Die Herrin lachte, während sie diese Drohung wiederholte. Die Dienerin schauderte, während sie dem Befehl gehorchte, dem diese Drohung Nachdruck geben sollte.
„Ja, ja – die Bibel, deren sich der Geistliche bediente“, fuhr Mistreß Treverton halb gedankenlos fort, als das Buch zur Stelle gebracht war. „Der Geistliche – ein guter schwacher Mann – ich erschreckte ihn, Sara. Er sagte: ‚Sind Sie mir allen Menschen in Frieden ?’ und ich antwortete: ‚Mit allen bis auf einen.’ Du weißt, wen.“
„Des Kapitäns Bruder. O, sterben Sie nicht in Feindschaft mit irgend jemandem. Sterben Sie auch mit ihm in Freundschaft !“ bat Sara.
„Das sagte der Geistliche auch“, entgegnete Mistreß Treverton, indem ihre Augen kindisch im Zimmer herumzuschweifen begannen, während ihr Ton plötzlich leiser und verworrener ward. „ ‚Sie müssen ihm vergebn’, sagte der Geistliche. Und ich sagte: ‚Nein. Ich verzeihe allen Menschen, aber dem Bruder meines Gatten nicht.’ Der Geistliche stand ganz erschrocken von seinem Stuhle auf, Sara. Er sagte, er wolle für mich beten und wiederkommen. Wird er wiederkommen ?“
„Ja, ja“, antwortete Sara, „er ist ein guter Mann – er wird wiederkommen – und o, sagen Sie ihm, daß Sie dem Bruder des Kapitäns verzeihen. Jene schändlichen Worte, die er, als Sie vermählt wurden, von Ihnen sprach, wird er schon einmal entgelten müssen. Vergeben Sie ihm – vergeben Sie ihm, ehe Sie sterben.“
Indem Sara diese Worte sagte, versuchte sie zugleich die Bibel behutsam aus den Augen ihrer Herrin zu entfernen. Diese Bewegung entging aber Mistreß Trevertons Aufmerksamkeit nicht und erweckte ihre sinkenden Kräfte zur Beobachtung der sie umgebenden Dinge.
„Halt !“ rief sie, während wieder ein Schimmer der alten Entschlossenheit aus ihren schon vom Tode umflorten Augen leuchtete. Sie packte Sara krampfhaft bei der Hand, legte dieselbe auf die Bibel und hielt sie darauf fest. Ihre andere Hand tastete eine Weile auf der Bettdecke umher, bis sie endlich dem an ihren Gatten gerichteten beschriebenen Papier begegnete. Ihre Finger erfaßten es und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich ihren Lippen.
„Ha“, rief sie, „jetzt weiß ich, wozu ich die Bibel haben wollte. Ich sterbe bei vollem Verstande, Sara; du kannst mich auch jetzt noch nicht täuschen.“
Sie hielt wieder inne, lächelte ein wenig und flüsterte dann hastig bei sich selbst: „Warte, warte, warte !“
Dann setzte sie laut mit der alten theatralischen Stimme und Gebärde wieder hinzu:
„Nein, auf dein Versprechen hin traue ich dir nicht. Ich will deinen Schwur haben. Knie nieder. Dies sind meine letzten Worte in dieser Welt – sei ihnen ungehorsam, wenn du es wagst !“
Sara sank an dem Bett auf die Knie nieder. Der leichte Wind draußen, der gerade jetzt bei dem langsamen Empordämmern des Morgens stärker ward, teilte die Fenstervorhänge ein wenig und blies einen Hauch seines würzigen Duftes freudig in das Krankenzimmer. Das schwere Dröhnen der fernen Brandung ließ sich ebenfalls vernehmen und seine nimmer ruhende Musik in lautern Tönen erklingen. Dann fielen die Fenstervorhänge schwerfällig wieder zu, die flackernde Flamme des Lichts ward wieder ruhig und stet und das unheimliche Schweigen im Zimmer tiefer als je.
„Schwöre ! Schwöre !“ sagte Mistreß Treverton.
„Die Stimme versagte ihr, als sie dieses Wort ausgesprochen hatte. Sie mühte sich ein wenig, erlangte die Sprache wieder und fuhr fort:
„Schwöre, daß du dieses Papier nicht vernichten willst, wenn ich tot bin.“
Selbst während sie diese feierlichen Worte sprach, selbst bei diesem letzten Kampfe um Leben und Kraft bewies der unausrottbare theatralische Instinkt mit furchtbarer Hartnäckigkeit, wie fest derselbe in ihrem Gemüt wurzelte. Sara fühlte die kalte Hand, die noch auf der ihrigen lag, einen Augenblick sich heben – sie sah wie dieselbe ihr graziös winkte – fühlte, wie sie sich wieder herabsenkte und die ihrige mit zitterndem, ungeduldigem Druck umschloß. Bei dieser letzten Aufforderung antwortete sie mit schwacher Stimme:
„Ich schwöre es !“
„Schwöre auch, daß du dieses Papier nicht mit fortnehmen willst, wenn du, nachdem ich tot bin, dieses Haus verlässest.“
Wieder zögerte Sara, ehe sie antwortete – wieder machte sich der zitternde Druck auf ihrer Hand fühlbar, obschon diesmal schwächer – und wieder stammelten ihre Lippen die Worte:
„Ich schwöre es !“
„Schwöre“, begann Mistreß Treverton zum dritten Male. Die Sprache versagte ihr aber wieder und sie bemühte sich jetzt vergebens, die Herrschaft über dieselbe wiederzuerlangen.
Sara blickte auf und sah, wie Vorläufer von Konvulsionen das schöne Gesicht zu entstellen begannen. Sie sah wie die Finger der weißen, zartgeformten Hand sich krümmten, während sie nach dem Tische hinüberlangten, auf welchem die Medizinflaschen standen.
„Sie haben es ausgetrunken“, rief Sara aufspringend, als sie die Bedeutung dieser Gebärde erriet. „Herrin, liebe Herrin, Sie haben es ausgetrunken, es ist bloß noch das Opiat da. Lassen Sie mich gehen – ich will –“
Ein Blick von Mistreß Treverton tat ihr Einhalt, ehe sie weiter ein Wort sprechen konnte. Die Lippen der Sterbenden bewegten sich rasch.
Sara hielt ihr Ohr dicht an dieselben. Anfangs hörte sie nichts als keuchende, schnell aufeinander folgende Atemzüge, dann einige gebrochene, verworrene, damit gemischte Worte:
„Ich bin noch nicht fertig – du mußt schwören – komm näher heran, näher, näher – noch ein Drittes – dein Herr – schwöre, daß du ihm das Papier geben –“
Die letzten Worte starben leise hinweg. Die Lippen, welche sie so mühsam geformt, teilten sich plötzlich, schlossen sich aber nicht wieder. Sara sprang nach der Tür und rief in den Korridor hinaus nach Hilfe – dann eilte sie an das Bett zurück, ergriff den Bogen Briefpapier, auf welchen sie nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben, und verbarg ihn in ihrem Busen.
Der letzte Blick aus Mistreß Trevertons Augen heftete sich streng und vorwurfsvoll auf sie, indem sie dies tat, und bewahrte während der augenblicklichen Verzerrung der übrigen Züge diesen Ausdruck einen einzigen atemlosen Augenblick lang unverändert.
Dieser Augenblick ging vorüber und mit dem nächsten stahl der Schatten, welcher dem Eintritt des Todes vorangeht, sich herauf und drängte in einer einzigen ruhigen Sekunde das Licht des Lebens von dem ganzen Gesichte hinweg.
Der Arzt trat in Begleitung der Wärterin und eines der Diener in das Zimmer, eilte an das Bett, sah aber auf den ersten Blick, daß die Zeit seiner Dienste hier für immer vorüber war. Er wendete sich zuerst zu dem Diener, der ihm gefolgt war.
„Geht zu Eurem Herrn“ sagte er, „und bittet ihn, in seinem Zimmer zu warten, bis ich zu ihm kommen und mit ihm sprechen kann.“
Sara stand noch, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen, oder auf jemand zu achten – am Bett.
Die Wärterin, welche sich näherte, um die Vorhänge zusammenzuziehen, stutzte beim Anblick ihres Gesichts und wendete sich dann zu dem Arzt.
„Ich glaube, es wird gut sein, wenn diese Person das Zimmer verläßt; meinen Sie nicht auch, Herr Doktor ?“ sagte die Wärterin mit einem gewissen Ausdruck von Verächtlichkeit in ihrem Ton und Blick. „Sie scheint durch das, was geschehen ist, über alle Maßen angegriffen und erschreckt zu sein.“
„Jawohl“, sagte der Doktor, „es ist am besten, wenn sie sich entfernt. Ich gebe Euch den Rat, uns auf einige Zeit zu verlassen“, setzte er hinzu, indem er Sara am Arme berührte.
Sie fuhr argwöhnisch zusammen, hob eine ihrer Hände zu der Stelle empor, wo die Schrift verborgen an ihrem Busen lag, und drückte sie fest darauf, während sie die andere Hand nach einem Licht ausstreckte.
„Ihr werdet wohltun, wenn Ihr eine Weile in Eurem Zimmer ausruht“, sagte der Arzt, indem er ihr ein Licht gab. „Doch, wartet“, setzte er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht, hinzu: „Ich stehe im Begriff, die traurige Neuigkeit Eurem Herrn mitzuteilen. Vielleicht wünscht er die letzten Worte zu hören, welche Mistreß Treverton in Eurer Gegenwart gesprochen hat. Deshalb ist es vielleicht am besten, wenn Ihr mitkommt und wartet, während ich zu dem Kapitän hineingehe.“
„Nein ! Nein ! – jetzt nicht, jetzt nicht, um des Himmels willen !“
Indem Sara diese Worte in leisem, raschem, bittendem Tone sprach und sich dabei wie erschrocken nach der Tür zurückzog, verschwand sie, ohne einen Augenblick zu warten, was man weiter zu ihr sagen würde.
„Eine sonderbare Person“, sagte der Arzt zu der Wärterin gewendet. „Geht ihr nach und sehr, wohin sie geht, im Fall sie gebraucht wird und wir nach ihr schicken müssen. Ich will hier warten, bis Ihr zurückkommt.“
Als die Wärterin zurückkam, hatte sie weiter nichts zu berichten, als daß sie Sara Leeson bis an ihr Schlafzimmer gefolgt sei – sie in dasselbe habe hineingehen sehen – daß sie an der Tür gehorcht und gehört habe, wie dieselbe von innen verschlossen worden.
„Eine sonderbare Person“, wiederholte der Arzt, „eine von der schweigsamen, geheimnisvollen Sorte.“
„Eine von der nicht guten Sorte“, bemerkte die Wärterin. „Sie spricht immer mit sich selbst und das ist meiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Ihr ganzes Aussehen gefällt mir nicht und ich habe ihr gleich von dem ersten Tage an, wo ich dieses Haus betreten, nicht getrauet.“