KAPITEL DREI
Die Frau dachte immer noch an den armen Cody Woods. Sie war sich sicher, dass er mittlerweile tot war. Sie würde vermutlich in der Morgenzeitung darüber lesen.
So sehr sie ihren heißen Tee und das Müsli auch genoss, auf die Nachrichten zu warten machte sie mürrisch.
Wann kommt die Zeitung endlich? fragte sie sich und sah auf die Küchenuhr.
In letzter Zeit schien die Lieferung immer später zu werden. Natürlich hätte sie diese Probleme nicht, wenn sie ein Online-Abo hätte. Aber sie mochte es nicht, die Nachrichten auf ihrem Computer zu lesen. Sie saß lieber in ihrem gemütlichen Sessel und genoss das altmodische Gefühl der Zeitung in ihrer Hand. Sie mochte sogar die Art, wie die Druckerschwärze manchmal an den Fingern hängen blieb.
Aber die Zeitung war bereits seit fünfzehn Minuten überfällig. Falls es noch später wurde, dann würde sie anrufen und sich beschweren müssen. Sie hasste es, das zu tun. Es hinterließ immer einen bitteren Geschmack im Mund.
Jedenfalls war die Zeitung der einzige Weg, herauszufinden, was mit Cody war. Sie konnte kaum das Signet Rehabilitationszentrum anrufen und nachfragen. Das würde nur Verdacht erregen. Außerdem war sie, soweit es die Mitarbeiter dort betraf, schon mit ihrem Mann in Mexiko, ohne Pläne jemals zurückzukehren.
Oder genauer gesagt, Hallie Stillians war in Mexiko. Es machte sie ein wenig traurig, dass sie nie wieder Hallie Stillians sein würde. Sie hatte den Alias recht lieb gewonnen. Es war so nett von den Mitarbeitern gewesen, sie an ihrem letzten Tag mit einem Kuchen zu überraschen.
Sie lächelte bei der Erinnerung. Der Kuchen war bunt mit Sombreros und einer Nachricht dekoriert gewesen:
Buen Viaje, Hallie und Rupert!
Rupert war der Name ihres imaginären Ehemannes. Sie würde es vermissen über ihn zu reden.
Sie aß ihr Müsli auf und nippte weiter an dem köstlichen, hausgemachten Tee, den sie nach einem alten Familienrezept zubereitet hatte – ein anderes Rezept als das, was sie mit Cody geteilt hatte, und natürlich ohne die besondere Zutat, die sie für ihn hinzugefügt hatte.
Sie begann leise zu singen …
Weit weg von zu Haus'
So weit weg von zu Haus'––
Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.
Du sehnst dich danach
Jeden Tag
Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.
Wie sehr Cody dieses Lied gemocht hatte! Genauso wie all ihre anderen Patienten. Und viele weitere Patienten in der Zukunft würden es ebenfalls mögen. Der Gedanke wärmte ihr Herz.
Da hörte sie einen dumpfen Laut vor der Haustüre. Sie eilte hin und sah nach draußen. Auf den kalten Stufen lag die Morgenzeitung. Voller Aufregung hob sie sie auf, lief zurück in die Küche, und öffnete die Seite mit den Sterbeanzeigen.
Da war es, wie erwartet:
SEATTLE — Cody Woods, 49, aus Seattle …
Sie hielt einen Moment inne. Das war seltsam. Sie hätte schwören können, dass er gesagt hatte, er wäre fünfzig. Dann las sie den Rest …
… im South Hills Krankenhaus, Seattle, Wash.; Sutton–Brinks Bestattungsinstitut, Seattle.
Das war alles. Es war knapp, selbst für eine einfache Todesanzeige.
Sie hoffte, dass in den nächsten Tagen ein schöner Nachruf folgen würde. Aber sie sorgte sich, ob es wirklich einen geben würde. Wer sollte ihn schon schreiben?
Er war alleine in der Welt gewesen, zumindest soweit sie wusste. Eine Frau war tot, eine andere hatte ihn verlassen, und seine zwei Kinder sprachen nicht mit ihm. Er hatte ihr gegenüber kaum jemandem erwähnt – Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen.
Wer kümmert sich? dachte sie.
Sie spürte die vertraute, bittere Wut aufsteigen.
Wut gegenüber all den Leuten in Cody Woods Leben, denen es egal war, ob er lebte oder starb.
Wut auf die lächelnden Mitarbeiter im Signet Rehabilitationszentrum, die heuchelten, sie würden Hallie Stillians mögen und vermissen.
Wut auf all die Leute überall, mit ihren Lügen und Geheimnissen und Gemeinheiten.
Wie sie es so oft tat, stellte sie sich vor, wie sie auf schwarzen Schwingen über der Welt schwebte und Tod und Zerstörung über die Sünder brachte.
Und alle waren Sünder.
Alle verdienten es, zu sterben.
Selbst Cody Woods war sündig gewesen und hatte es verdient zu sterben.
Denn was musste er für ein Mann gewesen sein, dass er die Welt verließ, ohne jemanden zu haben, den es kümmerte?
Sicherlich ein schrecklicher Mann.
Schrecklich und hasserfüllt.
"Geschieht ihm recht", knurrte sie.
Dann ließ die Wut wieder nach. Sie war beschämt, dass sie so etwas laut gesagt hatte. Schließlich meinte sie es gar nicht so. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie nichts als Liebe und Güte allen Menschen gegenüber empfand.
Außerdem war es fast an der Zeit, zur Arbeit zu gehen. Heute würde sie Judy Brubaker sein.
In den Spiegel blickend, stellte sie sicher, dass die brünette Perücke richtig saß und der weiche Pony auf natürliche Weise über ihre Stirn fiel. Es war eine teure Perücke und niemandem war bisher aufgefallen, dass es nicht ihr eigenes Haar war. Unter der Perücke waren Hallie Stillians kurze blonde Haare in einem dunklen Braun gefärbt und neu gestylt worden.
Kein Zeichen von Hallie war zurückgeblieben, nicht in ihrer Garderobe und nicht in ihrem Verhalten.
Sie nahm eine Lesebrille und hängte sie an einer glitzernden Kette um den Hals.
Sie lächelte zufrieden. Es war klug gewesen, in die passenden Accessoires zu investieren, und Judy Brubaker verdiente das Beste.
Jeder mochte Judy Brubaker.
Und jeder mochte das Lied, das Judy Brubaker oft bei der Arbeit sang – ein Lied, das sie laut vor sich hin sang, während sie sich für die Arbeit fertig machte.
Kein Grund zu weinen
Träum' lang und tief.
Übergib dich dem Lied des Schlafs.
Kein Seufzen mehr,
Schließ nur deine Augen
Und du wirst im Traum nach Hause gehen.
Sie floss förmlich über vor Frieden, genug Frieden, um ihn mit der ganzen Welt zu teilen. Sie hatte Cody Woods Frieden gegeben.
Und bald würde sie jemand anderem Frieden geben, der ihn dringend benötigte.