegen die Schulter, um den Rückstoß aufzufangen. Sie senkte die Waffe und sah, dass der Raum leer war. Sie wirbelte herum, um sicherzustellen, dass der Flur noch frei war, bevor sie einen Moment innehielt und ihren nächsten Schritt überdachte. Abgesehen von der Gefahr, würde es zu viel Munition kosten, jeden der Räume auf diese Weise zu überprüfen. Aber sie schien keine andere Wahl zu haben. Falls der Schütze in einem dieser Räume war, dann hatte er sicherlich seine Waffe so positioniert, dass er jeden töten würde, der durch den Türrahmen trat. Sie hielt inne und kontrollierte ihre eigene physische Reaktion. Sie war aufgebracht, nervös. Ihr Puls schlug heftig. Sie atmete schnell. Aber lag das an dem Adrenalin oder dem Ärger der letzten Nacht? Wieder erinnerte sich an seine Worte. "Was wenn ich jemand anderen treffe?" hatte Ryan gesagt. "Riley, wir haben nie gesagt, dass wir exklusiv sind." Er hatte ihr gesagt, dass der Name der Frau Lina war. Riley, fragte sich, wie alt sie war. Wahrscheinlich zu jung. Ryans Frauen waren immer zu jung. Verdammt, hör auf, an ihn zu denken! Sie verhielt sich wie ein blutiger Anfänger. Sie musste sich daran erinnern, wer sie war. Riley Paige, eine respektierte und bewunderte Agentin. Sie hatte jahrelanges Training und Arbeit im Feld hinter sich. Sie war zur Hölle und wieder zurück gegangen. Sie hatte Leben genommen und Leben gerettet. Sie verhielt sich im Angesicht der Gefahr immer kühl und überlegt. Also warum ließ sie sich von Ryan so aufbringen? Sie schüttelte sich und versuchte so, die Ablenkungen aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie bewegte sich auf den nächsten Raum zu, feuerte um den Türrahmen herum, trat in den Raum und betätigte wieder den Abzug. In dem Moment klemmte ihr Gewehr. "Verdammt", grummelte Riley laut. Glücklicherweise war der Schütze auch nicht in diesem Raum. Aber sie wusste, dass ihr Glück jederzeit vorbei sein konnte. Sie trat zurück, ließ den Karabiner sinken und zog ihre Glock. In dem Moment sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Dort war er, in einem Türrahmen weiter vor ihr, sein Gewehr genau auf sie gerichtet. Instinktiv ließ Riley sich fallen und rollte sich ab, um seinen Schüssen auszuweichen. Dann kam sie auf die Knie und feuerte dreimal, sich bei jedem der Schüsse in den Rückstoß lehnend. Alle drei Kugeln trafen den Schützen, der rückwärts zu Boden fiel. "Ich habe ihm erwischt!", rief sie Bill zu. Sie hielt ihren Blick auf die Figur gerichtet und sah kein Lebenszeichen. Es war vorbei. Dann stand Riley auf und zog ihren VR-Helm mit den Gläsern, Kopfhörern und dem Mikrofon ab. Der gefallene Schütze verschwand, zusammen mit dem Labyrinth der Gänge. Sie fand sich in einem Raum der Größe eines Basketballplatzes wieder. Bill stand in der Nähe und Lucy kam wieder auf die Füße. Bill und Lucy nahmen ebenfalls ihre Helme ab. Wie Riley, trugen auch sie jede Menge Ausrüstung, mit Sensoren an ihren Handgelenken, Ellbogen, Knien und Knöcheln, die jede ihrer Bewegungen in der Simulation verfolgten. Jetzt, da ihre Partner keine simulierten Puppen mehr waren, hielt Riley einen Augenblick inne, um ihre Anwesenheit zu würdigen. Sie schienen ein seltsames Paar zu sein – einer von ihnen reif und solide, der andere jung und impulsiv. Aber sie gehörten beide zu ihren liebsten Menschen. Riley hatte mehr als einmal mit Lucy zusammen gearbeitet und wusste, dass sie sich auf sie verlassen konnte. Die junge Agentin mit ihren dunklen Augen schien regelrecht von innen heraus zu leuchten, Energie und Enthusiasmus zu versprühen. Im Gegensatz dazu war Bill in Rileys Alter und auch wenn seine vierzig Jahre ihn ein wenig langsamer gemacht hatten, war er immer noch einer der besten Agenten. Und er sieht immer noch sehr gut aus, sagte sie zu sich selbst. Für einen kurzen Augenblick, fragte sie sich – jetzt wo die Dinge zwischen ihr und Ryan wieder schief gelaufen waren, vielleicht sollten sie und Bill …? Aber nein, sie wusste das war eine fürchterliche Idee. In der Vergangenheit hatten sie und Bill beide unbeholfene Versuche unternommen, um etwas Ernsthaftes zu starten und die Ergebnisse waren ein Desaster gewesen. Bill war ein guter Partner und ein noch besserer Freund. Es wäre dumm, das zu zerstören. "Gute Arbeit", sagte Bill zu Riley. Er grinste breit. "Ja, du hast mir das Leben gerettet, Riley", sagte Lucy lachend. "Ich kann nicht glauben, dass ich mich habe anschießen lassen. Ich habe den Typen nicht gesehen, obwohl er direkt vor mir war!" "Dafür ist das System ja da", sagte Bill zu Lucy und klopfte ihr auf den Rücken. "Selbst sehr erfahrene Agenten tendieren dazu, ihre Ziele zu verfehlen, wenn sie innerhalb von 3 Metern stehen. VR hilft dabei, mit diesem Problem umzugehen." Lucy sagte, "Nun, nichts geht über eine virtuelle Kugel in die Schulter, um eine Lektion zu lernen." Sie rieb sich die Schulter, wo die Ausrüstung einen leichten Schlag ausgelöst hatte, um ihr anzuzeigen, dass sie getroffen wurde. "Besser als eine richtige", sagte Riley. "Trotzdem meine besten Wünsche für eine schnelle Genesung." "Danke!", lachte Lucy. "Ich fühle mich schon besser." Riley holsterte ihre Simulationswaffe und hob das falsche Sturmgewehr auf. Sie erinnerte sich an den intensiven Rückstoß, den sie bei der Feuerung der Waffen gespürt hatte. Und das nicht existierende, verlassene Gebäude war erstaunlich lebendig und detailliert gewesen. Trotzdem fühlte Riley sich seltsam leer und unzufrieden. Aber das lag nicht an Bill oder Lucy. Und sie war dankbar, dass sich beide an diesem Morgen Zeit genommen hatten, um sich ihr anzuschließen. "Danke, dass ihr mitgemacht habt", sagte sie. "Ich nehme an, ich musste ein wenig Dampf ablassen." "Fühlst du dich besser?", fragte Lucy. "Ja", sagte Riley. Es stimmte nicht, aber eine kleine Lüge konnte nicht schaden. "Wie wäre es, wenn wir einen Kaffee trinken gehen?", fragte Bill. "Klingt gut!", sagte Lucy. Riley schüttelte den Kopf. "Nicht heute, danke. Ein andermal gerne. Geht ruhig, ihr zwei." Bill und Lucy verließen den großen VR Raum. Riley, fragte sich, ob sie vielleicht doch mit ihnen mitgehen sollte. Nein, ich wäre keine angenehme Gesellschaft, dachte sie. Ryans Worte hallten wieder durch ihren Kopf. "Riley, Jilly war deine Entscheidung." Ryan hatte Nerven, der armen Jilly den Rücken zuzuwenden. Aber Riley war jetzt nicht wütend. Stattdessen spürte sie eine tiefe Traurigkeit. Aber warum? Langsam wurde ihr klar: Nichts davon ist real. Mein ganzes Leben, alles ist ein Schwindel. Ihre Hoffnungen mit Ryan und den Kindern wieder eine Familie zu sein, waren eine Illusion. Genau wie diese verdammte Simulation. Sie fiel auf die Knie und fing an zu weinen. Es dauerte einige Minuten, bis Riley sich zusammenreißen konnte. Dankbar, dass niemand ihren Zusammenbruch gesehen hatte, stand sie auf und ging zurück zu ihrem Büro. Sobald sie durch die Tür trat, fing ihr Telefon an zu klingeln. Sie wusste, wer anrief. Sie hatte den Anruf erwartet. Und sie wusste, dass die Unterhaltung nicht einfach werden würde.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD