KAPITEL EINS

1663 Words
KAPITEL EINS Die Lichter in dem Vorlesungsraum gingen plötzlich wieder an und stachen Agentin Lucy Vargas in den Augen. Die Studenten um sie herum fingen an, leise zu murmeln. Lucys Verstand war während der Übung hoch konzentriert gewesen – sie hatten sich einen Mord aus der Perspektive des Mörders vorstellen sollen – und es war schwer, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. "Okay, lassen Sie uns darüber reden, was Sie gesehen haben", sagte die Dozentin. Die Dozentin war niemand anderes, als Lucys Mentorin, Spezialagentin Riley Paige. Lucy war nicht wirklich Teil der Klasse, die für die FBI Akademie Kadetten angesetzt war. Sie saß nur heute dabei, wie sie es von Zeit zu Zeit tat. Sie war noch sehr neu im BAU und für sie war Riley Paige eine nie versiegende Quelle der Inspiration und Bildung. Sie nutzte jede Gelegenheit, um von ihr zu lernen – und mit ihr zu arbeiten. Riley hatte den Studenten die Details eines Mordfalles gegeben, der seit etwa fünfundzwanzig Jahren ungelöst war. Drei junge Frauen waren in Virginia getötet worden. Der Mörder hatte den Spitznamen "Streichholzbrief-Killer" bekommen, da er bei jedem seiner Opfer ein Streichholzbriefchen hinterließ. Sie kamen von Bars in der Gegend von Richmond. Er hatte außerdem Servietten mit dem aufgedruckten Namen der Motels hinterlassen, in denen die Frauen getötet worden waren. Trotzdem hatten die Ermittler keine Spuren gefunden, die zur Lösung des Falls hätten führen können. Riley hatte die Studenten angehalten, ihre Fantasie zu nutzen, um den Mord gedanklich nachzustellen. "Lassen Sie ihrer Fantasie freien Lauf", hatte sie vor Beginn der Übung gesagt. "Visualisieren Sie die Details. Machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie alles richtig machen. Aber versuchen Sie das große Ganze zu sehen – die Atmosphäre, die Stimmung, die Szenerie." Dann hatte sie für zehn Minuten das Licht ausgeschaltet. Jetzt, wo es wieder hell war, ging Riley durch den Vorlesungsraum. Sie sagte, "Zuerst, erzählen Sie mir von der Patom Lounge. Wie sah es dort aus?" Eine Hand schoss in die Höhe. Riley nickte dem Studenten zu. "Es war nicht wirklich elegant, aber versuchte besser auszusehen, als es war", sagte er. "Schwach beleuchtete Nischen entlang der Wände. Überall ein weicher Überzug – vielleicht Wildleder." Lucy runzelte die Stirn. Sie hatte sich die Bar ganz anders vorgestellt. Riley lächelte leicht. Sie sagte dem Student nicht, ob er richtig lag oder nicht. "Was noch?", fragte sie. "Leise Musik hat gespielt", sagte ein anderer Student. "Vielleicht Jazz." Aber Lucy erinnerte sich, dass sie sich Rock der 70er und 80er Jahre vorgestellt hatte. Lag sie bei allem falsch? Riley fragte, "Was ist mit dem Maberly Inn? Wie sah es dort aus?" Eine Studentin hob die Hand und Riley wählte sie aus. "Einfach und nett, wie die meisten Motels", sagte die junge Frau. "Und ziemlich alt. Aus der Zeit vor den kommerziellen Motelketten." Ein anderer Student meldete sich. "Klingt für mich passend." Auch andere Studenten nickten und murmelten zustimmend. Wieder war Lucy verdutzt, wie anders sie sich den Ort vorgestellt hatte. Riley lächelte leicht. "Wie viele von Ihnen teilen diese generellen Eindrücke – sowohl von der Bar, als auch von dem Motel?" Die meisten der Studenten hoben die Hand. Lucy fing an sich unbehaglich zu fühlen. "Versuchen Sie das große Ganze zu sehen", hatte Riley ihnen gesagt. Hatte Lucy die Übung vermasselt? Hatte jeder andere in der Klasse es bildlich vor Augen gesehen, nur sie nicht? Dann zeigte Riley einige Bilder auf der Leinwand an der Wand. Zuerst kam eine Gruppe von Bildern aus der Patom Lounge – eine Nachtansicht von außen mit einem glühenden Neonschild in einem der Fenster und verschiede Innenansichten. "Das ist die Bar", sagte Riley. "Oder zumindest sah sie so zur Zeit des Mordes aus. Ich bin nicht sicher, wie sie jetzt aussieht – oder ob es sie überhaupt noch gibt." Lucy war erleichtert. Sie sah der Bar in ihrer Vorstellung sehr ähnlich – eine heruntergekommene Kneipe mit billig verkleideten Wänden und Kunstlederpolstern. Es gab ein paar Billardtische und Dartscheiben, so wie sie es angenommen hatte. Und selbst auf den Bildern konnte man den dichten Zigarettenrauch erkennen. Die Studenten sahen sich überrascht an. "Jetzt lassen Sie uns einen Blick auf das Maberly Inn werfen", sagte Riley. Mehr Fotos erschienen. Das Motel sah genauso schäbig aus, wie Lucy es in Gedanken gesehen hatte – nicht sehr alt, aber definitiv heruntergekommen. Riley lachte leise. "Scheint, als würde hier etwas nicht ganz übereinstimmen", sagte sie. Die Klasse lachte in nervöser Zustimmung. "Warum haben Sie sich die Szene so vorgestellt, wie Sie sie beschrieben haben?", fragte Riley. Sie rief eine junge Frau auf, die ihre Hand gehoben hatte. "Nun, Sie haben uns gesagt, dass der Mörder sich seinem Opfer in einer Bar genähert hat", sagte sie. "Das klingt für mich nach 'Singles Bar.' Ein wenig kitschig, aber zumindest mit dem Versuch elegant auszusehen. Ich hatte nicht den Eindruck einer Arbeiterklasse-Absteige." Ein anderer Student sagte, "Genau das gleiche beim Motel. Würde ein Mörder sie nicht zu einem Motel bringen, das netter aussieht, wenn auch nur, um sie hereinzulegen?" Lucy fing an, breit zu lächeln. Jetzt verstehe ich, dachte sie. Riley bemerkte ihr Lächeln und erwiderte es. Sie sagte, "Agentin Vargas, was haben so viele von uns falsch gemacht?" Lucy sagte, "Wir haben vergessen, das Alter des Opfers in Betracht zu ziehen. Tilda Steen war gerade zwanzig Jahre alt. Frauen die zu Single Bars gehen sind in der Regel älter, Mitte dreißig oder darüber, oft geschieden. Deshalb haben wir uns die Bar anders vorgestellt." Riley nickte zustimmend. "Und weiter", sagte sie. Lucy dachte einen Moment nach. "Sie haben gesagt, dass sie aus einer Mittelklasse Familie in einer gewöhnlichen kleinen Stadt kam. Von dem Bild ausgehend, das Sie uns gezeigt haben, war sie attraktiv und ich bezweifle, dass sie Schwierigkeiten hatte, ein Date zu finden. Also warum hat sie sich in einer Absteige wie der Patom Lounge abschleppen lassen? Meine Vermutung ist, ihr war langweilig. Sie ist absichtlich an einen Ort gegangen, der möglicherweise ein wenig gefährlich ist." Und sie hat mehr Gefahr gefunden, als sie ahnen konnte, dachte Lucy. Aber das sagte sie nicht laut. "Was können wir von dem lernen, was gerade passiert ist?" wandte Riley sich an die Klasse. Ein Student hob die Hand und sagte, "Wenn man gedanklich ein Verbrechen rekonstruiert, sollte jede verfügbare Information überdacht werden. Man darf nichts auslassen." Riley sah zufrieden aus. "Das ist richtig", sagte sie. "Wir müssen eine lebhafte Fantasie haben, um in der Lage zu sein, uns in den Verstand eines Mörders zu versetzen. Aber das ist eine schwierige Angelegenheit. Übersieht man nur ein kleines Detail, geht man in eine falsche Richtung. Das kann der Unterschied sein zwischen einem Fall, der gelöst wird und einem, der ungelöst bleibt." Riley hielt inne und fügte dann hinzu, "Und dieser Fall wurde nie gelöst. Ob er das jemals wird … nun, das ist zweifelhaft. Nach fünfundzwanzig Jahren sind alle Spuren kalt. Ein Mann hat drei junge Frauen getötet – und es ist sehr wahrscheinlich, dass er dort draußen noch herumläuft." Riley ließ ihre Worte einen Augenblick sinken. "Das ist alles für heute", sagte sie dann. "Sie wissen, was Sie für die nächste Stunde lesen sollen." Die Studenten verließen den Vorlesungsraum. Lucy entschied sich noch einen Moment zu bleiben und mit ihrer Mentorin zu reden. Riley lächelte sie an und sagte, "Das war gute Arbeit gerade." "Danke", sagte Lucy. Sie freute sich. Jedes noch so kleine Kompliment von Riley bedeutete ihr viel. Dann sagte Riley, "Aber jetzt will ich noch etwas Fortgeschritteneres ausprobieren. Schließ die Augen." Lucy tat es. Mit leiser, ruhiger Stimme gab Riley ihr mehr Informationen. "Nachdem er Tilda Steen getötet hat, vergrub er sie in einem flachen Grab. Kannst du mir beschreiben, wie das passiert ist?" Wie bei der anderen Übung, versucht Lucy sich in den Verstand des Mörders zu versetzen. "Er hat die Leiche auf dem Bett liegen lassen und ist dann aus der Tür des Motelzimmers gegangen", sagte Lucy laut. "Er hat sich vorsichtig umgesehen. Er hat niemanden gesehen. Also hat er die Leiche zu seinem Wagen gebracht und auf den Rücksitz geworfen. Dann ist er zu einem Waldgebiet gefahren. Einen Ort, den er gut kannte, der aber nicht zu nah am Tatort lag." "Was dann?", fragte Riley. Die Augen immer noch geschlossen, spürte Lucy die methodische Kälte des Mörders. "Er hat an einer Stelle gehalten, die nicht einfach einzusehen war. Dann hat er eine Schaufel aus dem Kofferraum geholt." Lucy war einen Moment unschlüssig. Es war Nacht, also wie hatte der Mörder seinen Weg in den Wald gefunden? Es wäre nicht einfach, eine Taschenlampe, eine Schaufel und eine Leiche zu tragen. "War es eine mondhelle Nacht?", fragte Lucy. "Das war es", sagte Riley. Lucy fühlte sich ermutigt. "Er hat die Schaufel mit einer Hand genommen und die Leiche mit der anderen über seine Schulter geworfen. Er ist in den Wald gegangen. Er ist so lange weitergegangen, bis er einen Platz gefunden hat, der weit genug weg war, dass niemand dort hinkommt." "Ein weit entfernter Platz?", fragte Riley, die Lucys Gedanken unterbrach. "Definitiv", sagte Lucy. "Mach die Augen auf." Lucy sah Riley an. Riley fing an, ihre Aktentasche einzuräumen. Sie sagte, "Tatsächlich hat der Mörder die Leiche in den Wald auf der anderen Seite des Highways gebracht, direkt gegenüber von dem Motel. Er hat Tildas Leiche nur wenige Schritte in das Unterholz getragen. Er könnte leicht von Autos auf dem Highway gesehen worden sein und er hat vermutlich das Licht der Straßenlaternen genutzt, um Tilda zu vergraben. Er hat sie achtlos vergraben, mit mehr Steinen als Erde bedeckt. Ein vorbeifahrender Radfahrer hat wenige Tage später den Geruch bemerkt und die Polizei gerufen. Die Leiche war einfach zu finden." Lucy blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. "Warum hat er sich nicht mehr Mühe gegeben, den Mord zu vertuschen?", fragte sie. "Das verstehe ich nicht." Die Aktentasche schließend, runzelte Riley die Stirn. "Ich verstehe es auch nicht", sagte sie. "Niemand tut es." Riley nahm ihre Aktentasche und verließ den Vorlesungsraum. Als Lucy ihr hinterhersah, bemerkte sie eine leichte Bitterkeit und Enttäuschung in Rileys Haltung. So unbeeindruckt Riley sich auch gab, dieser alte Fall schien sie noch immer zu quälen.
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