KAPITEL ELF
KAPITEL ELF
König Claudius musste sich zwingen still wie eine Statue auf dem Thron in seinen Gemächern zu sitzen, um sich nicht von Ärger, Verwirrung und Sorge überwinden zu lassen. Er hätte genauso gut eine dieser Statuen seiner Vorfahren, die dort hinter ihm wie richtende Geister saßen, sein können.
König Claudius hatte lange darüber nachgedacht, wo er diese Audienz abhalten sollte. Seine Frau hatte den großen Thronsaal vorgeschlagen, doch hatte Athena schon immer einen Hang zum Dramatischen gehabt. Wenn Claudius Lucious gefragt hätte, dann hätte dieser es sicherlich ganz und gar abgelehnt, denn der Junge verstand nicht, dass man seinen Feinden auch Respekt entgegenbringen musste.
Doch Thanos...
„Ich werde nicht an ihn denken“, sagte König Claudius zu sich selbst. „Das werde ich nicht.“
Eine Sache zu wollen und sie auch zu haben waren jedoch zwei unterschiedliche Dinge, selbst für ihn. Einer seiner Präzeptoren hatte ihn das Werk des Philosophen Phelekon aus der frühen Zeit des Reichs lesen lassen. Was hatte er geschrieben?
Es gibt einige Dinge, über die selbst ein König nicht herrschen kann. Sein eigenes Herz ist dabei zuerst zu nennen.
Damals hatte Claudius angenommen, dass es eine versteckte Anspielung auf ihn gewesen war. Jetzt erst verstand er es.
Seine Hände umklammerten die Arme seines Throns als sich die Türen öffneten. Lord West trat herein. Seine Hände waren in Ketten und an seinen Seiten liefen Claudius’ persönliche Leibwachen. Er sah müde aus und hatte die besten Tage hinter sich. Sein graues Haar war mit Dreck durchzogen und seine Kleider blutdurchtränkt. Dennoch gelang dem anderen Mann eine tadellose Verbeugung.
Einer der Wächter stieß ihn auf seine Knie, doch Claudius gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt.
„Genug. Mehr als genug. Ich habe euch aufgetragen, den Lord der Nordküste zu mir zu bringen, nicht ihn her zu schleifen und ihn in Ketten zu legen als wäre er ein Sklave. Befreit ihn sofort von seinen Ketten.“
„Eure Majestät“, sagte der andere Wächter, „er könnte gefährlich sein, falls – “
„Ich habe euch einen Befehl erteilt“, sagte der König in nun eisigem Ton. „Nehmt ihm die Handfesseln ab und dann lasst uns allein. Seht zu, dass wir nicht gestört werden. Durch nichts und niemanden. Und wenn ihr meinen Sohn aufhalten müsst, dann tut das.“
Jetzt beeilten sich die Wachen zu gehorchen. Darin lag die eigentliche Stärke. Gefürchtet zu werden. König Claudius sah, wie Lord West unbeteiligt dastand während die Wachen ihn von seinen Fesseln erlösten. Geschlagen und gealtert und doch stand er mit der Haltung eines Soldaten vor ihm bis die Männer den Raum verließen und die Tür hinter ihnen zufiel.
Claudius deutete auf einen Stuhl, den er in Nähe des Throns hatte aufstellen lassen. Er war kleiner und niedriger, aber dennoch würdevoll. Dennoch angemessen. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem ein Dekanter mit zwei Kelchen stand.
„Setz dich“, sagte er. „Ich denke, dass wir eine Menge zu besprechen haben.“
„Ist das ein Befehl, mein König?“ fragte Lord West immer noch in steifer Haltung.
„Eine Bitte“, antwortete Claudius. „Die Vorkommnisse der letzten Tage legen die Vermutung nahe, dass du königlichen Anordnungen nicht mehr viel Bedeutung beimisst.“ Als Lord West noch immer zögerte, seufzte Claudius. „Verdammt noch mal, setzt dich hin, West. Mir tut der Hals weh, wenn ich die ganze Zeit zu dir hinauf starren muss und wenn ist stehen muss, dann werden meine Knie nur noch mehr schmerzen. Gieß uns auch Wein ein. Ich weiß, dass ich das jetzt brauche.“
Das brachte ihm zumindest ein Grinsen des anderen Mannes ein. Er setzte sich und Claudius wartete bis er den Wein eingegossen hatte. Er konnte sehen, dass Lord Wests Hände genauso faltig waren wie seine eigenen.
Er zögerte und spürte einen Knoten in seinem Hals.
Dann sprach er schließlich.
„Du weißt, dass ich dich nicht am Leben lassen kann“, sagte Claudius.
Seine Worte schwebten in der Luft und hallten an den Kammerwänden wider.
Es war schwer, einem Freund so etwas mitzuteilen, da halfen auch die vielen Todesurteile nicht, die er im Laufe seiner Regentschaft verkündet hatte. Es war besser, es nicht länger aufzuschieben. Es schnell hinter sich zu bringen.
Lord West nickte feierlich, würdig, resignierend.
„Ich weiß. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich zugestimmt habe, Delos anzugreifen.“
Claudius nickte.
„Und trotzdem hast du es getan.“
„Und trotzdem habe ich es getan“, stimmte West ihm zu.
Mehr schien er ihm auch nicht antworten zu wollen. Konnte sich dieser Mann ihm nicht einmal öffnen? Claudius saß nun da und wollte es eigentlich gar nicht hinter sich bringen. Es gab so viele Dinge, die nur sein alter Freund verstehen würde.
„Wann sind wir so alt geworden, West?“ fragte Claudius.
„Ich denke, es ist ein langwieriger Prozess“, antwortete Lord West. „Das schwierigste dabei ist die Kluft zwischen dem, was mein Kopf mir aufträgt zu tun und dem, wozu mein Körper noch in der Lage ist.“
Claudius nickte. Das verstand er so gut, wie jeder andere. „Manchmal betrachte ich mich im Spiegel und ich frage mich, wer dieser alte Mann dort ist. In meinem Kopf bin ich noch immer zwanzig Jahre alt und stromere durch die Randgebiete des Reichs, um Kauthli Räuber zu jagen.“
„Und fällst von deinem Pferd“, sagte Lord West.
„Wir haben abgemacht, das nie wieder zu erwähnen“, betonte Claudius und stimmte doch in das Lachen des anderen Mannes mit ein, denn letztlich waren selbst die peinlichen Momente schöne Erinnerungen. Sie erinnerten an eine Zeit, in der die Dinge so viel einfacher gewesen waren. „Ehrlich gesagt, bin ich überrascht, dass es dir genauso geht. Schon damals hatte ich den Eindruck, dass du ein erwachsener Mann im Körper eines Heranreifenden warst. Du warst immer so ernst.“
Lord West zuckte mit den Augenbrauen. „Damit meinst du gewiss, dass ich gelegentlich noch nüchtern genug war, um uns des Morgens zurück zu unseren Zelten zu bringen.“
„Auch das“, gab Claudius zu. Wie viele Male war es ihnen so ergangen? Oft genug, dass sich seine Erinnerungen an West, wie er ihn zurückführte oder sogar zurückschleppte, verdichtet hatten. Er nickte in Richtung von Wests Weinkelch. „Du hast noch gar nichts getrunken.“
Sein alter Freund würde doch nicht etwa glauben, dass er ihn vergiften wollte?
„Ich warte auf dich“, sagte West. „Abgesehen von einem Verkoster, trinkt ein Mann nicht bevor sein König oder Gastgeber es nicht zuerst getan hat.“
„Noch immer wie besessen davon, die Dinge ganz akkurat zu tun“, sagte Claudius und nippte dennoch an seinem Wein. „Ist es jetzt besser?“
„Viel besser“, sagte West. Claudius beobachtete, wie er den Duft des Weines einsog und dann einen tiefen Schluck nahm. „Elphrim Red. Ein sehr guter Elphrim Red. Da werden Erinnerungen wach.“
„Vor allem daran, wie du unsere gesamte Einheit bei Laune gehalten hast bis diese tanzenden Priester ihre Zeremonie vollzogen hatten und uns ohne uns einen ‚Fluch’ auf den Hals zu jagen in die Salzebene gelassen haben“, antwortete Claudius. „Die Banditen denen wir auf den Fersen waren, wären uns dadurch beinahe entwischt.“
Die Erinnerung war so frisch als wäre es gestern gewesen. Warum erschien heutzutage die Vergangenheit immer in einem so viel helleren Licht als die Gegenwart?
„Fast, aber nur fast“, antwortete West. „Ich wusste, dass du uns Feuer unter dem Hintern machen würdest und wir konnten es uns nicht leisten, die Nomaden dort zu verärgern. Außerdem war es der richtige Weg. Niemand sollte die Priester oder Götter eines fremden Landes entehren.“
„Ich sage es dir, wenn die Uralten heute noch unter uns wären, sie würden dir zur Ehre ein Monument für die Ewigkeit bauen.“
„Es gab Zeiten, da hätten sie das selbe über dich gesagt, alter Freund“, erwiderte West.
König Claudius umklammerte seinen Becher noch fester als er diese in einem Kompliment versteckte Beleidigung entgegennahm. Ihn schmerzte der Gedanke, dass es vielleicht die Wahrheit war. „Ganz so erinnere ich mich nicht daran. Ich war der pragmatische von uns. Du hast uns hingegen davon abgehalten, den falschen Weg einzuschlagen.“
„Pragmatisch?“ Dieses Mal war Lord Wests Lachen noch lauter. „Du warst ein Idealist. Ein stürmischer fahrender Ritter, der die Geschichten aller großen Helden kannte, der jede von ihnen zum Leben erwecken wollte. Zwei Wochen lang haben wir im Wolkental die Tochter des Hirten zusammen mit Baryn und seinem Knappen gesucht. Wir waren bis auf die Knochen durchnässt, nur weil du zu viele Geschichten über Prinzessinnen, die vor Urzeiten vom Steinvolk entführt worden waren, gelesen hattest.“
Erst erinnerte sich Claudius nicht daran, doch dann kam alles zurück. Er hatte damals den Regen nicht einmal gespürt. „Es hat sich dann herausgestellt, dass sie mit irgendeinem Bauernjungen ausgerissen war, nicht wahr?“
„Und dann hat irgendjemand darauf bestanden, dass wir ihnen die Hälfte des Geldes aus unseren Börsen geben, damit sie eine Mitgift hätten und zu ihren Eltern zurückkehren konnten“, erinnerte ihn Lord West.
Er erinnerte sich an das Gewicht in seiner Hand bevor er es dem Mädchen gegeben hatte, das wahrscheinlich noch nie so viel Geld in ihrem Leben gesehen hatte. Für sie war es hingegen nur Kleingeld gewesen.
„Das hatte ich vergessen“, sagte Claudius. „Wie konnte ich das nur vergessen? Was ist eigentlich aus dem alten Baryn geworden?“
„Er ist vor fünf Sommern gestorben“, antwortete West. „Es war sein Herz.“
Claudius fand, dass eine besondere Traurigkeit in der Erfahrung des Todes lag, wenn man älter wurde. Als sie noch jung waren, war der Tod eine entfernte Tragödie. Als sie älter wurden, kam ihnen der Tod so nah, dass sie ihn beinahe einen Freund nennen konnten. Der Verlust derer die man kannte, stimmte einen traurig und erinnerte an das eigene Streben in Richtung dieser dunklen Tür. Es erschütterte ihn in diesem Moment, auch weil er an das dachte, was West bald bevorstand.
„Das wusste ich nicht“, sagte Claudius. Wieder seufzte er. „Vielleicht geht es im Alter genau darum. Die sich zunehmend aufdrängende Erkenntnis, dass du angefangen hast, jene Männer zu überleben, die deine Freunde waren.“
„Und bald wirst du auch mich überlebt haben“, hob West hervor und goss sich nach.
Claudius runzelte leicht die Stirn.
Er ließ eine lange schwere Stille den Raum füllen. Die Stille der Sterblichkeit. Der Unausweichlichkeit. Des Schicksals.
„Es gibt Männer, die an dieser Stelle um ihr Leben betteln würden“, sagte Claudius. „Ich denke, das ist es, was sich diejenigen die mich umgeben, vorgestellt hätten. Der große Lord der Nordküste, nichts als ein Häufchen Elend, das um die Nachsicht seines Königs bettelt.“
„Die Leute mit denen du dich umgibst sind Idioten“, erklärte Lord West und hob sein Glas, als wollte er darauf anstoßen.
„Das sind sie, wenn sie glauben, dass du deine Ehre aufs Spiel setzen würdest, um dein Leben zu retten“, stimmte Claudius zu, auch wenn er sein Glas nicht hob. Ein zu großer Teil seines Hofstaats setzte sich tatsächlich aus Idioten zusammen. „Das bringt mich zu der eigentlichen Frage, West. Warum entehrst du dich so? Warum hintergehst du deinen König? Du hast mir dein Wort gegeben und es gab eine Zeit, da hätte ich dir die Welt anvertraut.“
„Ich habe dir mein Wort gegeben“, bejahte Lord West, „aber meine Familie hat auch andere Schwüre abgelegt. Schwüre die mächtiger und tiefer sind als mein persönlicher Eid. Wir haben geschworen, die Nordküste zu schützen bis die Uralten zurückkehren. Dem Reich zu dienen war Teil davon, aber das hat sich verändert. Der Schwur gegenüber meiner Familie hatte Vorrang.“
Claudius trank langsam und versuchte zu verstehen, was das bedeutete. Wenn ein anderer Mann ihm dies gesagt hätte, dann hätte er ihn für verrückt erklärt, doch West war ein ernster und derart gewissenhafter Mensch, dass Claudius sicher sein konnte, dass er meinte, was er sagte. „Du glaubst also wirklich, dass dieses Mädchen, diese Bäuerin, eine der Uralten ist?“
„Sie ist keine Bäuerin“, antwortete West. „Und selbst wenn sie es wäre. Es gab einmal eine Zeit, da hättest du dieses Wort nicht als Beschimpfung gebraucht. Es gab eine Zeit, in der hast du einer Bäuerin so viel Wert beigemessen wie einer Prinzessin.“
„Das ist lange her“, sagte Claudius. Alles schien lange her zu sein heutzutage. Er schüttelte den Kopf. „Die Dinge haben sich verändert.“
„Vieles hat sich verändert“, sagte West. „Das Reich beispielsweise. Erinnerst du dich an deinen Eid, den du in der Nacht vor deiner Krönung abgelegt hast?“
Diese Erinnerung traf ihn so scharf wie ein Messer. „Ich war betrunken.“
„Daran arbeitest du gerade.“
Trotzdem, die Dinge die ein Mann sagte, wenn er betrunken war, konnte man ihm später nicht vorhalten. Oder doch? „Was willst du damit sagen, West?“
„Du hast geschworen, ein König zu werden, der die Menschen des Reichs beschützt. Dass du ein Mann würdest, dem wir stolz gehorchten.“ Claudius nahm die Pause wahr, die West machte bevor er fortfuhr. „Ceres war nicht der einzige Grund, weshalb wir nicht mehr so weitermachen konnten, Claudius.“
„Ich habe stets getan, was notwendig war“, erwiderte Claudius. Das hatte er sich selbst so viel Male gesagt, dass es ihm leicht über die Lippen kam. Ideale hatten sich der Realität unterzuordnen, zum Wohle des großen Ganzen. „Du hast über Ländereien geherrscht. Du weißt, dass es schwierige Entscheidungen gibt.“
Selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte hohl. Es war klar, dass sie für seinen ehemaligen Freund keinerlei Bedeutung hatten.
„Es gibt schwierige Entscheidungen“, stimmte West zu. „Manchmal muss ein Herrscher hart durchgreifen, aber er muss gerecht vorgehen. Was dein Sohn mit deinem Segen anstellt, ist alles andere als gerecht.“
„Den Menschen muss eine Lektion erteilt werden!“ zischte Claudius. „Sie müssen erkennen, wer ihre Herrscher sind!“
Wer glaubte West zu sein, dass er ihm erzählen konnte, wie man richtig herrschte? Ihm, der schon so lange an der Macht war?
„Es gab Zeiten, in denen haben sie es gewusst“, sagte West. „Erinnerst du dich an einige der Dörfer, durch die wir als junge Männer geritten sind, wie sie dort deinen Namen gerufen haben? Das haben sie nicht getan, weil sie jemand dazu gezwungen hatte, Claudius. Sie taten es, weil der junge und tapfere König zu ihnen gekommen war, weil sie wussten, dass du sie beschützen würdest. Sie taten es, weil du sie von den lokalen Banditenbanden befreit hattest oder weil du darauf bestanden hast, dass die lokalen Lords die letzten Kreaturen aus alten Zeiten einfingen. Sie taten es, weil du ihr Leben sicher und besser gemacht hast.“
„Genau das tut das Reich auch heute noch“, beharrte Claudius. „Wir sorgen für Ordnung. Die Haustiere der Uralten lassen die Menschen in Ruhe. Die Banditen reißen vor uns aus, um sich den Rebellen anzuschließen – “
„Die Banditen schließlich sich der Armee an, weil sie wissen, dass dein Sohn ihnen erlaubt, nach Herzenslust zu plündern“, sagte West. „Gehen die Menschen auf die Straße, wenn deine Männer unterwegs sind oder verstecken sie sich in ihren Kellern und hoffen, dass sie weiterziehen?“
Claudius saß schweigend da. Er hatte für solche Gespräche schon zu viel getrunken, oder vielleicht noch zu wenig. Der Wein in seinem Mund schmeckte jetzt sauer. Aber vielleicht war es auch etwas anderes, das ihm dieses Gefühl gab. Die Vergangenheit stach in ihrer hinterhältigen Art einem Mann immer wieder in den Rücken, wie sehr er auch versuchte, sie sich vom Leibe zu halten.
„Denk an den jungen Mann, der du einst warst“, sagte West. „Oder besser noch, wenn du meinst, dass er noch in dir schlummert, dann weck ihn auf. Was würde er von dem halten, was dein Sohn angeordnet hat meinen Männern anzutun? Selbst den schlimmsten Banditen hast du sauber den Kopf abgeschlagen.“
Claudius runzelte daraufhin die Stirn. „Im Gegensatz zu?“
„Du weißt es nicht einmal?“ sagte West. „Du musst der Einzige in dieser Stadt sein, der die Schreie nicht hören kann. Lucious foltert Adlige im Namen des Reichs zu Tode. Das heißt, dass er es auch in deinem Namen tut.“
„Du sprichst noch immer von meinem Sohn“, sagte Claudius. Er sagte es automatisch und weniger aus einem Vaterinstinkt heraus. Auf diesem hatte Lucious herumgetreten, bis er so dünn wie einer der in die Jahre gekommenen Teppiche in der Eingangshalle geworden war.
„Das ist er“, stimmte West ihm zu. „Er ist auch der nächste Herrscher des Reichs. Nun das ist vielleicht ein Gedanke, der einen zur Flasche greifen lässt.“
Claudius tat es ihm gleich, doch trank er nur zur Hälfte aus. Er starrte auf den Rest seines Weins, als könnte er darin die Zukunft erkennen. Doch dann erschien ihm die Gegenwart schon so voller Probleme. Wie hatte er nicht wissen können, was sein Sohn tat?
„Ich fühle mich alt, West. Früher hätte ich dich unter den Tisch trinken können und hätte selbst dann noch weitergetrunken.“
„Jetzt weiß ich, dass etwas mit deiner Erinnerung nicht stimmt“, sagte Lord West mit einem Grinsen, das seinen vorherigen Worten ein wenig die Härte nahm. „Wann hast du mich das letzte Mal betrunken gesehen?“
„Ich denke, es war nach dem Sieg in Thornport“, sagte Claudius. „Soweit ich mich erinnere, hatten wir dort mit diesen kaum unterscheidbaren Zwillingen zu tun.“
Es war schwer, seinen Humor zu bewahren, da er doch wusste, dass sein alter Freund bald tot sein würde.
„Gute alte Zeiten“, sagte Lord West. „Was ist nur aus diesen Zeiten geworden?“
„Sie sind gealtert“, sagte Claudius. „Das Alter und die Zeiten.“
Er kippte den Wein hinunter, den er vor einem Moment nicht hatte austrinken können. Dann rollte er den leeren Becher in seinen Händen.
„Ich wünschte, ich könnte dich am Leben lassen“, sagte er. „Aber das kann ich nicht. Aus welchen Gründen auch immer und ungeachtet unserer gemeinsamen Vergangenheit, du bleibst ein Verräter des Reichs. Du hast Delos angegriffen. Du hättest mich vom Thron gestoßen. Es gibt ein paar Dinge, die nicht ungestraft bleiben dürfen.“
„Ich weiß“, sagte Lord West. „Ich habe von Anfang an gewusst, was geschehen würde, wenn ich verlöre. Aber gewähre mir einen ehrhaften Tod. Soviel habe ich verdient.“
„Das und noch mehr“, stimmte Claudius zu. Er nickte. „Meine Männer werden dich zu den Galgen bringen. Dort wird ein Schwert bereitliegen. Ich verspreche dir, dass es so scharf sein wird, dass du es kaum spüren wirst.“
Lord West nickte. Er betrachtete den Dekanter. „Nun ich werde zwar meinen Kopf verlieren, doch bei so viel Wein hätte ich sowieso einen ziemlich schrecklichen Kater bekommen. Was ist mit meinen Männern?“
„Ich werde mich darum kümmern“, versicherte ihm Claudius. „Lucious ist zu weit gegangen.“
Lord West grinste. „Haben wir noch Zeit für einen letzten Trinkspruch?“
Claudius goss den Rest des Weins in die Kelche. „Woran hast du gedacht?“
Lord West hob seinen Kelch. „Auf die Männer die wir einst waren.“
Claudius schüttelte seinen Kopf. „Auf die Ehre.“
„Auf die Ehre“, stimmte Lord West ihm zu. Er trank seinen Wein in einem langen Zug aus.
Claudius versuchte es ihm gleichzutun, doch musste nach der Hälfte hustend Luft holen.
„Und das ist mein Stichwort zu gehen“, hörte er West sagen. „Solange ich beim Trinken noch vorne liege.“ Er verneigte sich ein letztes Mal. „Eure Majestät.“
Claudius sah, wie die Wachen seinen alten Freund an der Tür in Empfang nahmen. Er gab ihnen die nötigen Anweisungen. Dann lehnte er sich mit dem ihm verbleibenen Wein zurück und dachte an Lucious, an Thanos und an das, was sein jüngeres Selbst vielleicht in diesen Zeiten getan hätte.
„Auf die Ehre“, wiederholte Claudius und trank den Rest seines Weins aus.
Er spürte bereits wie Tränen in seinen Schoss fielen und er wusste nicht, ob er sie für seinen alten Freund, sich selbst oder das Reich vergoss.