Patricia fuhr fort. „Ihr Vater hat ihr damals auch Klavierunterricht gegeben. Sie war ziemlich gut darin, aber verlor dann das Interesse.“
Emily wünschte jetzt, dass sie dabeigeblieben wäre. Dass sie weiterhin neben ihrem Vater auf diesem angeschlagenen Klavierstuhl gesessen und Lieder aus Musicals und alte Klassiker gelernt hätte. Das waren kostbare Zeiten gewesen und sie hatte nicht das Beste daraus gemacht. Sie hatte nicht gewusst, dass es ihr einmal so wichtig erscheinen würde.
„Opa Roy?“, fragte Chantelle.
„Ja“, sagte Patricia. Sie lächelte. „Er war sehr begabt am Klavier. Und er liebte es. Deshalb musste er eines in diesem Haus haben, obwohl wir nur ein paar Wochen im Jahr hier waren. Aber er zündete dann das Feuer an und spielte uns auf dem Klavier vor und Emily hatte sich in immer in eine Decke einwickelt und war eingeschlafen.“ Sie stieß einen melancholischen Seufzer aus. „Es gab immer wundervolle Momente zwischendurch, nicht wahr, mein Schatz?“
Emily wusste, was sie meinte. Zwischen dem Schmerz, Charlotte verloren zu haben. Dass es nach ihrem Tod, als die Stille zwischen ihren Eltern wie eine unsichtbare Glaswand wuchs, einige Momente der Normalität, der Freude, gab. Manchmal, wenn die Stille mit Schönheit gefüllt und ihre Gedanken von Kummer befreit wurden.
„Ich liebe Opa Roy“, sagte Chantelle zu Patricia. „War er ein sehr guter Ehemann?“
Patricia sah Chantelle an. Und zu Emilys Schock und Überraschung streckte sie die Hand aus und streichelte den Kopf des Mädchens.
„Das war er. Nicht immer. Aber niemand ist perfekt.“
„Hast du ihn geliebt?“
„Von ganzem Herzen.“
„Und jetzt?“, fragte Chantelle.
„Pst“, unterbrach Emily. „Das ist eine persönliche Frage.“
„Es macht mir nichts aus“, sagte Patricia. Dann sah sie Chantelle direkt an und sprach mit unbeirrter Stimme. „Wir haben viele Jahre als Ehemann und Ehefrau verbracht, viele gute Jahre. Aber wir waren nicht glücklich und das Wichtigste im Leben ist, glücklich zu sein. Es war sehr schwer sich von ihm zu trennen, aber am Ende war es das Beste. Und ja, ich liebe ihn immer noch. Sobald du jemanden liebst, kannst du niemals wirklich damit aufhören.“
Emily wandte sich ab und wischte die Träne, die sich in ihrem Augenwinkel gebildet hatte, weg. Während ihres ganzen Lebens hatte Patricia ihren Vater nur schlecht gemacht. Nie hatte sie von ihr gehört, dass sie Roy immer noch liebte.
Ruhe trat ein und die Familie legte leise die letzten Dekorationen auf den Baum. Die melancholische Luft, die um sie herum schwebte, löste sich erst auf, als Daniel die Engelsstatue aus der Schachtel nahm.
„Es ist Zeit“, sagte er und reichte sie Chantelle.
Mit einem aufgeregten Lächeln auf ihrem Gesicht stieg Chantelle die Leiter hinauf, streckte ihren Arm so lange sie konnte und setzte den Engel auf den oberen Ast des Baumes.
„Ta-da!“, jubelte sie.
Daniel half ihr die Leiter hinunter und alle traten zurück, um ihre Arbeit zu bewundern. Emily war von Gefühlen überwältigt, als es ihr einfiel, dass dies der erste Baum war, den sie nach fast zwanzig Jahren mit ihrer Mutter geschmückt hatte. Patricia hatte sich kurz nach Charlottes Tod von dem Ritual zurückgezogen. Aber jetzt, mit einer neuen Familie um sie herum und einem neuen Kind, das in Emily wuchs, war sie zurückgekommen. Der Zeitpunkt fühlte sich für Emily ergreifend an, als hätte der Geist Charlottes dazu beigetragen.
„Ich denke, das ist der schönste Baum, den ich je gesehen habe“, sagte sie und sah dankbar zu jedem ihrer Familienmitglieder.
*
Nachdem der Baum fertig war und die heißen Schokolade getrunken, war es Zeit für Patricia, sich zu verabschieden.
„Ich wünschte, du würdest nicht gehen müssen“, sagte Chantelle und schlang ihre Arme um Patricias Taille.
Emily beobachtete, wie ihre Mutter das Kind umarmte. Sie wirkte wesentlich weniger unbeholfener, als sie es normalerweise bei offensichtlichen Bekundungen von Zuneigung war.
„Wir können telefonieren, wenn du willst“, sagte Patricia zu dem Kind.
„Wirst du mit uns skypen?“, fragte Chantelle und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen.
„Werde ich was?“, fragte Patricia und sah verwirrt aus.
„Video-Telefonie, Mama“, erklärte Emily. „Chantelle liebt das.“
„Wir skypen immer mit Opa Roy“, sagte Chantelle. „Können wir? Können wir? Können wir?“
Patricia nickte. „Na sicher. Wenn es das ist, was du willst.“
Sie sah echt gerührt aus, dachte Emily, dass Chantelle mit ihr in Kontakt bleiben wollte.
„Und“, fügte Emily hinzu, „Bitte denke darüber nach, Weihnachten zu kommen. Wir würden dich gern hier haben.“
„Ich will euch nicht in die Quere kommen“, sagte Patricia.
Daniel meldete sich zu Wort. „Du wärst nicht im Weg“, sagte er. „Wir haben momentan keine Buchungen. Wenn du ein bisschen mehr Freiraum möchtest, könnten wir dich sogar im Kutscherhaus unterbringen.“
„Okay“, sagte Patricia und sah aus, als wolle sie ihre Emotionen verbergen. „Ich werde es mir ganz bestimmt überlegen.“
Ihr Taxi kam und fuhr die lange Einfahrt herauf, die Reifen knirschten auf dem Kies. Daniel nahm Patricias Koffer und trug ihn die Verandatreppe hinunter. Der Rest der Familie folgte. Selbst Mogsy und Rain kamen heraus, um sie zu verabschieden; sie wedelten gemeinsam mit den Schwänzen, während sie durch die Pfosten spähten.
Daniel legte den Koffer in den Kofferraum und umarmte dann Patricia zum Abschied. Chantelle klammerte sich an sie.
„Ich liebe dich, Oma Patty“, rief sie aus. „Bitte komm bald zurück.“
„Das werde ich, Schätzchen“, sagte Patricia und streichelte ihr den Kopf. „Es wird nicht lange dauern.“
Dann war Emily an der Reihe. Sie umarmte ihre Mutter und war erfüllt von Dankbarkeit und Wertschätzung. Es mochte Jahre gedauert haben bis zu diesem Punkt - und dem schrecklichen, ernüchternden Schock wegen Roys Krankheit - aber es schien, als würden sich die Dinge zwischen ihnen zum Besseren wenden.
„Bitte bleib in Kontakt“, sagte Emily zu ihrer Mutter.
„Das werde ich“, antwortete Patricia. „Ich verspreche es.“
Sie ließen sich los und Patricia stieg in das Taxi. Emily schloss sich ihrer Familie an und spürte, wie Daniels Arm um ihre Schultern griff und Chantelles Hände sich an sie klammerten. Sie hielt sich ihren Bauch mit einer Hand und winkte mit der anderen ihrer Mutter zum Abschied. Sie blieben dort stehen, bis das Taxi verschwunden war.
Als sie sich gerade umdrehten, um in die Pension zu gehen, hörte Emily das Telefon läuten. Sie ging zur Rezeption und beantwortete den Anruf. Amy war am anderen Ende.
„Em, ich habe gerade das Bulletin vor dem Rathaus gesehen“, sagte sie.
Emily hatte sich immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt, dass Amy nun eine Bewohnerin von Sunset Harbor war und dass sie auf das Treiben ihrer kleinen Stadt achtete.
„Was für ein Bulletin?“, fragte Emily.
„Ravens Hotel! Das Treffen ist morgen. Dasjenige, dass sie bis nach Thanksgiving verschoben haben.“
„Morgen?“, rief Emily aus. „Das ist ein bisschen kurzfristig! Und kaum eine Verschiebung!“
„Ich weiß. Was glaubst du, warum es schon so schnell stattfindet?“
„Ich kann nur annehmen, dass die Zonenplanung zu einer schnellen und einstimmigen Entscheidung gekommen ist“, sagte Emily und erinnerte sich an den Prozess für ihre eigene Lizenz für das Betreiben der Pension.
„Ein einstimmiges Ja oder einstimmiges Nein?“
„Wir werden es früh genug herausfinden.“
Amy klang unglaublich gestresst wegen dem Ganzen, was Emily etwas seltsam fand, wenn man bedenkt, dass sie am meisten von dem Ergebnis betroffen war.
„Wir müssen zu dem Treffen gehen“, sagte sie brüsk. „Kannst du alles andere aus deinem Kalender streichen?“
„Könnte ich. Ich bin mir nur nicht sicher, warum ich das tun sollte. Ich habe meine Meinung schon gesagt.“
Sie konnte die Ungeduld in Amys Stimme hören. „Emily, du musst gehen. Du musst das verhindern! Wenn Raven ein Hotel in Sunset Harbor eröffnet, wird sich dein Geschäft schwertun.“
„Du solltest mehr Vertrauen in mich haben“, sagte Emily zu ihr. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Wettbewerb.“
„Das solltest du aber“, erwiderte Amy. „Vor allem von Raven Kingsley. Sie wird dich zerquetschen.“
Emily dachte an die Momente, die sie mit Raven verbracht hatte. Sie waren keine Freunde geworden, aber sie waren nett zueinander gewesen. Raven hatte ihr geholfen, als Daniel seinen Bootsunfall gehabt hatte und sie war sogar zu dem Thanksgiving-Dinner gekommen, das Emily gegeben hatte. Sie empfand Ravens Hotel als freundliche Konkurrenz.
„Aus welchem Grund sagst du so etwas?“, fragte Emily und schüttelte den Kopf. „Raven ist wie jeder andere Geschäftsinhaber. Sie will hart arbeiten und Erfolg haben. Ich weiß, dass sie in der Vergangenheit ein Geier war, aber sie will sich hier niederlassen. Ihr Ehemann hat sie verlassen und sie möchte nun, dass die Kinder an einem Ort bleiben, um Stabilität zu erlangen.“
„Ich denke du bist naiv“, sagte Amy. „Ein Leopard ändert seine Flecken nicht.“
„Amy, meine Mutter hat gerade heiße Schokolade mit Sahne und Marshmallows getrunken und dabei geholfen, einen Weihnachtsbaum abzusägen. Leoparden, genauso wie Drachen, können tatsächlich ihre Flecken ändern.“
Aber Amy gab nicht nach. „Raven wird dich aus dem Geschäft drängen und sich dann in die nächste Stadt aufmachen. Das ist, was sie immer tut. Sie hat eine eingespielte Vorgehensweise, wie sie es macht, indem sie lokale Gebiete mit ihren großen, auffälligen Hotels zerstört. Es ist alles korporativ, seelenlos. Das letzte, was die Stadt braucht. Und sie hat so viele von ihnen, dass sie die Zimmerpreise spottbillig halten kann. Selbst wenn sie in den ersten fünf Jahren einen Verlust hinnehmen muss, wird sie es tun, nur damit sie die Konkurrenz ausschalten kann!“
Emily konnte die Raven, über den Amy sprach, nicht in der sehen, mit der sie Bekanntschaft gemacht und sich versöhnt hatte. Aber zu hören, was Amy über Raven dachte, ließ sie zu grübeln anfangen.
„Komm einfach zu dem Treffen“, sagte Amy.
„Okay“, sagte Emily.
Als sie den Hörer auflegte, fragte sie sich, ob Amy recht hatte. Vielleicht war Raven so rücksichtslos wie sie es vorher gewesen war. Aber wenn Emily die Pension nicht mehr hatte, was würde aus ihr werden? Aus ihrer Familie? Plötzlich fühlte sie sich, als würde der Boden unter ihr instabil werden. Was, wenn das Traumleben, in dem sie lebte, doch nur vorübergehend war ...?