KAPITEL ZWEI
Die nächste Stunde verbrachte Kate mit aufräumen, obwohl sie das eigentlich schon erledigt hatte, ehe sie losgegangen war. Es machte ihr Sorgen, dass sie so ein mulmiges Gefühl hatte, weil Michelle zu ihr kommen sollte. Melissa hatte während ihrer Jahre an der High-School in diesem Haus gewohnt, und wenn sie jetzt zu Besuch kam – was in Kates Augen nicht oft genug war – hatte Kate nie das Bedürfnis verspürt, das Haus pikobello zu haben. Warum also machte sie sich jetzt Sorgen darüber, wenn ein zwei Monate altes Baby hier war?
Vielleicht hat es mit großmütterlichem Nestbau zu tun, dachte sie, während sie das Waschbecken im Bad schrubbte… einem Raum, den ihre Enkelin nicht sehen und schon gar nicht benutzen würde.
Sie spülte gerade das Waschbecken aus, als es an der Tür klingelte. Die Aufregung, die sie nun verspürte, überraschte sie selbst. Als sie die Tür öffnete, strahlte sie über das ganze Gesicht. Melissa stand dort mit Michelle im Kindersitz. Das Baby schlief fest, mit einer dicken Decke über den Beinen.
„Hallo, Mama“, sagte Melissa und trat ein. Sie blickte sich um, rollte die Augen und fragte, „wie lange hast du diesmal geputzt?“
„Ich bin unschuldig“, lachte Kate und umarmte ihre Tochter.
Vorsichtig stellte Melissa den Kindersitz auf den Boden und löste die Gurte. Sie hob Michelle heraus und reichte sie Kate. Es war fast eine ganze Woche her, seit Kate Melissa und Terry besucht hatte, aber als sie Michelle nun im Arm hielt, kam es ihr viel länger vor.
„Was habt ihr beiden für heute Abend geplant?“, fragte Kate Melissa.
„Nichts besonders“, meinte Melissa. „Aber genau das ist ja das schöne. Wir gehen irgendwo essen und etwas trinken, vielleicht auch tanzen. Außerdem haben wir uns das nochmal überlegt, dass du die Kleine über Nacht hast. Terry und ich sind noch nicht soweit, sie über Nacht abzugeben. Mal durchzuschlafen wäre natürlich wichtig, aber ich kann noch nicht so lange von ihr getrennt sein.“
„Oh, das verstehe ich“, meinte Kate. „Geht ihr beiden mal aus und habt Spaß.
Melissa entledigte sich der Wickeltasche und stellte sie neben den Kindersitz auf den Boden. „Alles, was du brauchst, ist hier drin. In einer Stunde wird sie wieder Hunger haben, und sie wird sich gegen den Schlaf wehren. Terry findet das süß, aber ich weniger. Und hier sind die Tropfen gegen Bauchweh, und…“
„Lissa, wir werden schon klarkommen. Ich habe schon ein Kind großgezogen, weißt du? Und das hat sich übrigens ganz prächtig entwickelt.“
Melissa lächelte und überraschte ihre Mutter mit einem Küsschen auf die Wange, das ihr Herz mit Liebe erfüllte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als sie selbst eine junge Mutter gewesen war, so von Liebe erfüllt – eine Liebe, die so stark war, dass eine Mutter absolut alles tat, um sicherzustellen, dass das Wesen, das sie erschaffen hatte, sicher und geborgen war.
„Wenn etwas ist, ruf mich an“, sagte Melissa, wobei sie immer noch Michelle anschaute und nicht Kate.
„Wird gemacht. Aber jetzt geh. Viel Spaß.“
Melissa wandte sich um und verließ das Haus. Als Kate die Haustür schloss, wachte die kleine Michelle in Kates Armen auf. Sie lächelte ihre Großmutter verschlafen und gähnte herzhaft.
„Na, und was machen wir beiden jetzt?“
Die Frage war spielerisch an Michelle gerichtet, aber Kate fragte sich insgeheim, ob dahinter nicht doch mehr steckte; ob sie sich nicht vielleicht selbst das gleiche fragte. Ihre Tochter war nun erwachsen, sie hatte jetzt eine eigene Tochter. Und da stand nun Kate, sechsundfünfzig Jahre alt, mit ihrer Enkelin im Arm … und fragte sich Und was machen wir jetzt?
Sie dachte an ihren Drang, wieder beim FBI anzufangen, egal in welcher Rolle, und zum ersten Mal kam ihr dieser Drang unbedeutend vor. Kleiner vielleicht als das kleine Mädchen, das sie in den Armen hielt.
***
Gegen acht Uhr abends fragte sich Kate ernsthaft, ob Terry und Melissa das nicht einfach das entspannteste Baby war, das es gab. Nicht einziges Mal schrie sie oder war knatschig. Sie war einfach zufrieden damit, von Kate im Arm gehalten zu werden.
Nach zwei Stunden auf Kates Arm schlief sie ein. Vorsichtig legte Kate sie in die Mitte ihres großen Bettes und hielt an der Tür inne, um ihre Enkelin beim schlafen zu beobachten.
Sie war nicht sicher, wie lange sie so verharrt hatte, als ihr Handy auf dem Küchentisch surrte. Sie riss den Blick von Michelle los und schnappte sich das Handy. Das Surren bedeutete kein Anruf, sondern dass sie eine SMS erhalten hatte, und sie wunderte sich nicht, dass sie von Melissa kam.
Wie geht es ihr? fragte Melissa.
Kate konnte nicht anders, als zu lächeln und zu antworten: Nicht mehr als 3 Bier, hab ich ihr gesagt. Sie ist vor einer Stunde los, mit einen Kerl auf einem Motorrad. Bis 11 soll sie wieder hier sein.
Melissas Antwort kam schnell: Oh, sehr witzig.
Das Hin und Her mit Melissa machte sie fast genauso glücklich wie das schlafende Baby in ihrem Schlafzimmer. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sich Melissa zurückgezogen, vor allem gegenüber Kate. Sie hatte Kates Arbeit die Schuld am Mord ihres Vaters gegeben, und obwohl sie in späteren Jahren verstanden hatte, dass dies nicht zutraf, nahm sie es Kate übel, dass diese nach seinem Tod so viel Zeit bei der Arbeit verbracht hatte. Merkwürdigerweise hatte Melissa Interesse an einer eigenen Karriere beim FBI gezeigt… und trotz ihrer alles andere als positiven Einstellung hinsichtlich der Ereignisse des letzten Jahres, die Kates Pensionierung unterbrochen hatten.
Noch immer lächelnd schnappte sich Kate ihr Handy und machte ein paar Fotos von Michelle. Sie schickte sie an Melissa, und nach kurzer Überlegung auch an Allen, nur fügte sie bei ihm noch die Nachricht „Zuviel Party“ hinzu.
Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn jetzt gern bei sich gehabt hätte. In letzter Zeit war das oft der Fall. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sie ihn liebte, aber sie meinte, sie sei im Begriff sich in ihn zu verlieben, wenn es so weiterlief wie bisher. Sie vermisste ihn, wenn er nicht bei ihr war, und wenn er sie küsste, fühlte sie sich zwanzig Jahre jünger.
Sie lächelte, als Allen seinerseits mit einem Foto antwortete. Es war ein Selfie, auf dem er selbst mit zwei jungem Männern zu sehen waren, die genauso wie er aussahen - offensichtlich seine Söhne.
Während sie das Foto betrachtete, klingelte ihr Handy. Der Name auf dem Display schickte eine Welle der Erregung, die sie nicht aufhalten konnte, durch ihren Körper.
Deputy Director Duran rief sie an. Das wäre schon an sich aufregend gewesen, aber die Tatsache, dass es Freitag Abend um acht war, ließ ihre Alarmglocken läuten – Alarmglocken, deren Klang sie nur allzu gern mochte.
Sie sammelte sich einen Moment, wobei sie noch immer Michelle anblickte, und nahm dann das Gespräch an. „Kate Wise“, sagte sie und bemühte sich, nicht aufgeregt zu klingen.
„Wise, hier spricht Duran. Störe ich gerade?“
„Nicht direkt, ist schon okay“, antwortete sie. „Ist alles in Ordnung?“
„Das kommt darauf an. Ich rufe an um zu hören, ob Sie Interesse an einem Fall haben.“
„Geht es um die alten, ungeklärten Fälle, die wir besprochen haben?“
„Nein. Dieser hier… hat Ähnlichkeit mit einem Fall, den Sie 1996 ziemlich schnell gelöst haben. Zur Zeit haben wir vier Leichen an zwei verschiedenen Orten in Whip Springs und Roanoke, Virginia. Es sieht aus, als wären die Morde im Abstand von zwei Tagen verübt worden. Die Virginia State Police hat den Fall übernommen, aber ich habe schon mit denen gesprochen. Wenn Sie wollen, ist der Fall Ihrer. Aber Sie müssen sofort loslegen.“
„Ich glaube, das kann ich nicht einrichten“, sagte sie. „Ich habe eine Verpflichtung, der ich nachkommen muss.“ Sie blickte Michelle an, und die Worte kamen ihr leicht über die Lippen. Aber ihr Körper wehrte sich mit jeder Faser gegen ihren neuen großmütterlichen Instinkt.
„Naja, hören Sie sich doch bitte die Eckpunkte doch trotzdem an. Die Ermordeten sind verheiratete Ehepaare, eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig. Die letzten waren die in den Fünfzigern. Die Tochter hat sie gefunden, als sie heute vom College nach Hause kam. Die Tatorte liegen circa vierzig Kilometer voneinander entfernt, der eine in Whip Springs und der andere in der Nähe von Roanoke.“
„Ehepaare? Gibt es irgendwelche Parallelen außer, dass sie verheiratet waren?“
„Bisher noch nicht. Aber alle vier Leichen sind ziemlich übel zugerichtet. Der Killer hat ein Messer benutzt. Er ist langsam und methodisch vorgegangen. Soweit ich das beurteilen kann, ist in den nächsten zwei Tagen ein weiteres Ehepaar dran.“
„Ja, das klingt nach dem Beginn von Serienmorden“, stimmte Kate zu.
Sie dachte an den Fall von 1996, den Duran erwähnt hatte. Am Ende war es eine verrückte Nanny gewesen, die innerhalb von zwei Tagen zwei Ehepaare, für die sie über einen Zeitraum von zehn Jahren gearbeitet hatte, umgebracht hatte. Als Kate sie zur Strecke brachte, war sie gerade dem Weg, um ein drittes Ehepaar – und dann sich selbst, wie sie später aussagte – zu töten.
Konnte sie diesen Fall wirklich ablehnen? Nach dem intensiven Flashback, den sie heute gehabt hatte… konnte sie sich da wirklich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Serienkiller zu jagen?
„Wie viel Bedenkzeit habe ich?“, fragte sie.
„Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Mehr nicht. Ich brauche jetzt jemanden dran an dem Fall. Ich dachte, Sie und DeMarco könnten das gut übernehmen. Also, eine Stunde… je eher, desto besser.“
Bevor sie „Okay“ oder „Danke“ sagen konnte, hatte Duran schon aufgelegt. Normalerweise war er freundlich und warmherzig, konnte aber sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte.
So leise sie konnte, ging sie zum Bett herüber und setzte sich auf die Kante. Sie beobachtete Michelle beim Schlafen, beobachtete, wie der Atem langsam und methodisch ihren Brustkorb hob und senkte. Sie konnte sich genau daran erinnern, als Melissa noch so klein gewesen war und konnte sie sich nicht erklären, wo bloß die Zeit geblieben war. Und darum ging es; sie hatte auf Grund ihres Jobs so viel Zeit als Mutter verpasst. Trotzdem verspürte sie eine starke Bindung zu ihrem Job. Vor allem jetzt, da sie dort draußen sein konnte, auf der Jagd nach einem Killer.
Was wäre sie für eine Person, wenn sie dieses Angebot ablehnte und Duran deshalb auf einen anderen Agenten zurückgreifen müsste, der womöglich nicht die gleichen Fähigkeiten mitbrächte wie sie selbst?
Aber was für eine Mutter und Großmutter wäre sie, wenn sie jetzt Melissa anriefe mit der Bitte, sie möge ihre Tochter doch bitte früher abholen als vereinbart, weil das FBI sie wieder angerufen hatte?
Noch weitere fünf Minuten starrte Kate Michelle an, legte sich sogar neben sie und legte ihr die Hand auf die Brust, um ihre Atmung zu spüren. Und das kleine Wesen zu sehen, das noch nichts über die Grausamkeiten wusste, die existierten, machte die Entscheidung viel leichter für Kate.
Mit dem ersten finsteren Gesichtsausdruck des Tages griff sich Kate ihr Handy und rief Melissa an.
***
Einmal, als Melissa ungefähr sechzehn Jahre alt war, hatte sie spätabends, als Kate und Michael schon schliefen, einen Jungen in ihr Zimmer geschmuggelt. Kate erwachte durch ein Geräusch (was sie später dafür gehalten hatte, dass jemandes Knie gegen die Wand schlug) und ging nach oben, um nachzuschauen. Als sie Melissas Tür aufmachte und ihre Tochter oben ohne mit einem Jungen im Bett vorfand, schmiss sie ihn vom Bett und schrie ihn an, dass er verschwinden solle.
Die Wut in Melissas Augen damals war vergleichsweise gering gegen das, was sie jetzt sah, als sie nun Michelle gegen 21:30 Uhr in den Kindersitz schnallte – knapp eine Stunde, nachdem Duran Kate hinsichtlich des Falls in Roanoke angerufen hatte
„Das ist voll daneben, Mama“, meinte sie.
„Lissa, es tut mir leid. Aber was zum Teufel sollte ich denn machen?“
„Also, soweit ich informiert bin, bleiben die Leute in Rente, wenn sie erstmal in Rente gegangen sind. Vielleicht probierst du es mal damit!“
„So einfach ist das nicht“, entgegnete Kate.
„Nee, ist klar, Mama“, sagte Melissa. „Mit dir war noch nie etwas einfach.“
„Das ist nicht fair…“
„Glaube nur nicht, dass ich sauer bin, weil du mir meinen einen freien Abend zum relaxen verkürzt. Darum geht es nicht. So egoistisch bin ich nicht. Im Gegensatz zu anderen Leuten. Ich bin sauer, weil dir dein Job – mit dem du vor über einem Jahr hättest durch sein sollen – immer noch wichtiger ist als deine Familie… nach Dad…“
„Lissa, lass uns jetzt nicht davon anfangen.“
Mit einer Zartheit, die sich weder in ihrer Stimme noch in ihrer Haltung wieder spiegelte, nahm Melissa den Kindersitz.
„Ganz deiner Meinung. Lass uns das einfach seinlassen“, sagte Melissa, und dabei spuckte sie die Worte förmlich aus.
Und damit ging sie zur Haustür hinaus, die sie hinter sich laut zuknallte.
Kate wollte nach der Türklinke greifen, stoppte sich aber. Was sollte sie denn tun? Würde sie den Streit vor dem Haus weiterführen? Außerdem kannte sie Melissa sehr genau. Nach ein paar Tagen würde sie sich beruhigt haben und sich Kates Seite der Geschichte anhören. Vielleicht würde sie sogar Kates Entschuldigung annehmen.
Wie eine Verräterin fühlte sie sich trotzdem, als sie nach ihrem Handy griff. Als sie Duran anrief, sagte er, dass er sowieso damit gerechnet hatte, dass sie den Fall übernehmen würde. Nach derzeitigem Stand hatte er jemanden von der Virginia State Police organisiert, der sich mit ihr und DeMarco morgen früh um 4:30 Uhr in Whip Springs traf. DeMarco hatte sich in Washington DC vor einer halben Stunden mit einem Wagen des FBI auf den Weg zu ihr gemacht. Sie sollte bei Kate ungefähr um Mitternacht ankommen. Kate wurde klar, dass sie Michelle leicht wie vereinbart bis 23 Uhr bei sich hätte behalten können und damit keine Konfrontation mit Michelle gehabt hätte. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken.
Das Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten, hatte Kate ein wenig überrascht. Obwohl der letzte Fall, den sie übernommen hatte, auch scheinbar aus dem Nichts gekommen war, hatte er eine Art Struktur gehabt. Aber dass sie zum letzten Mal innerhalb nur einer Stunde solch einen Fall übernommen hatte, das war schon eine Weile her. Ihr war etwas mulmig zumute, aber sie war auch sehr aufgeregt – so sehr, dass sie sogar erst einmal Melissas Wut aus ihren Gedanken verbannen konnte.
Dennoch durchfuhr sie ein stechender Gedanke, während sie die Tasche packte und auf DeMarco wartete. Dies war genau die Eigenschaft, die zwischen ihr und Melissa schon so viel Ärger heraufbeschworen hatte – nämlich die Eigenschaft, dass sie um des Jobs willen alles andere beiseite drängte.
Aber auch diesen Gedanken schob sie jetzt mit Leichtigkeit beiseite.